Archiv der Kategorie: Junge Literatur

Mutterseelenallein.

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Fünf Kopeken von Sarah Stricker ist wie ein schiefes Haus, in das man gern hineinkriecht und aus dem man nicht wieder hinaus möchte, weil es so herrlich skurril darin ist. Für mich ist dieses Debüt eines der herausragendsten, das ich in diesem Bücherherbst bisher gelesen habe.

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Wind von vorn.

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„Der Himmel über Greene Harbor“ von Nick Dybek brach wie eine große Welle über mich ein. War ich noch bis eben vollkommen überwältigt vom wunderschönen Cover, tauchte ich im nächsten Atemzug in den Roman, tiefer und tiefer. Plötzlich schwammen die Wörter wie Fische vor mir, Luftblasen stiegen nach oben und ich lächelte glücklich. Die Sätze waren so geschmeidig, unglaublich sanft und sehr verlockend. Sie umarmten mich, als wären wir schon immer beste Freunde gewesen.

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Glück unter der Sonne.

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Manche Bücher stoßen zur richtigen Zeit in unser Leben. Sie fallen wie unerwartete Glücksboten in unsere Hände. Als es draußen bitterkalt war und die Sonne in weiter Ferne, rettete mich Patric Marino vorm Erfrieren und schenkte mir solches Glück. Sein Debüt „Nonno spricht“ ist im Lokwort Verlag erschienen. Es ist ein Buch, das mich schon beim ersten Anblick entzückt hat. Auf dem Cover segelt ein einsames Basilikumblatt unter dem Titel direkt hinein ins Blickfeld. Ein Flirt besonderer Art, auf den ich gern eingegangen bin. Weiterlesen

Ein Vater, ein Sohn, ein Geheimnis.

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Es gibt Momente im Leben, die du nicht vergisst. Sie rauben dir die Sprache und schubsen dich in eine Wolke des Schweigens, weil du nicht glauben kannst, was dir passiert ist. Deine Worte fliegen wie Vögel davon und du schaust ihnen ratlos hinterher. So ist es mir mit „Wie keiner sonst“ von Jonas T. Bengtsson ergangen. Ein Buch von unglaublicher Intensität. Weiterlesen

Schicksalsschwestern.

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Ein starkes Buch für starke Frauen. Was passt besser zum Internationalen Frauentag? Daher ist es mir eine besondere Freude, euch von „Der Weg der Töchter“ zu berichten. Die nigerianische Autorin Yejide Kilanko erzählt von Frauen, denen in jungen Jahren Schmerzen zugefügt wurden und die trotzdem aufrecht weitergegangen sind.

Das Debüt der 1975 in Nigeria geborenen Autorin ist ein vielschichtiges, leuchtendes und bewegendes Buch. Yejide Kilanko wagt sich mit ihren Roman an ein schwieriges Thema, das beklemmt und fassungslos macht. Doch wirklich erdrückend bleibt es nicht die ganze Zeit, dafür ist der Stil zu herzerwärmend und mit einer großen Portion Leichtigkeit versehen.

Um Morayo und Morenike kreist der Roman, der in Morayos Kindheit beginnt. Die erste große Aufregung erlebt die kleine Morayo, als ihre Schwester zur Welt kommt. Sie ist nicht schwarz und verwirrt das Mädchen beim ersten Anblick: „Sie war mir kein bisschen ähnlich. Sie glich mehr der blonden, blauäugigen Puppe, die Daddy mir auf seiner letzten Reise nach Lagos bei Leventis gekauft hatte. Unser Baby war … weiß?“ Die rosafarbenen Augen ihrer kleinen Schwester erschrecken sie. Afin nennt man in Nigeria Albinos. Dieses Wort schnappt sie auf und hört die Geschichten, die um afins kreisen. So gibt ihre Urgroßmutter der Mutter die Schuld, nachdem sie erfahren hat, dass die Schwangere in der Mittagssonne draußen war. Bei solchen Bemerkungen schlage ich meine Hände über den Kopf, bin geschockt und bestürzt, aber im nächsten Atemzug wird mir klar: Dies ist hier eine andere Welt, als ich sie kenne. Eine Welt mit Traditionen und Bräuche, in der ich nur eine stille Beobachterin bin.

Morayo schließt ihre Schwester Eniayo ins Herz und verlebt eine unbeschwerte Kindheit – bis ihr Cousin zur Familie zieht. Seine Mutter ist mit dem Jungen überfordert. Bros T ist von der Privatschule geflogen, nachdem er geschwänzt hatte. Ihm fehlt offensichtlich eine männliche Erziehungsperson. Morayos Vater soll Bros T zur Vernunft bringen und sein Fleiß- und Pflichtgefühl stärken. Bros T integriert sich in das Familienleben, verbessert sein Verhalten, doch etwas ist komisch. Der Junge sucht die Nähe seiner Cousinen, lässt sie auf seinen Schoß krabbeln und kommt Morayo nah, indem er manchmal im Auto den Arm um ihre Schultern legt und dabei ihre Brust streift. Zudringlich wird Bro T, als Morayo an einem Wochenende krank allein zu Hause ist. Der Rest der Familie ist bei einer Hochzeit eingeladen und dort hingefahren. Die an Malaria erkrankte Morayo wird mitten in der Nacht von ihrem Cousin im Zimmer überfallen. Diese Szene brennt wie ein Messerschnitt. „Ich glaubte zu ersticken. Er rammte mir die Hand zwischen die Schenkel. Als er mein Höschen zerriss, zitterte ich am ganzen Leib. Ich wollte schreien, aber ich kriegte kaum Luft.“ Nach dieser Tat hüllt sich Morayo anfangs in einen Mantel des Schweigens, aus Angst, Bros T könnte sich, an Eniayo vergehen. Morayos Geschichte bleibt nicht die einzige, dunkle. In einem weiteren Teil erzählt die Autorin Morenikes Drama. Auch sie wurde in jungen Jahren missbraucht und schlimmer noch: von ihrem Peiniger schwanger.

Was das Buch an einigen Stellen so erdrückend macht, sind die Reaktionen der Familien und der Umgang mit dem Drama. Das Todschweigen über die brutalen Taten und fassungslose Sätze, die in die Tragik fallen. Granatengeschütze, die auch mich als Leserin umhauen. Statt Zuneigung und Unterstützung, treffen die Mädchen auf eiskalte Ausrufe wie die von Morenikes Vater: „An alledem ist deine Mutter schuld“, erklärte er grimmig. „Sie hätte dich lehren müssen, die Beine nicht breitzumachen.“ In diesen Momenten richten sich die Nackenhaare auf. Ich werde wütend, möchte diesen Menschen treten und schaue gebannt auf Morenike. Sie trägt wie Morayo ihr Schicksal mit Würde und Schmerzen, verfolgt trotzdem ihren Weg weiter. Beide Frauen werden zu Schicksalsschwestern, die sich an den Händen halten. Dabei blickt Morayo zu Morenike auf, die ihr wie ein Baum Stärke und Halt schenkt. Ihre weisen Sätze sind Balsam für die verletzte Seele: „Aber weißt du, Morayo, man verzichtet ebenso wenig darauf, sein Leben zu leben, nur weil die Leute einem etwas tun.“

Yejide Kilanko zeigt den schmalen Grad zwischen Moderne und Tradition. Morayos Familie ist modern, und verfällt dennoch in alte traditionelle Muster. Darüber hinaus erzählt die Autorin auf eindringliche Weise vom Missbrauch an jungen Frauen in ihrem Heimatland. Sie lässt ihre Frauen aber nicht in der Opferrolle zurück, sondern holt sie heraus. Ihre Romanheldinnen sind wie starke Löwinnen, die in Scherben getreten sind, sich die Wunden lecken und erhobenen Hauptes dem Leben ins Gesicht brüllen. Das ist zutiefst eindrucksvoll und unglaublich kraftvoll. Man no die, Man no rotten – die Hoffnung stirbt zuletzt“. – heißt es an einer Stelle. Ein besseres Motto kann es für dieses Debüt nicht geben. Stark – bis zur letzten Seite!

Yejide Kilanko.
Der Weg der Töchter.
Aus dem Englischen von Uda Strätling.
März 2013, 384 Seiten, 18,- €.
Graf Verlag.

Über die Autorin:

Yejide Kilanko wurde 1975 in Ibadan, Nigeria, geboren. Als Jugendliche entdeckte sie für sich Autoren wie Nadine Gordimer, Wole Soyinka und Chinua Achebe. Sie studierte Politikwissenschaften in Ibadan und zog 2000 mit ihrem Mann in die USA, später nach Kanada. Dort arbeitet sie als Kindertherapeutin. Yejide Kilanko hat drei Kinder. „Der Weg der Töchter“ ist ihr erster Roman.

Ein Buch im Bernstein.

ambra

Wenn das erste Buch erfolgreich war, hat es das zweite schwer. Sabrina Janesch musste sich dieser großen Herausforderung stellen. Würde sie mich mit „Ambra“ genauso begeistern können wie mit „Katzenberge“?

Zeit und Ruhe braucht man, wenn man sich diesem Buch öffnen möchte. Also nahm ich es an einem meiner freien Tag mit ins Bett, stellte eine Kanne Tee daneben, begann zu lesen. Und der Roman ließ mich nicht los. Aus ihm strömte etwas Geheimnisvolles, ein geradezu hypnotischer Lockstoff.

Sabrina Janesch rollt die Geschichte von hinten auf. So stehe ich zunächst mit der Ich-Erzählerin Kinga Mischa in der Küche und erfahre, dass sie von Bronka eingeschlossen worden ist. Weil sie die Wahrheit kennt, wohin Bronkas Sohn verschwunden ist. Erzählen soll Kinga, erzählen. Das kann sie nicht. Dann soll sie es schreiben, sagt Bronka, und legt Kinga zwei Hefte und einen Stift hin. In Kinga brodelt es: „Wenn ich die Wahrheit sagen soll, wird es länger dauern, als Bronka sich vorstellen kann, ich werde sie etwas hinhalten müssen, um Zeit zu gewinnen, ich muss mich richtig erinnern, an jedes Detail des vergangenen Jahres, mich erinnern an alles, was ich sah, was ich hörte und was ich, sagen wir: bemerkte, und worum es sich auch immer handelt, ich werde es einfügen, der Vollständigkeit halber.“ Nach dieser Stelle rutsche ich weiter in das Geschehen. Vorher hält sie Bronka noch den Bernstein vor die Augen, mit dem so viel zusammenhängt. Ambra ist ein altes Wort für Bernstein und als Leserin schiebt sich mir eine Ahnung vor die Augen, die mit jeder Seite näher an mich herankommt.

Der Roman teilt sich in verschiedene Erzählstränge. So ist es nicht immer Kinga, die erzählt. Eine objektive Stimme schiebt sich dazwischen wie die Vergangenheit und damit verbunden Kingas Familiengeschichte. Kinga hat von ihrem verstorbenen Vater eine Wohnung in Danzig geerbt. Der Name der Stadt fällt nicht, aber man spürt schnell, dass die Stadt als Schauplatz dient. Dorthin begibt sich die junge Frau und stößt auf einen Teil der Familie, den sie bis dahin nicht kannte. Sie wird von ihrem Cousin Bartosz, der Tante Bronka und dem Onkel Brunon nicht mit offenen Armen empfangen, denn sie fürchten um die zusätzliche Einnahmequelle, die ihnen die Wohnung bietet. Obendrein hat Kinga noch den Bernstein bei sich, ein Familienbesitz, um den sich viele Geschichten ranken. Die sind es auch, die Sabrina Janesch entfaltet. Nicht auf einmal, sondern mit Bedacht und mit einem geheimnisvollen Flunkern. Die junge Autorin schafft es meisterhaft, eine mystische Stimmung zu kreieren, so dass ich am eigenen Fenster hinter jedem Regentropfen etwas Verstecktes vermute. Sabrina Janesch ist einer Fee ähnlich, die mich zunehmend verzaubert, und in ihren Bann zieht. Da kann ich auch die anfänglichen Hindernisse wie die unzähligen fremden verwirrenden Vornamen, die alle mit B beginnen, ausblenden. Die Autorin entführt mich nicht nur in eine aufreibende Familiengeschichte, sondern auch in einen magischen Salon, wo Menschen mit kosmischen Begabungen auf der Bühne stehen, die jede greifbare Norm ausblenden.

Ein weiteres Stilelement sind die kursiven Einschübe, die sich plötzlich in das Geschriebene drängen. Anfangs verwirren diese Fremdkörper, später sind sie ein fester Bestandteil in dem Buch. Sabrina Janesch nutzt diese Form, um den Lesern u.a. Einblicke in Bartosz’ Gedankenwelt zu geben, eine bleischwere Welt. Er war als Soldat im Irak und trägt Wunden in der Seele, die in den aufblitzenden Momenten ans Licht kommen, indem er seine Erfahrungen rekapituliert. Diese Szenen gehen an die Substanz und sind äußerst beklemmend. Über diese Erzählebene tauche ich auch in Renias Leben, eine weitere wichtige Person in diesem Ensemble.

Sabrina Janesch gelingt mit ihrem Roman ein wunderbares Porträt über Danzig. Sie spürt Stimmungen auf, legt Bilder und Sinneseindrücke in ihre Sätze, dass man sich direkt dort wiederfindet. Feinfühlig schreibt sie über die polnische Stadt am Meer, in der sie selbst für ein halbes Jahr als Stadtschreiberin zu Gast war. Sie versteht es, Geschichte lesbar und fühlbar darzustellen, sei es die der Stadt oder die der Familie. Beides macht Freude und ist unwahrscheinlich bereichernd.

Die junge Autorin hat eine besondere Gabe. Ihr gelingt es, eine anziehende Atmosphäre heraufzubeschwören, die an Nebel verhangende Täler erinnert. Ein Bild, das ich bereits in ihrem Debüt „Katzenberge“ vor mir sah. Sie liebt das Verborgene und legt dies mit aller Kraft in ihre Sprache. So verwundert es mich nicht, dass ich plötzlich das Buch in einem Bernstein liegen sehe. Dort ist es gefangen und wartet auf unsere Befreiung. Ein flüchtiges Aufkratzen allein reicht nicht aus, man braucht Geduld und Zeit für dieses Vorhaben. Vieles ist in „Ambra“ versteckt und verschachtelt, dass es besonderer Konzentration bedarf, um zum Kern durchzudringen. Das störte mich keineswegs, als ich in meinem eingeschlossenen Lesereich lag, jenseits von Lärm und anderen ablenkenden Faktoren. Dennoch fehlte mir bis zum Schluss eine Komponente, die dem Buch eine goldene Krone aufsetzen konnte. War es diese seltsame Protagonistin, mit der ich nicht warm wurde? Selbst heute noch beschäftigt mich die Frage: Was war anders als bei „Katzenberge“? Ich weiß es nicht. Parallelen zum Erstling gab es einige: Neben der wunderbaren Atmosphäre und dem geschichtlichen Hintergrund, steht erneut eine junge suchende Frau im Mittelpunkt. Vielleicht schenkt mir die vielversprechende Autorin die Antwort mit ihrem nächsten Roman. Auf den freue ich mich schon jetzt. Denn eins ist gewiss: Sabrina Janesch hat großes Talent. Und verdient für dieses Buch eine silberne Krone.

Sabrina Janesch.
Ambra.
August 2012, 372 Seiten, 22,99 €.
Aufbau-Verlag.

Wenn ihr die Autorin näher kennenlernen wollt, möchte ich euch ihre Homepage ans Herz legen. Außerdem kam sie bereits bei Mara von buzzaldrins Bücher in einem Interview zu Wort und bei mir hier.

Wintersatt.

kerr_blumen

Ich bin wintersatt. Seit Wochen schon versteckt sich die Sonne hinter einem Wolkenmeer und schaut nur ganz selten hervor. Dort hält sie ihren Winterschlaf und lässt uns im Stich. Wir müssen zusehen, wie wir mit der Nässe, Kälte und dem Grau zurechtkommen. „Halt! Das Leben ist zu kurz, um im Grau zu baden. Dagegen muss etwas unternommen werden,“ riefen meine Bücher und schoben mir „Blumen für Zoë“ in den frischen Tulpenstrauß. „Schieß ein Foto, liebe Klappentexterin! Das macht gute Laune!“ Ja, das stimmt. Und so drückte ich auf den Auslöser meiner Kamera. Mit diesem kleinen Blumengruß möchte ich die Sonne aufwecken und euch mit einem Buch-Model beglücken.

Fee Katrin Kanzler über Götter.

                                         CIMG50561 (Foto: Wolfgang Tischer)

Fee Katrin Kanzler wurde 1981 geboren. Die junge Autorin hat Philosophie und Anglistik in Tübingen und Stockholm studiert. 2001 wurde sie zum Treffen junger Autoren in Berlin eingeladen. 2007 war sie Stipendiatin des Klagenfurter Literaturkurses. Fee Katrin Kanzler erhielt im gleichen Jahr den Förderpreis für Literatur der Stadt Ulm. Sie lebt derzeit im Süden Deutschlands, unterrichtet Philosophie und Englisch, zeichnet, spielt und schreibt. „Die Schüchternheit der Pflaume“ ist ihr Debüt. Weiterlesen

Das verlorene Götterkind.

pflaume

Ich bin eine Regenbogenfrau, die dem grauen Alltag die Zunge herausstreckt und im Farbrausch tanzt. Vergessen ist das nasskalte Winterwetter. Vergessen ist der Zorn der Tage. Wie das? Ganz einfach: Fee Katrin Kanzler hat mich mit ihrem Debüt „Die Schüchternheit der Pflaume“ vollends verzaubert. Ihre Sätze sind weich wie feinster Kaschmir und wunderschön. Der Roman gleicht einer Oase, die der Hektik den Riegel vorschiebt und mich in ein leuchtendes Vakuum einschließt.

Fast könnte man den Roman als ein langes nicht enden wollendes Gedicht sehen, so poetisch reiht sich Satz an Satz, so stark und einnehmend ist die Sprache, die sich göttlich über die Geschichte erhebt. Die junge Autorin erzählt von einem Mädchen, das suchend umherschwebt. Der Wind trägt die Erzählerin durch die Welt, über die Straßen einer Großstadt, durch Clubs, in denen sie sich glücklich tanzt, er setzt sie im Scheinwerferlicht auf die Bühne, auf der sie sich ihrer Musik hingibt und ihre warme Mitte findet. Musik ist ihr Lebenselixier: „Zu schildern, wie ich Musik höre, ist nicht so einfach. Sie treibt Strukturen durch den Raum, Netze und fließende Bänder, Blasen und Wellen, hochschießende Zapfen und Speere. Ich sehe sie. Es sind Strukturen, denen mein Körper folgt, wenn ich tanze. Ich fühle sie. Musik ist eine greifbare Welt für mich, eine Landeschaft hinter den Dingen, in ihr gehen Sinne ineinander über, ein synästhetisches Wunderland. Hätte ich nicht als Kind gelernt, dass Klänge ohne Geruch und Geschmack sind, hätte ich keine Scheu, sie mit Worten wie zitronig, fade oder süß zu bezeichnen.“

Schon auf den ersten Seiten spüre ich die zarte Seele aus ihrem Wesen nach draußen steigen. Ich fange sie auf und stecke sie in meine Tasche. Meine Beschützerinstinkte erheben sich automatisch von den Stühlen und wollen das Mädchen festhalten. Eins steht fest: Das Mädchen hat mich von Anfang an auf seine Seite gezogen. Ich kann nicht aufhören, den elfengleichen Beschreibungen zu lauschen, die sie in den Raum ausatmet, ein Flüstern reiht sich an ein Wispern, es folgt ein Streicheln auf der Wange und eine Liebkosung der Sprache.

Es scheint, als hätte der Himmel die Romanheldin ausgespuckt und sie auf die Erde fallen lassen, auf der sie nun versucht, durchzukommen. Die Götter wollten sie nicht mehr, so scheint es, ja, der Gedanke ist nicht ganz abwegig. Sie spricht selbst von ihnen und das nicht im Guten. Seit den Jugendtagen kämpft sie mit ihnen. „Mit dreizehn glaubte ich, den Göttern zu gehören. Fühlte ihre bitterscharfen, stahlblanken Krallen. Hörte ihr unterkühltes Gelächter und glaubte, niemals einem Mann gehören zu können, weil mich bereits die Götter besaßen.“ Die Götter wissen alles von ihr, glaubt sie, mehr als sie selbst. Die Erzählerin hängt oft in der Schwebe wie eine Seiltänzerin, die aus dem Takt gekommen ist, zwischen oben und unten baumelnd, unschlüssig, wohin sie nun schweben soll. Sie möchte ihre eigene Geschichte greifen, doch die entgleitet ihr zwischen den Fingern, wie ein nasser Fisch, der wieder zurück in den See will.

Da steht die namenlose Ich-Erzählerin also und blickt der Welt ins Gesicht. Mal strahlend, mal ängstlich, mal fragend. Und immer dabei, ihr unschlüssiges Herz, das sich nicht entscheiden kann, welchen Mann sie nun nehmen soll. Das liebenswerte Ding, das alle Sonderlinge magnetisch anzieht. Ja, die Erzählerin selbst ist sonderbar, verrückt und ein „Mondsuchtfräulein“, das schlafwandelt, und sich furchtbar gern hinter ihrer „Goldkäferbrille“ versteckt. Besonders nach Nächten, in denen sie wenig Schlaf bekommen hat oder an Tagen, an denen ihr das Leben abhandenkommt und sie sich verkriechen möchte, weil die inneren Erdbeben zu stark sind. Während ich das hier schreibe, streift mich die Erkenntnis, dass man sie liebt oder nicht. Wie diesen Roman. Entweder ganz oder gar nicht.

Fee Katrin Kanzler schafft großartige Wortkreationen und malt unglaubliche, betörende Bilder, verzauberte, melancholische und verträumte. Sie spielt mit der Sprache, verwandelt alltägliche Wörter in wundersame Geschöpfe. Sprachlich gesehen, ist der Roman eine wertvolle, bereichernde Schatztruhe. Ich grabe und verliere mich in zahlreichen Formulierungen, stoße auf Worte, die ich mir an die Wand malen möchte.

Dieser Roman löst die Erdanziehungskraft auf und lässt mich schweben. Ich entgleite dem Stress, dem lauten Getöse vor der Haustür. Es gibt keine harten Kurven, keine Explosionen, stattdessen nur einen zarten Faden, der sich verspielt und liebevoll um die Augen schmiegt. Alles Graue verschwindet und verwandelt sich in ein buntes Meer aus Farben. Rot, grün, blau, violett, rosa, gelb. Sie tanzen und ziehen mich alle mit. Der Roman gewinnt nicht durch die Geschichte, dafür ist sie zu klein, eine zurückhaltende Melodie, die sich bei mir dennoch großes Gehör verschafft. Es bleibt angenehm ruhig und still. Trotzdem finde ich auf den Seiten wohltuendes Leseglück und vollkommenen Seelenfrieden. Vielleicht weil ich für die kleinen besonderen Dinge des Lebens empfindsam bin und mich ein Buch auch durch eine schöne Sprache begeistern kann. Wer ereignisreiche Szenen und eine krachende Portion Aktion sucht, der wird hier nicht fündig. Doch wer sich in poetischen Bildern verlieren und sich dem Summen von wundervoll komponierten Sätzen hingeben kann, der wird am Ende das Buch mit einem glücklichen Seufzer zuschlagen und aussehen wie eine Regenbogenfrau. Versprochen!

Fee Katrin Kanzler.
Die Schüchternheit der Pflaume.
September 2012, 320 Seiten, 19,90 €.
Frankfurter Verlagsanstalt.

Mit dem Roman ist an dieser Stelle Schluss, doch mit der Autorin geht es am kommenden Mittwoch in einem Interview weiter.

Monster im Kopf.

Ich kenne solche Momente, in denen im Kopf ein Monster sitzt, das mit hässlichen Worten um sich wirft. Oder die Augenblicke, in denen ich mich von der Welt zurückziehe und im Bett verkrieche, um neue Kraft zu schöpfen. Was bei mir in großen Abständen kurz auftaucht, ist bei Ida Schaumann ein Dauerzustand. Sie ist die Ich-Erzählerin in dem Debüt „Drüberleben – Depressionen sind doch kein Grund, traurig zu sein“ von Kathrin Weßling.

Kathrin Weßling hat mich mit ihrer Romanheldin jeden Quadratzentimeter spüren lassen, wie es ist, wenn man mit der Diagnose F 32.2. Schwere depressive Episode ohne psychotische Symptome leben muss. Wir sind beide Menschen mit zwei Armen und zwei Beinen, beide junge Frauen und doch trennt uns etwas. Während ich ohne große Hindernisse durchs Leben laufe, gelingt es Ida gar nicht. „Irgendwann war etwas passiert, das begonnen hatte, den Weg zu zerfressen, den ich ging, etwas, das aus dem Weg einen Hindernisparcours gemacht hatte.“ Ida versteckt sich in ihrer Wohnung, betäubt sich mit Alkohol, ist zu nichts in der Lage und so türmen sich die Müllberge. Aus lauter Verzweiflung lässt sie sich zum wiederholten Male in eine psychiatrische Klinik einweisen. Dort trifft sie auf andere Menschen, die wie sie aus dem Leben gefallen sind.

Kathrin Weßling setzt nicht nur ihre Protagonistin in den Mittelpunkt, sie rückt auch weitere Patienten in den Fokus. Da ist der wütende Simon, dem nachts schlimme Alpträume plagen und der den anderen seinen Zorn ins Gesicht wirft oder Peter, der von Panikattacken eingenommen wird. Es gibt einige Szenen, in der sich eine große Betroffenheit in mir breitmacht. Die erwischt mich besonders in einem ersten Gruppengespräch, an dem Ida teilnimmt. Es geht darum, die Gefühle zu beschreiben und wie es ihnen mit ihrer Krankheit geht. Als eine Patientin vier Wörter ausspricht, vier verdammte Wörter, die wie Chili in den Augen brennen, spüre ich einen Schlag auf meinem Kopf. Diese vier Wörter, die alles beschreiben, die ganze Verzweiflung ausspucken, lauten: „Da ist ja niemand.“ Eben rumorte es noch in dem Raum, jetzt herrscht eine Stille, weil Andrea das ausgesprochen hat, was alle betrifft. Selbst Ida findet sich darin wieder: „Ja, da ist niemand, denke ich. Keiner, der wartet, keiner, der schon gekocht und aufgeräumt hat und mit Geschichten wie Umarmungen am Tisch auf uns wartet. Da ist einfach niemand. Keiner, der da ist, und auch keiner, der vorbeikommt.“

Danach brauche ich Minuten, um wieder klar denken zu können. Genau das schätze ich an diesem Debüt aus: Diese Offenheit. Kathrin Weßling holt mich in eine Welt, über die oft hinter vorgehaltener Hand gesprochen wird. Eine Krankheit, die in den letzten Jahren zugenommen hat und nicht aufhören wird, zu wachsen. Die junge Autorin versteckt gar nichts, schaltet das Licht an, wenn ich in einem dunklen Winkel die Sicht verliere. Sie spricht Dinge an, die mich bis ins Innerste erschüttern. Das macht sie in einem sehr eigenen Ton, der dieses Debüt auszeichnet. An einigen Stellen kann ich nicht anders, als zu lachen, so ironisch schreibt sie. Woanders spüre ich den Zorn wie Faustschläge im Gesicht. Die Sprache ist ihre Welt, das erkenne ich in jedem Satz. Die junge Autorin gewann bereits zahlreiche Poetry-Slams und begann einst mit ihrem Blog „drüberleben“ über ihre Depression zu schreiben, mit dem zur „Mädchenbloggerin 2010“ gekürt worden ist.

Was ich an dem Buch schätze, ist der Weg, auf dem ich Ida begleite. Mit dabei ihre Suche nach der erlösenden Antwort für das Übel und dazwischen eigene Erinnerungen, denen sie sich stellt. Langsam, aber stetig. So erfahre ich den Auslöser für ihr Auseinanderfallen. Doch ob der Tod einer geliebten Freundin wirklich der Grund an ihrer Erkrankung ist, wird fragwürdiger je tiefer Ida sich in ihre eigene Vergangenheit gräbt.
Kathrin Weßling erzählt auch davon, wie es ist, wenn der Körper von Gedanken und Gefühlen komplett eingenommen ist: „Ich zähle, weil ich nicht weiß, was ich denken soll. Was ich denken kann und was ich denken muss. Ich zähle, weil Zahlen so viel einfacher zu buchstabieren sind als Gefühle, die sich immer auf eine Art breitmachen, als hätte jemand sie darum gebeten, als hätte jemand, also ich, ihrer selbstverständlichen Präsenz eine Einladungskarte geschickt, auf der steht, dass sie immer willkommen sind, dass sie vorbeikommen können, wann immer sie wollen.“

Die Autorin hat mit ihrem Roman etwas sehr Wertvolles getan. Sie hat mich in einen Menschen blicken lassen, der an einer Depression leidet. Sie hat mich die Monster hören lassen, die in ihrem Kopf wüten. Und das auf bemerkenswerte Weise. Ihr Schreibstil pulsiert vor Kraft und knackt wie ein Apfel. Weiche Töne werden von spitzen Pfeilen getroffen. So traurig und bewegend die Geschichte auch ist, so energiegeladen sind die Wörter, die sie erzählen. Sicherlich bleibt die Betroffenheit, doch es schiebt sich im Verlauf der Geschichte und zum Schluss etwas dazwischen. So Etwas, das die Hoffnung in sich trägt.

Kathrin Weßling.
Drüberleben. Depressionen sind doch kein Grund, traurig zu sein.
September 2012, 320 Seiten, 16,99 €.
Goldmann Verlag.


Über die Autorin:

Kathrin Weßling wurde 1985 in Ahaus geboren. Die junge Autorin lebt in Hamburg und hat bereits zahlreiche Poetry-Slams gewonnen. Zudem war sie Protagonistin mehrerer Folgen der Sendung „Slam Tour mit Sarah Kuttner“. Kathrin Weßling für Magazine wie „uMag“ und auf „jetzt.de“ geschrieben. 2010 hat sie angefangen, auf ihrem Blog „drüberleben“ über ihre Krankheit zu schreiben und wurde zum „Bloggermädchen 2010“ gekürt. Die Autorin arbeit derzeit als freie Texterin und Autorin.

Mit dem Buch ist an dieser Stelle nun Schluss, doch am Samstag geht es mit einem Interview weiter. Seid gespannt!