
Womit fange ich am besten an? Die Frage treibt mich immer um, sobald ich ein Buch von John Irving beendet habe. Sie schleicht wie eine Katze durch meinen Kopf. Auf und ab, schnurr, schnurr. Den richtigen Einstieg zu finden, ist gar nicht so einfach, denn Irvings Romane erinnern mich an aufregende, schillernde Jahrmärkte, auf denen es vor Buden und Karussells nur so wimmelt. Es hupt, es schimmert und es knallt. Die große Vielfalt öffnet ihre Arme, in die ich mich fallen lasse. Wenn ich John Irving lese, vergesse ich alles um mich herum, auch, dass ich im Anschluss an die Lektüre noch eine Rezension schreiben möchte. Das heißt, ich mache mir keine Notizen und sitze am Ende mit staunendem Mund vor dem Buch und frage mich: Womit fange ich nur an?
Am besten mit dem Anfang von „In einer Person“. Der ist skurril und herrlich genug, um ihn an dieser Stelle zu erwähnen. Dort erzählt der fast siebzigjährige Ich-Erzähler den Zusammenhang zwischen seinem sexuellen Erwachen und der „Sturzgeburt“ seiner Phantasie. Dazu kehrt er zurück in seine Jungend. Der junge William, genannt Billy Abbott, fühlt sich zu Miss Frost, der älteren Bibliothekarin der Gemeindebücherei von First Sister in Vermont, hingezogen. Und – schwupp – schlüpfte aus ihm der Wunsch, später Schriftsteller zu werden und Sex mit Miss Frost zu haben. Irving legt seinem Erzähler dabei einen klugen Satz in den Mund: „Was wir begehren, prägt uns.“ Auf der ersten Seite erfahre ich außerdem, dass unser Romanheld Schwierigkeiten damit hat, bestimmte Wörter auszusprechen. Es dauert nicht lange, und schon habe ich Billy in mein Herz geschlossen. Während mir diese Gedanken durch den Kopf fahren, stelle ich fest, dass ich bereits nach der ersten Seite einiges über den Protagonisten erfahren habe. Das ist Irving! Er liebt es, seine Figuren auszuschmücken und sie wie Weihnachtsbäume mit besonderen Eigenheiten zu behängen. Nach Billy stoße ich auf seine Familie, die ein bisschen aus der Reihe tanzt. Den Vater gibt es nicht mehr, zumindest nicht zu Hause. Die Mutter angelt sich einen Lehrer, der sich fürs Theater begeistert und ein großes Herz für Shakespeare-Stücke hat. Ein großes Theater. Und alle spielen mit. Billys Großvater schlüpft am liebsten in Frauenrollen und seine „besserwisserische“ Tante liebt das Schauspielern nur, um „ihrer erhaben klingenden Stimme etwas Originelles zu sagen zu geben.“ Billys Mutter ist Souffleuse.
Das Wesentliche, der zentrale Mittelpunkt, ist und bleibt Billy, der als Teenager entdeckt, das er sich nicht nur zu Mädchen hingezogen fühlt, sondern überdies noch andere Vorlieben hat. So fragt er seine besten Freundin Elaine nach ihrem BH, den er selbst gern tragen möchte. Seine gute Freundin Elaine, mit der Billy seine ersten sexuellen Erfahrungen sammelt und die wie Billy für einen Ringer schwärmt. Jacques Kittredge heißt der Rotzlümmel. Frech ist er und überheblich, ein starker Platzregen, vor dem man sich nicht schützen kann. Das hält beide dennoch nicht davon ab, für den Ringer zu schwärmen. Er ist nicht der einzige Mensch, für den Billys Herz schlägt, so liebt er ebenfalls ältere Frauen – neben Miss Frost, also die bereits erwähnte Bibliothekarin, gehört Elaines Mutter in den engen Kreis seine Träume. In der heutigen Zeit wäre all dies kein großes Problem, doch Billy besucht zur damaligen Zeit, Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre, eine konservative Jungenschule und genau das macht alles verzwickt. Ja, bei diesem ganzen Durcheinander kann einem schon schwindelig werden. Obwohl ich mich prächtig amüsiert habe, befand ich mich in keiner Komödie, sondern in einem Film, der vom Suchen und Sich-Finden erzählt.
John Irving macht eine große Schleife. Er beginnt in den fünfziger Jahren und führt den Leser bis in die Gegenwart. Es geht von Amerika aus nach Europa, und von dort wieder zurück. Im Fokus drehen sich Billy und die Menschen, die sich um ihn finden. Mal ist es Donna, ein Transvestit, mal der schwule Professor Larry und mal Elaine, seine langjährige Freundin, die für mich eine der schönsten Beziehungen in diesem Roman darstellt. Die beiden verbindet eine Freundschaft, die zu Herzen geht und glücklich macht.
Das letzte Drittel hebt sich aus dem Roman ab, als wäre es eine Straße, die viele Löcher hat. Plötzlich drosselt sich die Geschwindigkeit. Irving schreibt von der großen Seuche – Aids – die etliche von Billys Freunden und Liebhabern tötet. Diese Seiten haben einen eigenen Ton, der mich an das Knarzen von alten Dielen erinnert. Bewegende und eindringliche Szenen umgeben die Momente der Ohnmacht und Verzweiflung, in denen Billy seine Freunde am Sterbebett besucht und sich auf eine Art schuldig fühlt, weil er gesund ist. „Ich fürchtete mich nicht vor dem Sterben; ich fürchtete mich vor endlosen Schuldgefühlen, weil ich nicht starb.“
John Irving konnte mich erneut auf seine Seite ziehen. Ich habe seinen Roman genüsslich aufgesogen und überhaupt nichts vermisst. Selbst in den schlimmsten Augenblicken scheut er nicht davor, komische Szenen einzubauen wie die Tochter von Billys todkranken Freund Tom, die jedes Mal schreit, sobald sie Männer sieht. Dieser Roman strahlt wie eine glückliche warme Sommersonne vor Menschlichkeit, Freundschaft und Liebe, so wird mir wieder bewusst, warum ich Irving schätze: für seine süffige Sprache, die seltsamen Akteure und die unzähligen abgedrehten Situationen, die berühren und mir Tränen in die Augen schießen lassen – ob vor lauter Lachen, vor Rührung oder Trauer.
John Irving.
In einer Person.
September 2012, 725 Seiten, 24,90 €.
Diogenes Verlag.