Fünf Kopeken von Sarah Stricker ist wie ein schiefes Haus, in das man gern hineinkriecht und aus dem man nicht wieder hinaus möchte, weil es so herrlich skurril darin ist. Für mich ist dieses Debüt eines der herausragendsten, das ich in diesem Bücherherbst bisher gelesen habe.
Die 1980 geborene Autorin erzählt die Geschichte einer deutschen Familie, die im Nachkriegsdeutschland eine Modekette aufbaut. Zunächst in der pfälzischen Provinz, später in Berlin. Obwohl im Vordergrund die Familie Schneider steht, bleibt die namenlose Mutter der Ich-Erzählerin der Dreh- und Angelpunkt. Sie liegt sterbenskrank im Krankenhaus, läuft in die eigene Vergangenheit zurück und nimmt ihre Tochter Anna mit, aus deren Sicht das Leben wiedergegeben wird. Diese Erzählform ist erstaunlich, ein äußerst kluger und raffinierter Schachzug, bei dem zwei Personen zu einer verschmelzen.
Die Mutter wächst in einer Familie auf, in der Langeweile unter „Höchststrafe“ steht. Bei den Schneiders prangt die Tüchtigkeit an oberster Stelle. Das Ganze erinnert mich an eine Dampflok, die niemals aufhört, durch die Lande zu ziehen. Tuck, tuck! „Wer nach zehn noch die Augen aufhalten konnte, hatte sich nicht genug verausgabt.“ So wird geackert, was das Zeug hält, immer vorwärts, bloß nicht anhalten. Die treibende Kraft ist der Großvater. Er hat im Krieg nämlich drei Dinge gelernt: „Das Erste war, dass Stillstand den Tod bedeuten kann.“ Das Zweite ist das Geschäftsleben. Darüber wusste er „am allermeisten. Während der endlosen Märsche entlang der Wolga hatten seine Mitgefangenen neben all dem Stuss über irgendwelcher Mütter Essen, die man nicht mehr, und anderer Mütter Töchter, die man zwar nie wirklich, aber wirklich gern gehabt hätte, auch eine Menge Brauchbares erzählt.“ And last but not least winkt die Erkenntnis: Ein Traum darf niemals zu klein sein. So stürzt sich der Großvater in das Geschäft seines Vaters und träumt von einer großen Vision. Die führt ihn einige Seiten weiter ins frisch wiedervereinte Berlin. Ich folge der Familie, auf Schritt und Tritt, mit einem schiefen Lächeln, das oft beim Lesen dieses Buches wie eine Lampe das Gesicht erhellt.
Der Großvater ist es auch, der früh erkennt, dass seine Tochter mit einer geballten Ladung an Intelligenz und vielen Talenten gesegnet ist. Bereits „mit drei oder vier Jahren“ kann sie lesen und wird von da an unter seine Fittiche genommen. Er karrt Bücherberge nach Hause, führt sie in Museen, lässt sie Instrumente spielen; sie singt und malt. Nur eins hat ihr das Universum nicht geschenkt: Schönheit. Bei Sarah Stricker liest sich das so: „Meine Mutter war zu hässlich, um dumm zu sein.“
Der besondere Ton, der einem hier entgegenschlägt, zeichnet das Buch aus. Er ist frech, bissig und ironisch. Aber nicht die ganze Zeit, Sarah Stricker versetzt ihre Leser genauso gern in nachdenkliche und melancholische Stimmungen, in denen das Herz aussetzt und man kräftig durchatmen muss. Manchmal halte ich sogar an und sauge ihre philosophischen Betrachtungen wie ein Schwamm auf.
Seit Kindheitstagen ist die Mutter eine Außenseiterin, auch deshalb, weil ihr der Kontakt zu Gleichaltrigen verboten wird. Ihr Geist könnte unter dem Schund leiden, lautet ein Argument. Auf diese Weise bleibt ausreichend Zeit, sich mit ihren Talenten zu beschäftigen. Was die Mutter hingegen nicht beherrscht, ist die Liebe: „Sie hielten es einfach nicht miteinander aus. Dafür waren sie einander zu ähnlich. Herrisch. Besitzergreifend. Kompromisslos. Beide nahmen einen völlig in Beschlag, mussten auf Gedeih und Verderb die Oberhand behalten, ganz gleich, wie laut ihnen die Welt entgegenschrie, dass sie im Unrecht waren.“
Dennoch schlägt sie zu, wie eine Axt kracht sie der Mutter eines Tages mitten ins Herz. Besonders heftig trifft es sie, als sie Jahre später in Berlin studiert und mit Arno zusammenlebt, die Hochzeit ist schon in greifbarer Nähe. Arno liebt sie abgöttisch und treibt seine Liebste damit fast in den Wahnsinn. „Wenn jemand lange genug liebt, liebt man ihn am Ende entweder zurück oder man beginnt diesen Menschen zu hassen.“ Wie es ist jemanden bedingungslos zu lieben, erfährt die Mutter bald am eigenen Leib, als sie Alex trifft, einen Juden aus Odessa. Alex ist das totale Gegenteil von der Mutter und vielleicht aus diesem Grund so anziehend. Die Liebe zu diesem Mann reißt ihr den sicheren Boden unter den Füßen weg und macht sie kopflos. Sie – die sonst so strebsame junge Frau – taumelt plötzlich und wirft sich direkt in die Arme eines Doppellebens.
All das erfährt die Ich-Erzählerin am Krankenbett ihrer Mutter. Bis ins kleinste Detail breitet sie das Leben aus, wie eine Decke hüllt sie Anna darin ein, die manchmal gar nicht weiß, wie sie mit der Offenheit der Mutter umgehen soll. Und doch versteht sie, warum sie das macht: „Aber je weiter ihre Geschichte voranschritt, desto mehr begriff ich, dass es vor allem diese Stellen waren, die, die man ihr nicht zutrauen wollte, die sie erzählen musste, die sie laut aussprechen musste, um sich zu vergewissern, dass sie sich die Frau, die all die Jahre nur in ihrem Gedächtnis weitergelebt hatte, nicht nur ausgedacht hatte. Um zu überprüfen, ob die Vergangenheit auch der Wirklichkeit Stand halten würde. Mein Zuhören sollte ihre Erinnerung beglaubigen. Und ich tat ihr den Gefallen.“ Bis zum Schluss. Anna kämpft mit sich und den Geschichten der Mutter. Sie ist bestürzt und gleichzeitig wütend über das, was sich ihr da offenbart, dieses andere Bild der Mutter, in das sie plötzlich schaut.
Dieses Buch ist unglaublich mitreißend und erfrischend. Keine Seite ist zu viel, jeder Satz sitzt wie angegossen, als würde man in ein neues Paar Schuhe schlüpfen, die auf Anhieb passen. Sarah Stricker überzeugt durch eine beachtliche Sprachvielfalt und bereitet damit großes Lesevergnügen. Die Familie Schneider ist eine ganz eigene, über die ich oft geschmunzelt habe, obwohl sie schon in sich tragisch ist. Den Spagat zwischen Tragik und Leichtigkeit legt die Autorin durch ihre Erzählweise bravourös hin. Vor allem die Liebesbeziehung zwischen Alex und der Mutter liest sich ergreifend und ist äußerst tragisch. Die Passagen unterscheiden sich deutlich von den vorangegangen und heben so die Vielfalt auf bemerkenswerte Art hervor.
Fünf Kopeken ist ein Buch, das strahlt und glücklich macht. Man vergisst die Welt um sich herum und möchte wie eine Verrückte nur lesen, bis die Augen zwicken. Dieses Debüt hat einen besonderen Charme, wie man ihn bei schiefen Häusern gern findet.
Sarah Stricker: Fünf Kopeken. Eichborn Verlag, 2013, 512 Seiten, 19,99 €.
Ich kann mich nur in Gänze anschließen! Dieser Eindruck, dass jedes Wort genau das richtige ist und an der richtigen Stelle sitzt, war bei mir auch sehr stark. Es passt einfach alles. Eines meiner Lieblingsbücher der zweiten Jahreshälfte.
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Punkt. Deinem Kommentar habe ich nichts hinzuzufügen, außer ein zustimmendes Nicken und Händeklatschen vor Freude.
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Diese Buchbesprechung liest sich so, das man einfach mehr wissen will.Total schön geschrieben und jetzt schau ich mal ob ich es in der Bibliothek bekomme.
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Liebe Xeniana,
merci! Ich drücke meine Daumen, dass deine Bibliothek dieses großartige Buch vorrätig hat. Und wenn nicht, dann wird es allerhöchste Zeit!
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Auf diese Rezension habe ich schon lange gewartet, und nun ist sie endlich da. Und sie bestätigt das Bild, das ich ohnehin schon von dem Buch hatte. Wirklich schade, dass die Feuilletonisten noch nicht für sich entdeckt hatten, und auch für buchpreistauglich wurde es ja offenbar nicht befunden. Bei solchen Büchern denke ich mir immer: Wie gut, dass es uns gibt, dass es das Internet gibt, wo solche Bücher besprochen werden.
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Dann ging es dir also wie mir bei dir. 😉 Du sprichst etwas an, das mich auch beschäftigt hat: Ich kann immer noch nicht verstehen, dass ein solches sprachgewaltiges, wunderbares Buch nicht auf der Buchpreisliste stand. Gleiches denkst du über Katharina Hartwells Das fremde Meer. Das sind Bücher, die mitreißen, so viele Menschen begeistern und sprachlich überzeugen. Dieses Werke sind formvollendet – und das sagt nicht nur eine Leserin. Was braucht es mehr? Ich finde deinen Abschlusssatz dabei ganz wunderbar. Ein Satz, der leuchtet und mich glücklich lächeln lässt. So ist es: „Wie gut, dass es uns gibt, dass es das Internet gibt, wo solche Bücher besprochen werden.“ Vielleicht sollten wir unseren eigenen Buchpreis vergeben (eine Idee, die ich irgendwann schon mal hatte, aber die Zeit, die gute Zeit, du weißt ja…)?
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Auch ich habe dieses Buch mit der gleichen Begeisterung verschlungen. Diese junge Autorin hat wirklich Talent zum Schreiben. Besonders erfreulich fand ich, dass ich sie auf der Frankfurter Buchmesse bei einer Lesung zusammen mit Alina Bronsky erleben durfte. Sarah Stricker ist eine beeindruckende Persönlichkeit und ich hoffe, sie wird uns noch viele weitere Geschichten schenken.
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Oh, du doppelter Glückspilz! Du hast das Buch nicht nur genauso genossen wie ich, sondern konntest die Autorin auf der Buchmesse live erleben. Das ist schön, liebe lesesilly, und freut mich ungemein. Ich hoffe wie du, dass uns die Autorin noch mehr Bücher schenken wird. Alina Bronskys neues Buch werde ich demnächst auch lesen. Kennst du es schon?
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Nein, ich habe es noch nicht gelesen, war aber auch von der Lesung an diesem Buchmessentag nicht so überzeugt. Die wortgewaltige Sarah Stricker hat Alina Bronsky doch ein bisschen den Rang abgelaufen. Allerdings fand ich Scherbenpark und die Gerichte meiner … ganz großartig. Ich denke, ich warte Deine Rezension zu ihrem neuen Buch ab. Bin gespannt.
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Mir ging es da wie dir, ich fand Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche auch großartig. Scherbenpark hingegen kenne ich noch nicht. Wird irgendwann noch nachgeholt. Versprochen! Ob ich über ihr neues Buch schreiben werde, weiß ich noch nicht, weil es dann wohl mitten ins Weihnachtsgeschäft fällt. Aber so wie ich gesehen habe, liest Mara aktuell das Buch. Da wird es demnächst bestimmt eine Rezension zu geben. Und Karo vom Blog deep read hat ihre Eindrücke bereits zusammengefasst. Sie hat diesen Roman ins Herz geschlossen. Schau einfach hier.
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