Schlagwort-Archive: Mutter-Tochter-Beziehung

Ein kleines, großes Wunder. Jetzt wiederentdeckt.

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»Cocktails« von Pamela Moore ist prickelnd wie ein Glas Spritz und verströmt gleichsam den Duft von dunkler Schokolade. Es perlt einerseits herrlich lebensfroh und lässt andererseits aus Eiswürfeln den Nebel der Melancholie aufsteigen. Ein wunderbar berauschendes Werk liegt hinter mir und ich bin sehr froh, dass der Roman neu aufgelegt wurde. Und er darf nie mehr verschwinden – dafür ist er einfach zu brillant.

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Mutterseelenallein.

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Fünf Kopeken von Sarah Stricker ist wie ein schiefes Haus, in das man gern hineinkriecht und aus dem man nicht wieder hinaus möchte, weil es so herrlich skurril darin ist. Für mich ist dieses Debüt eines der herausragendsten, das ich in diesem Bücherherbst bisher gelesen habe.

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Back to the roots.

Du kannst der Geschichte deiner Vorfahren nicht entkommen. Sie ist der Schatten, der dir all die Jahre folgt, eine Hand, die auf deiner Schulter liegt. Manchmal wütet sie wie ein Orkan, weil zu viele unentdeckte Flächen die klare Sicht verbergen und Gräser wie Giraffen aus der Ebene hervorragen.

Genauso ergeht es Luisa, der Ich-Erzählerin in „Suna“, deren Familiengeschichte bis jetzt im Dunkeln lag. Nun ist ihr zweites Kind da, findet nicht zur Ruhe und will nicht schlafen. Luisa ist verzweifelt und sucht den weisen Dorfarzt auf, der es auf den Punkt bringt: »„Sie kann keine Wurzeln schlagen“, sagte er bedächtig. „Finden Sie Ihre.“« Damit rollt Pia Ziefle ihren Roman aus, den ich aufgesogen habe wie es sonst nur das Löschpapier mit der Tinte vermag.

Die Ich-Erzählerin berichtet ihrer Tochter zunächst von zwei türkischen Brüdern, „einem Ziegenhirten und einem Dichter.“ Sie sind der Ausgangspunkt der Geschichte, bei der die Quelle anfängt zu fließen. Diese Anfangsszene ist voller Zärtlichkeit, dass ich immer wieder lächelnd mit meinen Fingern darüber fahre, als wäre es ein schönes Bild. Sie ist nur eine von vielen, in denen ich ein warmes Tuch um meinem Bauch spüre.

Als der kleine sechsjährige Kamil am Jackenärmel seines Bruders zieht und sagt: „Nimm mich mit!“, will Doğan ihn abschütteln und nach Hause schicken, doch Kemil ist hartnäckig und kann so Doğans Herz erweichen. Zusammen gehen sie zu den Ziegen, später sollten sie ihr Land verlassen, im Rücken die Heimat und vorn im Blick ein fremdes anderes Land, das Hoffnung auf ein besseres Leben verspricht. Für einige Zeit befinde ich mich bei den beiden Brüdern, bis ich im neuen Kapitel Luisa lausche, die ihrer Tochter zärtliche Worte ins Ohr haucht. Das sind für mich die Momente einer tiefen Liebe, besondere Minuten der Innigkeit. Wie erschöpft die Mutter vom wenigen Schlaf auch ist, sie schafft es trotzdem mit einer Engelsgeduld ihre Tochter durch die Nacht zu tragen und ihre gemeinsame Geschichte zu erzählen. Diese Sätze umarmen mich und tauchen mich in ein Bad der Ruhe und Geborgenheit.

Es folgen noch viele andere Namen, die wie Fäden vor meinen Augen auftauchen, mich manchmal verunsichern, so dass ich mich leicht wacklig fühle. Einmal frage ich laut: „Wo geht die Reise hin? Was haben all die Menschen zu bedeuten?“ Ich horche und höre nichts, also lese ich weiter in dieser aufregenden Familiengeschichte, die viele verschlungene Wurzeln hat. Sie beginnen in der Türkei, führen nach Serbien und landen schließlich in Deutschland, wo sie sich alle treffen und wie von einer Hand aufgenommen werden. Das Schicksal strickt einen Pullover, der am Ende aussieht wie ein bunter Regenbogen.

Dieses Debüt ist unglaublich! Es begeistert mich und bleibt unvergesslich. Pia Ziefle hat eine Familiengeschichte geschrieben, bei der sie jedes Wurzelteilchen exakt betrachtet und auf mitreißende Weise erzählt. Da ist zum Beispiel Julka, die eines Tages aus ihrem serbischen Dorf aufbricht, nachdem ihr eine deutsche Dame beim Arbeitsamt berichtet hatte, dass sie für zwei Jahre in Deutschland arbeiten könnte. Oder Johannes, der stille Außenseiter, der in der Welt der Kartographie sein Glück findet, obwohl sich seine Mutter etwas anderes für ihn gewünscht hatte. Um sie herum wimmelt es wieder von anderen Menschen, das Rad dreht sich weiter und ich sitze als Zuschauerin mittendrin, spüre diese Wärme, die vom Erzählten ausgeht und die Intensivität, die mich berührt und aus meiner Welt reißt. Vollkommen gefangen bleibe ich in dem Buch und möchte nicht wieder auftauchen. Ich lausche Luisas eigener Geschichte, die sie teilweise sehr zerrieben hat. An ihr zeigt uns Pia Ziefle wie es sich anfühlen kann, ein zweigeteilter Mensch zu sein. Wenn die Vergangenheit sich plötzlich über die Gegenwart rollt und einen anderen Ton erzeugt, als den, den man bis dahin als den richtigen hielt.

Mit der Liebe fing alles an und sie führt die junge Frau dorthin, wo sie wieder die Ruhe in sich spüren kann. Besser als Pia Ziefle kann ich es nicht sagen: „Ich habe nach meinen Wurzeln gesucht, nach meinen und nach deinen, mein Kind, denn ohne Wurzeln kann das Herz nicht wachsen.“

Suna.
Pia Ziefle.
Februar 2012, 304 Seiten, 18,- €.
Ullstein Verlag.

P.S. Mara von buzzaldrins Bücher war von dem Buch genauso begeistert und hat mich erst mit darauf aufmerksam gemacht. Auf diesem Wege ein ganz persönliches Dankeschön an dich! Sie hat eine schöne Rezension geschrieben und Pia Ziefle interviewt. Wer mag, kann das Interview hier nachlesen. Bibliophilin hat ebenfalls wunderbare Worte zu diesem beeindruckenden Buch gefunden. Ihre Rezension findet ihr hier.

Über die Autorin:
Pia Ziefle wurde 1974 geboren. Sie ist als freie Autorin und Bloggerin tätig. Ihre Beiträge erschienen u.a. im „Tagesspiegel“, in der „Berliner Zeitung“ und in der „Frankfurter Rundschau“. Sie lebt mit ihrer Familie bei Tübingen. „Suna“ ist ihr erster Roman. Ich empfehle euch an dieser Stelle ihren lesenswerten Blog „Denkding„.

Drama à la française.

Die Franzosen gehören literarisch gesehen für mich zu den Größten. Das vorliegende Buch ist wieder einmal ein wunderbares Beispiel für meine These. Die französischen Werke dringen tief in mich ein, bohren sich Löcher in den Kopf und lassen mich beinah sprachlos zurück. Zwischendurch brodeln kleine Vulkane auf, sie schießen heiße Lava in die Luft und schüren das Entsetzen zu einer anhaltenden Flamme, die bis zum Schluss nicht ausgeht.

Am Anfang von „Kümmernisse“ hätte ich mit solch einer Hitze nicht gerechnet. Ziemlich nüchtern, beinah eiskalt wie ein klarer Gebirgssee, schildert Judith Perrignon den Niedergang vom Frauengefängnis vergangener Zeiten. „Dann waren die Arbeiter gekommen, sie waren hinter den Mauern verschwunden.“ Eines Tages machte es „Tak-tak-tak“, eine gewaltige Stahlkugel, die von einem der Kräne hing, zerstörte das Gebäude, arbeitete sich vor. Allmählich zerfiel jenes Stück Geschichte, mit dem auch das Leben Helenas verbunden war. Eine ehemalige Inhaftierte, die dort in den kalten Gemäuern im Jahre 1967 eine Tochter zur Welt gebracht hatte. Die Schreie hallen selbst Jahre später noch nach, erzählen von dem Schicksal einer jungen Frau, das sich durch das ganze Buch zieht.

Helena hat mit ihrem Freund ein Juweliergeschäft überfallen, er konnte fliehen, sie wurde auf der Flucht festgenommen. Aus großer Liebe verschweigt Helena dem Gericht bis zum Schluss den Mittäter. Sie kommt hinter Gittern. Was keiner ahnt, die junge Frau ist schwanger und bringt schon bald ein Mädchen zur Welt. An der Stelle schlägt der Stil des Buches um, wie es sonst nur ein Sommergewitter vermag. Nur ist hier vom Regen keine Spur, es wird zunehmend wärmer als würde die Sonne aus einem Tiefschlaf erwachen. Es kehrt Leben ein, was ich zu fassen bekomme und mich zusehends in eine Sprachlosigkeit schiebt. Das Ausmaß Helenas Verurteilung dringt immer mehr in den Vordergrund. Zunächst schreibt Helenas Mutter zahlreiche Briefe, erzählt von ihren Gedanken und von Angèle, Helenas Tochter, die bei ihr aufwächst. Helena hingegen hält weiterhin an ihrem Schweigen fest und treibt damit Mila in eine Verzweiflung. Selbst Jahre nach ihrer Inhaftierung bleibt Helena in der eigens geschafften Festung, öffnet keine Fenster. Das Leben der Mutter bleibt der Tochter auch nach deren Tod ein großes Rätsel. Durch Zufall stößt sie in der Wohnung auf einen Artikel und nimmt Kontakt mit dem Gerichtsreporter auf, der damals von dem Gerichtsprozess berichtet hatte. Allmählich kommt der Ball ins Rollen, Licht huscht durch das dunkle Leben, erste Spuren werden sichtbar.

„Kümmernisse“ vereinigt in getrennten Kapiteln die Briefe und Monologe aller Beteiligten, einzig Helena verharrt in ihrer Sprachlosigkeit und bleibt am Rande stehen. Sie erinnert an ein Labyrinth, aus dem kein klarer Weg hinaus führt. Judith Perrignon spart Anführungszeichen aus, damit schwimmt das Mündliche direkt ins Schriftliche. Unterschiedliche Lebensschicksale verbinden sich zu einer langen Schnur, die letztlich zu der großen Wahrheit führen. Mit schmerzhaft schönen Wörtern zeichnet die Französin Bilder, in denen das Ausmaß jener Tragödie sichtbar wird wie das Verlorensein der Tochter und die Kümmernisse, die auf den Schultern der Menschen so schwer sitzen, dass man Stahlarme braucht, um sie zu halten. Das Buch haucht eine Vielzahl an Themen aus: Liebe, Vergebung, Verzweiflung, Mutter-Tochter-Beziehung und die all umfassende Liebe. In dem Ganzen steht die Geschichte am Ende für sich allein. Anders ausgedrückt: Man muss das Buch gelesen haben, um sich vollkommen in der Geschichte aufzulösen. Fast jeder Satz bewegt und setzt in mir etwas in Bewegung, eine Flut an Gefühlen und Gedankenspiralen, bei denen ich berührt bin. „Kümmernisse“ ist ein dichtes Buch, in vielerlei Hinsicht, das mir wieder einmal vor Augen führt, wie sehr ich die französische Literatur schätze, für all das, was sie beim Lesen freisetzt.

Judith Perrignon.
Kümmernisse.
August 2011, 192 Seiten, 18,90 €.
Verlag Klaus Wagenbach.