Schlagwort-Archive: Junge Literatur

Echte Männer, Sattelschmerzen und eine verspätete Reise – junge Literatur aus Flandern und den Niederlanden.

mag_coverMein geschätzter tolino bekommt Konkurrenz. Von einem Produkt, das es vom Gewicht her durchaus mit ihm aufnehmen kann. Obendrein ist der bibliophile Lesefreund für unterwegs ein haptisch schönes Erlebnis. Der mairisch Verlag hat uns von seinem Ausflug nach Amsterdam DAS MAG, The Best Of mitgebracht. Das Magazin ist die jüngste Stimme in der niederländischen Gegenwartsliteratur, erscheint seit 2011 vierteljährlich und jetzt erstmals auf Deutsch.

Weiterlesen

Weise Worte über die Einsamkeit. Und noch viel mehr.

Benedict_Wells_Vom_Ende_der_Einsamkeit

Ich habe lange gewartet. Die Zeit dehnte sich endlos wie ein Kaugummi. Tage, Monate, Jahre. Verwelkte Blätter fielen von den Bäumen, raschelten unter den Füßen. Bald tanzten Schneeflocken durch die Luft und teilten sich den Platz mit meinen Atemwölkchen. Einige Monate später kamen Vögel aus dem Süden zurück, setzten sich zwitschernd auf unsere Bäume, die erst noch kahl waren, und bald schon in voller Blüte standen. Ein sich immer wiederholender Kreislauf. Das Buch ließ auf sich warten, aber dann war er endlich da: Der Moment, als ich Benedict Wells Roman in den Händen hielt. Der Titel »Vom Ende der Einsamkeit«, die ersten Sätze… – schon spürte ich die besondere Magie, die uns nur die Literatur schenken kann.

Weiterlesen

Mutterseelenallein.

fünf_kopeken

Fünf Kopeken von Sarah Stricker ist wie ein schiefes Haus, in das man gern hineinkriecht und aus dem man nicht wieder hinaus möchte, weil es so herrlich skurril darin ist. Für mich ist dieses Debüt eines der herausragendsten, das ich in diesem Bücherherbst bisher gelesen habe.

Weiterlesen

Wind von vorn.

greeneharbor

„Der Himmel über Greene Harbor“ von Nick Dybek brach wie eine große Welle über mich ein. War ich noch bis eben vollkommen überwältigt vom wunderschönen Cover, tauchte ich im nächsten Atemzug in den Roman, tiefer und tiefer. Plötzlich schwammen die Wörter wie Fische vor mir, Luftblasen stiegen nach oben und ich lächelte glücklich. Die Sätze waren so geschmeidig, unglaublich sanft und sehr verlockend. Sie umarmten mich, als wären wir schon immer beste Freunde gewesen.

Weiterlesen

Ein Buch im Bernstein.

ambra

Wenn das erste Buch erfolgreich war, hat es das zweite schwer. Sabrina Janesch musste sich dieser großen Herausforderung stellen. Würde sie mich mit „Ambra“ genauso begeistern können wie mit „Katzenberge“?

Zeit und Ruhe braucht man, wenn man sich diesem Buch öffnen möchte. Also nahm ich es an einem meiner freien Tag mit ins Bett, stellte eine Kanne Tee daneben, begann zu lesen. Und der Roman ließ mich nicht los. Aus ihm strömte etwas Geheimnisvolles, ein geradezu hypnotischer Lockstoff.

Sabrina Janesch rollt die Geschichte von hinten auf. So stehe ich zunächst mit der Ich-Erzählerin Kinga Mischa in der Küche und erfahre, dass sie von Bronka eingeschlossen worden ist. Weil sie die Wahrheit kennt, wohin Bronkas Sohn verschwunden ist. Erzählen soll Kinga, erzählen. Das kann sie nicht. Dann soll sie es schreiben, sagt Bronka, und legt Kinga zwei Hefte und einen Stift hin. In Kinga brodelt es: „Wenn ich die Wahrheit sagen soll, wird es länger dauern, als Bronka sich vorstellen kann, ich werde sie etwas hinhalten müssen, um Zeit zu gewinnen, ich muss mich richtig erinnern, an jedes Detail des vergangenen Jahres, mich erinnern an alles, was ich sah, was ich hörte und was ich, sagen wir: bemerkte, und worum es sich auch immer handelt, ich werde es einfügen, der Vollständigkeit halber.“ Nach dieser Stelle rutsche ich weiter in das Geschehen. Vorher hält sie Bronka noch den Bernstein vor die Augen, mit dem so viel zusammenhängt. Ambra ist ein altes Wort für Bernstein und als Leserin schiebt sich mir eine Ahnung vor die Augen, die mit jeder Seite näher an mich herankommt.

Der Roman teilt sich in verschiedene Erzählstränge. So ist es nicht immer Kinga, die erzählt. Eine objektive Stimme schiebt sich dazwischen wie die Vergangenheit und damit verbunden Kingas Familiengeschichte. Kinga hat von ihrem verstorbenen Vater eine Wohnung in Danzig geerbt. Der Name der Stadt fällt nicht, aber man spürt schnell, dass die Stadt als Schauplatz dient. Dorthin begibt sich die junge Frau und stößt auf einen Teil der Familie, den sie bis dahin nicht kannte. Sie wird von ihrem Cousin Bartosz, der Tante Bronka und dem Onkel Brunon nicht mit offenen Armen empfangen, denn sie fürchten um die zusätzliche Einnahmequelle, die ihnen die Wohnung bietet. Obendrein hat Kinga noch den Bernstein bei sich, ein Familienbesitz, um den sich viele Geschichten ranken. Die sind es auch, die Sabrina Janesch entfaltet. Nicht auf einmal, sondern mit Bedacht und mit einem geheimnisvollen Flunkern. Die junge Autorin schafft es meisterhaft, eine mystische Stimmung zu kreieren, so dass ich am eigenen Fenster hinter jedem Regentropfen etwas Verstecktes vermute. Sabrina Janesch ist einer Fee ähnlich, die mich zunehmend verzaubert, und in ihren Bann zieht. Da kann ich auch die anfänglichen Hindernisse wie die unzähligen fremden verwirrenden Vornamen, die alle mit B beginnen, ausblenden. Die Autorin entführt mich nicht nur in eine aufreibende Familiengeschichte, sondern auch in einen magischen Salon, wo Menschen mit kosmischen Begabungen auf der Bühne stehen, die jede greifbare Norm ausblenden.

Ein weiteres Stilelement sind die kursiven Einschübe, die sich plötzlich in das Geschriebene drängen. Anfangs verwirren diese Fremdkörper, später sind sie ein fester Bestandteil in dem Buch. Sabrina Janesch nutzt diese Form, um den Lesern u.a. Einblicke in Bartosz’ Gedankenwelt zu geben, eine bleischwere Welt. Er war als Soldat im Irak und trägt Wunden in der Seele, die in den aufblitzenden Momenten ans Licht kommen, indem er seine Erfahrungen rekapituliert. Diese Szenen gehen an die Substanz und sind äußerst beklemmend. Über diese Erzählebene tauche ich auch in Renias Leben, eine weitere wichtige Person in diesem Ensemble.

Sabrina Janesch gelingt mit ihrem Roman ein wunderbares Porträt über Danzig. Sie spürt Stimmungen auf, legt Bilder und Sinneseindrücke in ihre Sätze, dass man sich direkt dort wiederfindet. Feinfühlig schreibt sie über die polnische Stadt am Meer, in der sie selbst für ein halbes Jahr als Stadtschreiberin zu Gast war. Sie versteht es, Geschichte lesbar und fühlbar darzustellen, sei es die der Stadt oder die der Familie. Beides macht Freude und ist unwahrscheinlich bereichernd.

Die junge Autorin hat eine besondere Gabe. Ihr gelingt es, eine anziehende Atmosphäre heraufzubeschwören, die an Nebel verhangende Täler erinnert. Ein Bild, das ich bereits in ihrem Debüt „Katzenberge“ vor mir sah. Sie liebt das Verborgene und legt dies mit aller Kraft in ihre Sprache. So verwundert es mich nicht, dass ich plötzlich das Buch in einem Bernstein liegen sehe. Dort ist es gefangen und wartet auf unsere Befreiung. Ein flüchtiges Aufkratzen allein reicht nicht aus, man braucht Geduld und Zeit für dieses Vorhaben. Vieles ist in „Ambra“ versteckt und verschachtelt, dass es besonderer Konzentration bedarf, um zum Kern durchzudringen. Das störte mich keineswegs, als ich in meinem eingeschlossenen Lesereich lag, jenseits von Lärm und anderen ablenkenden Faktoren. Dennoch fehlte mir bis zum Schluss eine Komponente, die dem Buch eine goldene Krone aufsetzen konnte. War es diese seltsame Protagonistin, mit der ich nicht warm wurde? Selbst heute noch beschäftigt mich die Frage: Was war anders als bei „Katzenberge“? Ich weiß es nicht. Parallelen zum Erstling gab es einige: Neben der wunderbaren Atmosphäre und dem geschichtlichen Hintergrund, steht erneut eine junge suchende Frau im Mittelpunkt. Vielleicht schenkt mir die vielversprechende Autorin die Antwort mit ihrem nächsten Roman. Auf den freue ich mich schon jetzt. Denn eins ist gewiss: Sabrina Janesch hat großes Talent. Und verdient für dieses Buch eine silberne Krone.

Sabrina Janesch.
Ambra.
August 2012, 372 Seiten, 22,99 €.
Aufbau-Verlag.

Wenn ihr die Autorin näher kennenlernen wollt, möchte ich euch ihre Homepage ans Herz legen. Außerdem kam sie bereits bei Mara von buzzaldrins Bücher in einem Interview zu Wort und bei mir hier.

Eiszeit in New York.

was_verborgen

Dieser Roman schmeckt nach kaltem Abschied. So kalt, dass ich meinen Mantelkragen hochschlagen möchte. Die Wärme hat sich zwischen der Decke und dem Bett verzogen. Auf und davon. Ich verwandle mich wie die Ich-Erzählerin in eine fröstelnde Gestalt, die entsetzt vor diesem Drama steht, sprachlos, machtlos und unendlich traurig.

„Was verborgen bleibt“ von Britta Boerdner ist ein eindrucksvolles Debüt, das zutiefst bewegt und direkt in die Herzkammern kriecht. Die Autorin erzählt von einem der schlimmsten Dinge dieser Welt: vom Zerfall der Liebe. Wenn glühende Hoffnungen zu Asche werden. Wenn sich zwei Liebende plötzlich wie Fremde gegenüberstehen. Wenn zwei Herzen nicht mehr das gleiche Lied singen – dann fühlt es sich so an wie in diesem Roman.

Die Ich-Erzählerin besucht nach sieben Monaten ihren Freund Gregor in New York. „Wer es zuerst schafft, zieht den anderen nach.“ Dieses Versprechen haben sich beide einst gegeben, ein Liebesschwur der besonderen Art. Gregor gewann eine Greencard und hat in New York einen Job gefunden. Nun ist sie da und alles ist anders, ganz anders. Statt sich mit vollem Enthusiasmus auf die Jobsuche zu begeben – immerhin will sie die drei Wochen nutzen, um ihr Leben in New York auszurichten – verfällt die Romanheldin in eine Art Dämmerzustand. Die junge Frau lässt sich treiben und gibt zunächst dem Jetlag die Schuld für die tauben Gefühle der Stadt gegenüber. Gregor macht es ihr da nicht leichter: Er hält sich distanziert, macht viele Überstunden und hat kaum Zeit für seine Freundin. Noch etwas fehlt, etwas sehr Wichtiges: liebevolle, vertraute Momente der Innigkeit. Dafür gibt es ein Geheimnis auf vier Beinen, die Katze aus dem Schacht, die die Ich-Erzählerin entdeckt wie das abgepackte Fleisch im Kühlschrank.

Die junge Frau legt sich in die Arme der Lethargie, schleicht durch die freien Tage, streift durch New Yorks Straßen und lässt die Liebesgeschichte noch einmal vor ihrem inneren Auge vorüberziehen. Sie erinnert sich an die erste magische Begegnung: „Von Anfang an waren wir einander vollkommen zugewandt und schlossen damit die anderen aus, schon nach der ersten Nacht bezogen wir uns nur auf uns selbst, bald zählten wir diejenigen auf, die wir nicht mehr brauchten, unsere Welt war komplett, sie war die reichste, die wir kannten.“ Die Erzählerin taucht in die leidenschaftlichen Anfänge zweier einsamer Herzen mit ähnlicher Kindheit, die endlich zusammengefunden hatten und sich später nach einer gemeinsamen Reise dieses große Versprechen gaben. Doch jetzt ist alles anders. Was macht man, wenn einem das Leben einen Strich durch Liebe zieht?

Britta Boerdner schickt ihre Protagonistin durch New York und fängt das winterlich trübe, kalte Flair ein. Ein Gefühl des Verlorenseins macht sich in den Spaziergängen bemerkbar: „Der Wind ist zurückgekehrt, er weht vom East River herüber und bringt einen dunklen Geruch nach Wasser mit sich. Es ist kurz nach zwei Uhr, der Nachmittag fängt erst an, und ich habe nur bis zum Mittag gedacht, nur bis zum Lunch mit Gregor. Ich schimpfe mich aus, beschließe, einen Plan zu machen für jeden Tag, ich muss meine dunklen Gedanken in den Griff bekommen, will ja die Stadt erobern, deshalb bin ich hier.“ Obwohl die ewige sehnsuchtsvolle Stadt eine große Rolle in der Geschichte spielt, taucht der Leser vor allem ins Innenleben einer jungen Frau. Genau darin liegt für mich die Kraft dieses Debüts. Die Innenansicht, die den dünnen Roman so gewaltig füllt und zum Kochen bringt. Britta Boerdner erzählt pointiert und feinfühlig von einer jungen Frau, die sich den Scherben der eigenen Liebe immer mehr bewusst wird und erkennt, wie sich eine Entfernung zwischen beide Liebende geschoben hat: „Es macht keinen Sinn, ihn aufhalten zu wollen. Es macht keinen Sinn, die Zeit durch Worte zu dehnen.“ Gregor ist ein Anderer geworden ist. Er ist jetzt jemand, der die Geschwindigkeit liebt. Und sie schafft es nicht, ihm zu folgen.

Ich ertappe mich dabei, wie ich öfter einfach nur schreien möchte. Zu stark sind die Emotionen, die von der Autorin aufgeweckt werden. Die schmerzvollen Fragen nach dem Warum, die sich zurückziehende Wärme, die zusehends verschwindet, die Kälte, die sich ausbreitet und Atemwölkchen ausatmet. Das passiert nicht einfach so, sondern in einem Wortfluss, den dieser beeindruckende Roman erzählt. Atmosphärisch dicht, spannend und mitziehend. Die Autorin überspringt jede Lücke, füllt sie mit Metaphern, Beobachtungen und Gedankenbildern aus, ohne dabei überladen zu wirken. Britta Boerdner findet für jede Situation, jedes Gefühl und jeden Gedanken die richtige Umschreibung, selbst wenn es weh tut: „Es ist, als spielten wir heiß und kalt mit den Gefühlen, wo die Katze ist, ist es heiß, wo ich bin, ist es kalt.“ So unendlich traurig die Geschichte auch ist, so kraftvoll trat sie in meine Augen. Britta Boerdner hat mir ein intensives, melancholisches und nachdenkliches Leseerlebnis geschenkt, das ich so schnell nicht vergessen werde.

Britta Boerdner.
Was verborgen bleibt.
September 2012, 160 Seiten, 18,90 €.
Frankfurter Verlagsanstalt.

Ein interessantes Interview mit der Autorin sowie eine lesenswerte Rezension findet ihr auch bei buzzaldrins Bücher.

Das verlorene Götterkind.

pflaume

Ich bin eine Regenbogenfrau, die dem grauen Alltag die Zunge herausstreckt und im Farbrausch tanzt. Vergessen ist das nasskalte Winterwetter. Vergessen ist der Zorn der Tage. Wie das? Ganz einfach: Fee Katrin Kanzler hat mich mit ihrem Debüt „Die Schüchternheit der Pflaume“ vollends verzaubert. Ihre Sätze sind weich wie feinster Kaschmir und wunderschön. Der Roman gleicht einer Oase, die der Hektik den Riegel vorschiebt und mich in ein leuchtendes Vakuum einschließt.

Fast könnte man den Roman als ein langes nicht enden wollendes Gedicht sehen, so poetisch reiht sich Satz an Satz, so stark und einnehmend ist die Sprache, die sich göttlich über die Geschichte erhebt. Die junge Autorin erzählt von einem Mädchen, das suchend umherschwebt. Der Wind trägt die Erzählerin durch die Welt, über die Straßen einer Großstadt, durch Clubs, in denen sie sich glücklich tanzt, er setzt sie im Scheinwerferlicht auf die Bühne, auf der sie sich ihrer Musik hingibt und ihre warme Mitte findet. Musik ist ihr Lebenselixier: „Zu schildern, wie ich Musik höre, ist nicht so einfach. Sie treibt Strukturen durch den Raum, Netze und fließende Bänder, Blasen und Wellen, hochschießende Zapfen und Speere. Ich sehe sie. Es sind Strukturen, denen mein Körper folgt, wenn ich tanze. Ich fühle sie. Musik ist eine greifbare Welt für mich, eine Landeschaft hinter den Dingen, in ihr gehen Sinne ineinander über, ein synästhetisches Wunderland. Hätte ich nicht als Kind gelernt, dass Klänge ohne Geruch und Geschmack sind, hätte ich keine Scheu, sie mit Worten wie zitronig, fade oder süß zu bezeichnen.“

Schon auf den ersten Seiten spüre ich die zarte Seele aus ihrem Wesen nach draußen steigen. Ich fange sie auf und stecke sie in meine Tasche. Meine Beschützerinstinkte erheben sich automatisch von den Stühlen und wollen das Mädchen festhalten. Eins steht fest: Das Mädchen hat mich von Anfang an auf seine Seite gezogen. Ich kann nicht aufhören, den elfengleichen Beschreibungen zu lauschen, die sie in den Raum ausatmet, ein Flüstern reiht sich an ein Wispern, es folgt ein Streicheln auf der Wange und eine Liebkosung der Sprache.

Es scheint, als hätte der Himmel die Romanheldin ausgespuckt und sie auf die Erde fallen lassen, auf der sie nun versucht, durchzukommen. Die Götter wollten sie nicht mehr, so scheint es, ja, der Gedanke ist nicht ganz abwegig. Sie spricht selbst von ihnen und das nicht im Guten. Seit den Jugendtagen kämpft sie mit ihnen. „Mit dreizehn glaubte ich, den Göttern zu gehören. Fühlte ihre bitterscharfen, stahlblanken Krallen. Hörte ihr unterkühltes Gelächter und glaubte, niemals einem Mann gehören zu können, weil mich bereits die Götter besaßen.“ Die Götter wissen alles von ihr, glaubt sie, mehr als sie selbst. Die Erzählerin hängt oft in der Schwebe wie eine Seiltänzerin, die aus dem Takt gekommen ist, zwischen oben und unten baumelnd, unschlüssig, wohin sie nun schweben soll. Sie möchte ihre eigene Geschichte greifen, doch die entgleitet ihr zwischen den Fingern, wie ein nasser Fisch, der wieder zurück in den See will.

Da steht die namenlose Ich-Erzählerin also und blickt der Welt ins Gesicht. Mal strahlend, mal ängstlich, mal fragend. Und immer dabei, ihr unschlüssiges Herz, das sich nicht entscheiden kann, welchen Mann sie nun nehmen soll. Das liebenswerte Ding, das alle Sonderlinge magnetisch anzieht. Ja, die Erzählerin selbst ist sonderbar, verrückt und ein „Mondsuchtfräulein“, das schlafwandelt, und sich furchtbar gern hinter ihrer „Goldkäferbrille“ versteckt. Besonders nach Nächten, in denen sie wenig Schlaf bekommen hat oder an Tagen, an denen ihr das Leben abhandenkommt und sie sich verkriechen möchte, weil die inneren Erdbeben zu stark sind. Während ich das hier schreibe, streift mich die Erkenntnis, dass man sie liebt oder nicht. Wie diesen Roman. Entweder ganz oder gar nicht.

Fee Katrin Kanzler schafft großartige Wortkreationen und malt unglaubliche, betörende Bilder, verzauberte, melancholische und verträumte. Sie spielt mit der Sprache, verwandelt alltägliche Wörter in wundersame Geschöpfe. Sprachlich gesehen, ist der Roman eine wertvolle, bereichernde Schatztruhe. Ich grabe und verliere mich in zahlreichen Formulierungen, stoße auf Worte, die ich mir an die Wand malen möchte.

Dieser Roman löst die Erdanziehungskraft auf und lässt mich schweben. Ich entgleite dem Stress, dem lauten Getöse vor der Haustür. Es gibt keine harten Kurven, keine Explosionen, stattdessen nur einen zarten Faden, der sich verspielt und liebevoll um die Augen schmiegt. Alles Graue verschwindet und verwandelt sich in ein buntes Meer aus Farben. Rot, grün, blau, violett, rosa, gelb. Sie tanzen und ziehen mich alle mit. Der Roman gewinnt nicht durch die Geschichte, dafür ist sie zu klein, eine zurückhaltende Melodie, die sich bei mir dennoch großes Gehör verschafft. Es bleibt angenehm ruhig und still. Trotzdem finde ich auf den Seiten wohltuendes Leseglück und vollkommenen Seelenfrieden. Vielleicht weil ich für die kleinen besonderen Dinge des Lebens empfindsam bin und mich ein Buch auch durch eine schöne Sprache begeistern kann. Wer ereignisreiche Szenen und eine krachende Portion Aktion sucht, der wird hier nicht fündig. Doch wer sich in poetischen Bildern verlieren und sich dem Summen von wundervoll komponierten Sätzen hingeben kann, der wird am Ende das Buch mit einem glücklichen Seufzer zuschlagen und aussehen wie eine Regenbogenfrau. Versprochen!

Fee Katrin Kanzler.
Die Schüchternheit der Pflaume.
September 2012, 320 Seiten, 19,90 €.
Frankfurter Verlagsanstalt.

Mit dem Roman ist an dieser Stelle Schluss, doch mit der Autorin geht es am kommenden Mittwoch in einem Interview weiter.

Back to the roots.

Du kannst der Geschichte deiner Vorfahren nicht entkommen. Sie ist der Schatten, der dir all die Jahre folgt, eine Hand, die auf deiner Schulter liegt. Manchmal wütet sie wie ein Orkan, weil zu viele unentdeckte Flächen die klare Sicht verbergen und Gräser wie Giraffen aus der Ebene hervorragen.

Genauso ergeht es Luisa, der Ich-Erzählerin in „Suna“, deren Familiengeschichte bis jetzt im Dunkeln lag. Nun ist ihr zweites Kind da, findet nicht zur Ruhe und will nicht schlafen. Luisa ist verzweifelt und sucht den weisen Dorfarzt auf, der es auf den Punkt bringt: »„Sie kann keine Wurzeln schlagen“, sagte er bedächtig. „Finden Sie Ihre.“« Damit rollt Pia Ziefle ihren Roman aus, den ich aufgesogen habe wie es sonst nur das Löschpapier mit der Tinte vermag.

Die Ich-Erzählerin berichtet ihrer Tochter zunächst von zwei türkischen Brüdern, „einem Ziegenhirten und einem Dichter.“ Sie sind der Ausgangspunkt der Geschichte, bei der die Quelle anfängt zu fließen. Diese Anfangsszene ist voller Zärtlichkeit, dass ich immer wieder lächelnd mit meinen Fingern darüber fahre, als wäre es ein schönes Bild. Sie ist nur eine von vielen, in denen ich ein warmes Tuch um meinem Bauch spüre.

Als der kleine sechsjährige Kamil am Jackenärmel seines Bruders zieht und sagt: „Nimm mich mit!“, will Doğan ihn abschütteln und nach Hause schicken, doch Kemil ist hartnäckig und kann so Doğans Herz erweichen. Zusammen gehen sie zu den Ziegen, später sollten sie ihr Land verlassen, im Rücken die Heimat und vorn im Blick ein fremdes anderes Land, das Hoffnung auf ein besseres Leben verspricht. Für einige Zeit befinde ich mich bei den beiden Brüdern, bis ich im neuen Kapitel Luisa lausche, die ihrer Tochter zärtliche Worte ins Ohr haucht. Das sind für mich die Momente einer tiefen Liebe, besondere Minuten der Innigkeit. Wie erschöpft die Mutter vom wenigen Schlaf auch ist, sie schafft es trotzdem mit einer Engelsgeduld ihre Tochter durch die Nacht zu tragen und ihre gemeinsame Geschichte zu erzählen. Diese Sätze umarmen mich und tauchen mich in ein Bad der Ruhe und Geborgenheit.

Es folgen noch viele andere Namen, die wie Fäden vor meinen Augen auftauchen, mich manchmal verunsichern, so dass ich mich leicht wacklig fühle. Einmal frage ich laut: „Wo geht die Reise hin? Was haben all die Menschen zu bedeuten?“ Ich horche und höre nichts, also lese ich weiter in dieser aufregenden Familiengeschichte, die viele verschlungene Wurzeln hat. Sie beginnen in der Türkei, führen nach Serbien und landen schließlich in Deutschland, wo sie sich alle treffen und wie von einer Hand aufgenommen werden. Das Schicksal strickt einen Pullover, der am Ende aussieht wie ein bunter Regenbogen.

Dieses Debüt ist unglaublich! Es begeistert mich und bleibt unvergesslich. Pia Ziefle hat eine Familiengeschichte geschrieben, bei der sie jedes Wurzelteilchen exakt betrachtet und auf mitreißende Weise erzählt. Da ist zum Beispiel Julka, die eines Tages aus ihrem serbischen Dorf aufbricht, nachdem ihr eine deutsche Dame beim Arbeitsamt berichtet hatte, dass sie für zwei Jahre in Deutschland arbeiten könnte. Oder Johannes, der stille Außenseiter, der in der Welt der Kartographie sein Glück findet, obwohl sich seine Mutter etwas anderes für ihn gewünscht hatte. Um sie herum wimmelt es wieder von anderen Menschen, das Rad dreht sich weiter und ich sitze als Zuschauerin mittendrin, spüre diese Wärme, die vom Erzählten ausgeht und die Intensivität, die mich berührt und aus meiner Welt reißt. Vollkommen gefangen bleibe ich in dem Buch und möchte nicht wieder auftauchen. Ich lausche Luisas eigener Geschichte, die sie teilweise sehr zerrieben hat. An ihr zeigt uns Pia Ziefle wie es sich anfühlen kann, ein zweigeteilter Mensch zu sein. Wenn die Vergangenheit sich plötzlich über die Gegenwart rollt und einen anderen Ton erzeugt, als den, den man bis dahin als den richtigen hielt.

Mit der Liebe fing alles an und sie führt die junge Frau dorthin, wo sie wieder die Ruhe in sich spüren kann. Besser als Pia Ziefle kann ich es nicht sagen: „Ich habe nach meinen Wurzeln gesucht, nach meinen und nach deinen, mein Kind, denn ohne Wurzeln kann das Herz nicht wachsen.“

Suna.
Pia Ziefle.
Februar 2012, 304 Seiten, 18,- €.
Ullstein Verlag.

P.S. Mara von buzzaldrins Bücher war von dem Buch genauso begeistert und hat mich erst mit darauf aufmerksam gemacht. Auf diesem Wege ein ganz persönliches Dankeschön an dich! Sie hat eine schöne Rezension geschrieben und Pia Ziefle interviewt. Wer mag, kann das Interview hier nachlesen. Bibliophilin hat ebenfalls wunderbare Worte zu diesem beeindruckenden Buch gefunden. Ihre Rezension findet ihr hier.

Über die Autorin:
Pia Ziefle wurde 1974 geboren. Sie ist als freie Autorin und Bloggerin tätig. Ihre Beiträge erschienen u.a. im „Tagesspiegel“, in der „Berliner Zeitung“ und in der „Frankfurter Rundschau“. Sie lebt mit ihrer Familie bei Tübingen. „Suna“ ist ihr erster Roman. Ich empfehle euch an dieser Stelle ihren lesenswerten Blog „Denkding„.