Fürchte dich nicht, Franz!

Autor: Franz Kafka, 1914 vor dem „Oppelthaus“|Foto: © Archiv S. Fischer Verlag.

Am 3. Juni 1924 ging die Sonne spät unter, das Meer des Stumpfsinns gefror endgültig. Der Tag, an dem Franz Kafka starb. Und der Mythos lebendig wurde.

Hundert Jahre her, und die großen Kafka-Festspiele haben bereits begonnen. Legionen von Lektoren und Literaten haben sich in Stellung gebracht und feuern aus allen Federn. Kommt und seht! Das Vermarktungs-Varieté wartet mit einem Programm auf, das einem Spektakel gleichkommt.

Sämtliche Scheinwerfer leuchten in schillernden Farben, Bühne frei für die allerneuesten Neuausgaben seiner Werke! Mit schreiend psychedelischen Covern, deren verzerrte Schrift offensichtlich all den Schmerz von Kafkas beladener Existenz und der seiner Protagonisten popmodern transportieren soll. Kafka goes Edvard Munch.

Wir zählen obendrein unzählige Teil- und Gesamtausgaben von nahezu jedem Wort, das dieser talentierte Mann jemals geschrieben hat. Und vergessen dabei nicht die in Zeiten der Bilderflut bereits obligatorische Graphic Novel.

Alexander Pavlenko und Thomas Dahms: Verwandelt, Knesebeck Verlag.

Ausgeleuchtet und ausgebeutet

Tausend und abertausende von Briefen sind erhalten und öffentlich zugängig. Jeder Millimeter seines Lebens wurde ausgeleuchtet und, ja, ausgebeutet. Myriaden von Literaturwissenschaftlern haben sich an seinem Werk sattstudiert. Es gibt eine Dissertation, die sich ausschließlich mit den Bewegungsabläufen von Kafkas Figuren beschäftigt, und diese als somatologische Poetologie definiert. Körperpoesie. Alles Theorie, oder was?

Kann auch zum Selbstzweck verkommen. Wird sie der unvergleichlichen Poesie von Kafka gerecht? Für den normalsterblichen Leser kaum. Kommt schon gar nicht zu einer klaren Deutung. Wie auch.

Selbst Bilder in opulenten Bänden sollen sprechen. Auf den Spuren von Kafkas Kosmos. Wie der auch immer aussehen mag. Sternhagelvoll auch die Liste an Sekundärliteratur und kommentierten Ausgaben. Mit mehr Anmerkungen und Verweisen als Text. Zum Studieren gedacht, nicht zum Lesen. Zuletzt wurden seine Zeichnungen groß beworben. Schaut, er konnte auch das! Sogar von Sensation war die Rede. Darunter geht es nicht mehr. Zugegeben, ein nettes, kleines Nebenprodukt seiner Briefe und Schriften mit bisweilen treffender Darstellung seiner verlorenen und erschöpften Figuren. Allerdings auch schon länger bekannt. Kafka war kein Maler.

Die Herrlichkeit als Komödie

Als Kirsche auf diesem fetten Haufen des großen Absahnens kam noch ein Film mit dem Titel „Die Herrlichkeit des Lebens“ über die letzten Monate des Schriftstellers in die Kinos: „Eine gekonnte Balance zwischen Melodram und romantischer Komödie.“

Herrlichkeit des Lebens? Romantische Komödie? Kafka?! Da können wir von Glück reden, wenn uns das Fernsehen nicht noch mit einem Mehrteiler foltert, in dem Heike Makatsch eine seiner Verlobten spielt. Hoppla, schon ist die ARD zur Stelle mit einer Dokumentation, in der sein Hund spricht. Im Ernst. Ist der arme Franz einfach nur auf den Hund gekommen oder lassen sie ihn gleich vor die Hunde gehen?

Das Zitat zur Herrlichkeit lautet übrigens vollständig: „Es ist sehr gut denkbar, dass die Herrlichkeit des Lebens um jeden und immer in ihrer ganzen Fülle bereit liegt, aber verhängt, in der Tiefe, unsichtbar, sehr weit.“ Wenn wir uns dazu das Bild aus dem Film anschauen, auf dem Kafka und seine Verlobte Hand in Hand gelöst und lachend wie in der Margarinewerbung am Strand spazieren, dann ist genau das sehr, sehr weit von der Tiefe entfernt, die Kafkas Werk auszeichnet. Weichzeichner statt Tiefenschärfe.

Tatsächlich zeigen sie noch eine Serie mit innovativer Bildsprache. Obacht, Franz – da spricht das Marketing. Was hälste davon? Wir vernehmen rotierende Bewegungen in seinem Grab. Gut, wir wollen nicht undankbar sein, verwöhnt uns Das Erste sonst zu dieser Zeit mit Leckerbissen wie In aller Freundschaft. Da glühen wir – in aller Freundschaft zu den Öffis – schon vor Freude, wenn wir Franz beim Leiden zuschauen dürfen.

Leiden in Serie

Kommt nicht so schlimm, wie nach dem Trailer befürchtet. Schließlich hat der weltberühmte Daniel Kehlmann das Drehbuch geschrieben. Zeitweilig fühlt man sich zwar wie in Babylon Berlin, was einigen Schauspielern geschuldet ist, die wir bereits aus der Kutscher-Serie kennen. Viel beschäftigt, die erste Garde des deutschen Fernsehens. Dennoch – sie machen ihre Sache gut, als Zuschauer bleibste dran, nimmst die etwas bemühte Inszenierung hin, die unbedingt den phantastischen und unheilvollen Stimmungen in Kafkas literarischem Werk nachspüren möchte.

Dennoch ist die Serie sehenswert für alle, die sich Kafkas Werk erst einmal behutsam nähern möchten. Wer seine Schriften kennt, fühlt sich immerhin gut unterhalten. Mehr nicht. Das war bei Die Manns – ein Jahrhundertroman anders, diesem fabelhaften Dreiteiler von Heinrich Breloer. Aber das war ein unaufgeregtes Dokudrama, dreiundzwanzig Jahre her. Seitdem hat sich die Art des Medienkonsums von Slow-Motion auf High-Speed einmal komplett gedreht.

So sei die Frage gestattet: Was würde der vergeistigte wie verzweifelte, eher zur Schüchternheit neigende Kafka, der ja all das verhindern wollte mit seiner Verfügung, sämtliche Schriften nach seinem Tod zu verbrennen, wohl zu diesem Feuerwerk sagen, das zu seinen Ehren abgebrannt wird? Welches wir in erster Linie Max Brod zu verdanken haben, dem besten Freund. Genau diesen Umstand nennt Brod in einem Interview als Grund für sein Handeln. In der TV-Serie hartnäckig befragt von einem aggressiven Jens-Spahn-Lookalike.

Die Widersprüchlichkeit eines Ausnahmeliteraten

Erstmal war dieser Ausnahmeliterat selbst nicht von der Hybris besessen, ein multitalentierter Künstler zu sein. Noch nicht einmal war er sich zunächst klar, überhaupt eindeutig nur Schriftsteller sein zu wollen. In einem Brief an Felice Bauer formulierte er es so: „Ich habe kein litterarisches Interesse sondern bestehe aus Litteratur, ich bin nichts anderes und kann nichts anderes sein.“

In diesen Worten liegt die ganze Widersprüchlichkeit seiner Person und seines Werkes. Dies schreibt ein junger Mann, der über vierzehn Jahre festangestellter Mitarbeiter einer Versicherung war. Gut, er sagte Brotberuf dazu. Gleichzeitig führte er diese Arbeit äußerst gewissenhaft aus, machte oft Verbesserungsvorschläge und wurde von seinem Arbeitgeber als unersetzliche Fachkraft vor dem Einsatz im Ersten Weltkrieg bewahrt.

Er hätte sich auch nach der Studienzeit ohne Weiteres der Prager Bohème anschließen und das Leben eines Künstlers führen können. Ja, Kafka liebte die innere Freiheit über alles, aber er suchte stets auch die Sicherheit, entweder die der Familie oder der Arbeit. Mehr noch: Obwohl ihn beides belastete, hielt er an diesen Konstanten in seinem Leben sehr, sehr lange fest.

Berührend die Worte des damaligen Lektors von S. Fischer in Berlin, Rudolf Kayser: „Die Nachricht von seinem Tode ruft in mir zunächst das Bild unserer letzten (…) Begegnung wach. Es war im vergangenen Winter und in einem Berliner Vorort, wo er einsam lebte, unter dem Schicksal seiner Krankheit … (…) Von sich sprach er kaum, nur unter Zwang von seinen Arbeiten und der Not seines Lebens. (…) Kafka stellte keine Ansprüche. Er sprach und schrieb das, was er war, ohne Ehrgeize der Form und des Erfolges.“

So konnte er nicht ahnen, welche Wucht sein Werk nach seinem Tod entwickeln würde und wollte es auch nicht, weil ihm die Literatur nur etwas für sein eigenes Seelenleben bedeutete.

Der beste Freund

Ein Zitat von ihm spricht Bände: „Von allem, was ich geschrieben habe, gelten nur die Bücher: Urteil, Heizer, Verwandlung, Strafkolonie, Landarzt und die Erzählung: Hungerkünstler. (Die paar Exemplare der ‚Betrachtung‘ mögen bleiben, ich will niemandem die Mühe des Einstampfens machen, aber neu gedruckt darf nichts daraus werden.) Wenn ich sage, daß jene 5 Bücher und die Erzählung gelten, so meine ich damit nicht, daß ich den Wunsch habe, sie mögen neu gedruckt und künftigen Zeiten überliefert werden, im Gegenteil, sollten sie ganz verloren gehn, entspricht dieses meinem eigentlichen Wunsch. Nur hindere ich, da sie schon einmal da sind, niemanden daran, sie zu erhalten, wenn er dazu Lust hat.“

Halten wir fest: Kafka schrieb in erster Linie für sich selbst, ein möglicher Erfolg war ihm egal, wahrscheinlich sogar zuwider. Da darf man fragen: Hat Max Brod nun der Nachwelt einen gigantischen Gefallen getan, indem er die Manuskripte nicht vernichtete? War er gar von sich als Retter eines einzigartigen Werkes derartig überzeugt, dass er die Weisung seines Freundes ignorierte?

Klar, nahezu die ganze Welt ist sich einig, dass Brod richtig entschieden hat. Dennoch möchte ich zu bedenken geben, dass die vor Kafkas Tod veröffentlichten Werke eigentlich alles von dem enthalten, was den Kern seines Schaffens ausmacht: Die Ohnmacht des Einzelnen gegenüber der Gesellschaft und ihren Institutionen, die Verlorenheit sensibler Seelen in einer Welt voller sozialer Zwänge und das Ausgeliefertsein gegenüber bedrohlichen Mächten. Nicht zuletzt das Gefühl der Fremdheit und Unfreiheit in zwischenmenschlichen Beziehungen.

Auslöschung des eigenen Ichs

Es genügt, Die Verwandlung noch einmal zu lesen. Bei seiner Veröffentlichung kaum beachtet, bietet diese gar nicht mal so kurze Erzählung eine komplette Darstellung von Kafkas Innenleben, seiner Furcht vor Ausgrenzung und Ablehnung, die höchst ambivalente Beziehung zum Vater und zu Autoritäten. Ebenso eine Prise abgründigen Humors, die sich in fast allen seinen Schriften findet. Über allem steht der Wunsch nach Auslöschung des eigenen, geschundenen und missachteten Ichs.

Selbst, wenn diese Auslöschung durch eigene Passivität erfolgt. Auch das ein zentrales Thema bei Kafka. Auflehnung oder Protest waren seiner Persönlichkeit ebenso fremd wie seinen Protagonisten. „Es ist unmöglich, sich zu verteidigen, wenn nicht guter Wille da ist.“ So zu lesen in Amerika, diesem unvollendeten Werk, dessen Grundzüge ebenfalls schon in Der Heizer zu finden sind. Die Bösartigkeit der Welt verhindert eine engagierte Verteidigung, weil diese schlichtweg aussichtslos ist und zu viel Kraft kostet.

Zudem gibt es Stimmen, die meinen, dass Kafka auf der Kurzstrecke besser war als auf der Langstrecke. Ganz ehrlich: Wer hat Das Schloß von Anfang bis Ende gelesen? Und – das von Brod so titulierte – Romanfragment Amerika zerfasert nach etwa zweihundert Seiten doch sehr. Kafka soll gegenüber Brod betont haben, dass dieses Werk hoffnungsfreudiger und lichter sei, als all seine Schriften zuvor. Es ist nicht ungewöhnlich, dass Literaten nach intensiver Aufarbeitung aller Schrecken – und in solch einer Phase steckte Kafka, als er dieses Fragment schrieb – zu einer gewissen Versöhnlichkeit mit der ansonsten als garstig und bedrohlich empfundenen Welt neigen. Aber ein Happy End inklusive Versöhnung mit den Eltern? Das hat uns Kafka wenigstens erspart.

Also, da haben wir nun den Nachlass. Kafka teilt dieses Schicksal ja mit anderen Literaten wie Bolaño und Marquez. Allesamt können sie sich nicht mehr wehren. Und wir? Lasst es mich so sagen: Genießen wir die verbotenen Schriften mit heiligem Respekt.

Furcht und Langeweile gegenüber der Religion

Heilig ist ein gutes Stichwort. Kafka war Jude, die Familie eher mäßig gläubig, schickte den jungen Franz trotzdem zum Religionsunterricht. Er schreibt dazu in Brief an den Vater: „Ich durchgähnte und durchduselte also dort die vielen Stunden (…) und suchte mich möglichst an den paar kleinen Abwechslungen zu freuen (…). Übrigens habe ich dort auch viel Furcht gehabt (…), auch deshalb, weil du einmal nebenbei erwähntest, dass auch ich zur Tora aufgerufen werden könne. Davor zitterte ich jahrelang. Sonst aber wurde ich in meiner Langeweile nicht wesentlich gestört.“

Kafka entfremdete sich dem Judentum bereits früh. Überhaupt misstraute er der Religion allgemein und Gott im Besonderen, beschäftigte sich jedoch mit metaphysischen und weltanschaulichen Fragen. Er las die Bibel, Schopenhauer und vor allem immer wieder Kierkegaard. Spiritualität war ihm nicht völlig fremd, aber auch Gott bot ihm kein schützendes Asyl, er vermisste selbst bei dieser obersten religiösen Autorität ein letztes Geborgensein.

So war dieser Hochsensible ein Schutzloser. Milena Jesenská findet in einem ihrer zahlreichen Briefe treffende wie bewegende Worte: (…) Die einfachste Sache auf der Welt versteht er nicht. (…) Ach nein, diese ganze Welt ist und bleibt ihm rätselhaft. (…) Aber Franz kann nicht leben. Franz hat nicht die Fähigkeit zu leben.“

Diese Lebensunfähigkeit eines empfindsamen Menschen führt naturgemäß erst dazu, Autoritäten zu fürchten, um sie dann abzulehnen und bisweilen sogar lächerlich zu machen. Ein antiautoritäres bis subversives Misstrauen zieht sich wie ein roter Faden durch Kafkas Werk und bestätigt eindrücklich, welch Freigeist er war.

Rätselhaft wie seine Werke

Und doch bleibt Kafka selbst ein Rätsel. Einerseits der frühberufene Schreiber, andererseits der disziplinierte Mitarbeiter einer Versicherungsgesellschaft. Einerseits der nachdenkliche, aber durchaus scharfsichtige Intellektuelle, andererseits ewig leidend unter der groben, polternden bis dominanten Art seines Vaters. Einerseits menschenscheu und Frauen fast fürchtend, andererseits dreimal verlobt, mehrfach verliebt und Prostituierten zugeneigt.

Was auch daran gelegen haben mag, dass er sich von seiner – im Vergleich zum Vater – gebildeteren und feinfühligeren Mutter im Stich gelassen fühlte, da sie sich in Konflikten mit dem Vater offensichtlich oft auf dessen Seite schlug. Einzig in Die Verwandlung ist sie die Einzige, die zum Protagonisten Gregor hält. Die Mutter, die doch für jedes Kind Wärme und Geborgenheit ausstrahlen soll, während man als Junge stolz auf den Vater sein, von ihm lernen und ihn achten möchte. Nichts davon geschah bei Kafka.

So blieben seine diversen Verhältnisse zu Frauen stets schwierig. Sicher suchte er eben diese vermisste Mütterlichkeit, die klassische Mutter-Figur. Andererseits fürchtete er sich vor übermäßiger Vereinnahmung, löste sämtliche Verlobungen und fand sexuelles Erleben in schnellen, anonymen und vor allem zu nichts verpflichtenden erotischen Abenteuern bei Huren. Zum Teil wohl auch mit sadomasochistischen Tendenzen, die oft aus solch verqueren Beziehungen zu den Eltern entstehen.

Lediglich seine letzte Gefährtin, Dora Diamant, mag eine Ausnahme gewesen sein, pflegte sie den todkranken Autor doch bis zu seinem Tode. Dora Diamant! Klingt wie ein Künstlername, könnte man nicht besser erfinden. War aber echt. Kleines Wortspiel oder doch Nomen est Omen? Jedenfalls erwies sie sich als wertvollste weibliche Begleitung.

Fiktive Handlungen, autobiografische Struktur

Sicher, nicht jede Literatur ist autobiographisch gefärbt. Aber viele Werke basieren zumindest auf selbst erlebten Erfahrungen. Und bei Kafka muss man weder Hellseher noch Literaturwissenschaftler sein, um hier eindeutige Parallelen zu erkennen.

Der Kulturwissenschaftler Hartmut Böhme interpretiert das so: „Literarische Texte sind für Kafka in fiktive Handlungen verkleidete Versuche zur Erklärung seiner psychosozialen Grundstruktur.“ Soll heißen: Kafka hat sein Leben, besonders Kindheit und Jugend, in seinen Werken massiv verarbeitet. Soweit nicht überraschend. Aber ich möchte nach all den theoretischen und wissenschaftlichen Aspekten und im Angesicht der zahlreichen Huldigungen eine ganz andere Frage stellen:

Was hat uns das Werk von Franz Kafka hundert Jahre nach seinem Tod heute noch zu sagen?

Weil, seien wir ehrlich: Viele berühmte und längst verstorbene Literaten, die zu diversen Jubiläen mit der Regelmäßigkeit einer gut geölten literarischen Verwertungsmaschine aus den verstaubten Regalen der sogenannten Klassiker gezogen werden, scheitern an den Auswüchsen einer Moderne, die mit ihren komplexen Herausforderungen eine Menge wirklich guter Literatur nur noch zu individualistischer Liebhaberei degradiert.

Proust zum Beispiel. Eine zuckrige, wenngleich geniale Bestandsaufnahme einer dekadenten Gesellschaft um die vorletzte Jahrhundertwende. Aber relevant? Klar, es gibt Menschen, die ihr ganzes Leben der Recherche widmen. Michel Houellebecq meint dazu: „Man kann sein Leben auf schlechtere Art und Weise verbringen.“ Recht hat er. Aber das ist eben nicht mehr als die literarische Version des Fan-Daseins. Oder Heimito von Doderer. Kein übler Schreiber, wenngleich hoffnungslos veraltet in seiner Gesamtheit. Selbst Faulkner kommt im Vergleich zu McCarthy ziemlich altbacken daher.

Immer noch relevant?

Und Kafka? Was macht ihn im 21. Jahrhundert, in diesen unglaublich wirren Zeiten voller rasanter gesellschaftlicher Entwicklungen, in Zeiten, wo die Uhren sich, angetrieben von den sogenannten Sozialen Medien und Künstlicher Intelligenz quasi täglich selbst vorstellen, in Zeiten von Despoten, Populisten und neu erwachter Kriegstrunkenheit, in denen die Uhren dann plötzlich rückwärts zu laufen scheinen, was macht Kafka in diesen Zeiten noch lesenswert?

Weil er uns nicht mit einfachen Antworten belästigt. Im Gegenteil – er konfrontiert uns mit unserer eigenen Ohnmacht, unterschwelliger oder auch direkter Bedrohung und vor allem mit der Verlorenheit, die viele von uns am eigenen Leib spüren. Kafka will uns erst gar nix vormachen und ist so weit von trügerischer Wohlfühlliteratur entfernt wie die Erde vom Mond.

Seine Weltsicht ist allgegenwärtig. Du versuchst, irgendeine Service-Hotline zu erreichen? Kafka! Um unsere Service-Qualität zu verbessern, möchten wir das folgende Gespräch gern aufzeichnen. Und dann schmettert dir jemand mit antrainiertem Service-Lächeln eine Ungeheuerlichkeit nach der anderen ins Gesicht.

Du machst Urlaub in einem Ferienhaus und möchtest lediglich die Nachrichten im Fernsehen schauen? Da liegen drei Fernbedienungen vor dem riesigen Bildschirm und diversen Kleingeräten. Bevor du das Ganze zum Laufen gebracht hast, sind die Nachrichten vorbei. Kafka! Du erwachst am Morgen und hast einen Termin beim Bürgeramt oder Jobcenter. Da musste noch nicht einmal zum Insekt mutiert sein. Kafka!

Waren es bei Kafka noch Produkte seiner Phantasie, sind heute die anonymen Mächte höchst real, die dich gnadenlos zermalmen. Was Franz sich nicht hätte besser ausdenken können: Viele Menschen sind damit einverstanden. Ja, zeichnen Sie dieses Gespräch auf! Ja, ich möchte dieses brandneue Smartphone haben – koste es, was es wolle! Ja, Ja, Ja, ich sage zu allem Ja, macht aus mir ein Röntgenbild, ich habe nichts zu verbergen, möchte einfach nur weiter dabei sein.

Jahrhundertfloskel

Kafkaesk! Um mal eine der Floskeln gelten zu lassen, die der Autor nicht selbst erfunden hat. Aber die Auslöschung des eigenen Ichs im Tausch gegen eine Seifenblase von Glücksversprechen und Belohnung, das war sein Thema.

Die alltägliche Demütigung als unvermeidlich hinnehmen. Schmeck die Peitsche! Sehr gern! Alles gut! Lest dazu seine Erzählung Schakale und Araber, vor allem der Schlusssatz ist eine perfekte Analogie zu den derzeitigen Verhältnissen auf der Welt. Und er schlägt tatsächlich mit der Kraft einer Axt zu.

Nachzulesen in Die Erzählungen, die in der Neuauflage von S.Fischer nicht nur mit einem wunderbar zurückhaltenden Cover erschienen sind, sondern neben den sogenannten Großen Erzählungen sämtliche von seinen kürzeren Werken enthalten, natürlich auch Die Verwandlung, Das Urteil und Der Heizer. Brief an den Vater ist ebenfalls neu erschienen, gibt es aber auch noch als Taschenbuch.

Die Tagebücher und Briefe sind halt sehr intime Zeugnisse, wenngleich zum Teil auch mit unübertroffener Lakonie gewürzt. Berühmt und immer wieder gern zitiert: „Im Kino gewesen. Geweint.“ Oder: „Weltkrieg ausgebrochen. War im Schwimmbad.“ Herrlich, oder? Heute brechen doch im Netz gleich die kitschigsten Emotionen oder panische Eruptionen los. Mein absoluter Favorit: „Soviel Ruhe, wie ich brauche, gibt es oberhalb der Grasnarbe nicht.“

Auch seine Aphorismen lohnen nach wie vor. Klar, Käfig und Vogel kennen alle. Diese sind aber auch nicht übel: „Das Gute ist in gewissem Sinne trostlos.“ Oder: „Wer innerhalb der Welt seinen Nachbarn liebt, tut nicht mehr und nicht weniger Unrecht, als wer innerhalb der Welt sich selbst liebt. Es bliebe nur die Frage, ob das Erstere möglich ist.“

Schmeißt also die ganzen Achtsamkeits-Ratgeber und -Zeitschriften weg und liebt erstmal euch selbst. Bekanntlich kann man erst dann der Welt einen Gefallen tun und andere lieben wie schätzen.

Nun bitten wir Sie, nach der Lektüre unseren Rezensenten zu bewerten. Mag er sich auch davor fürchten.

Literaturempfehlungen

Wie gesagt, nicht alles an Veröffentlichungen zu Kafka überzeugt. So empfehle ich nur eine Auswahl, weil z.B. Amerika für mich als (halbgares) Ganzes abfällt, Der Heizer jedoch unbedingt zu seinen besten Schriften gehört. Wobei der Verlag den Roman endlich unter seinem ursprünglichen Titel Der Verschollene veröffentlicht hat.

Auch bezüglich der Sekundär-Literatur stehe ich zu meiner Meinung. Für Kafka-Novizen sind ein paar wenige dennoch empfehlenswert. Besonders hervorheben möchte ich das Buch von Bruno Kern. Und wer Graphic Novels schätzt, dem kann ich Verwandelt ans Herz legen. Aber warum die Ausgabe von Neue Rundschau zu Kafka mit einem fünfmaligen Kafka Kafka Kafka Kafka Kafka (sic!) auf dem Cover aufwartet, das weiß wohl nur der Verlag selbst. Trotzdem recht gehaltvoll.

Franz Kafka – Die Erzählungen, S. Fischer Verlage, 528 Seiten, 26,- €

Franz Kafka – Brief an den Vater, S. Fischer Verlage, 112 Seiten, 13,- €

Franz Kafka – Das Schloss, S. Fischer Verlage, 416 Seiten, 18,- €

Franz Kafka – Der Prozess, S. Fischer Verlage, 304 Seiten, 16,- €

Franz Kafka – Tagebücher 1914-1923, S. Fischer Verlage, 390 Seiten, 18,- €

Bruno Kern (Hrsg) – Franz Kafka – Man kann doch nicht nicht-leben, S. Marix Verlag, 238 Seiten, 22,- €

Thomas Dahms – Verwandelt, Knesebeck, 128 Seiten, 24,- €

Neue Rundschau – Kafka Kafka Kafka Kafka Kafka, S. Fischer Verlag, 194 Seiten, 17,- €

3 Gedanken zu „Fürchte dich nicht, Franz!

  1. gkazakou

    Das ist das traurige Schicksal der Kreativen. Vorhin las ich, dass ich einen Caravaggio kaufen kann (es ist tatsächlich ein Original im Angebot!), sofern ich 578 Millionen Dollar (oder so) zur Verfügung habe. Und dachte an das elende Leben des Künstlers, den sie zu Tode hetzten.

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  2. Giesecke, Babette

    Liebe, was für eine Fleißarbeit ! Toll. Wenn man nicht schon so wie so Kafka neu lesen möchte, nach Deinem /Eurem Beitrag auf jeden Fall. Und Danke für so viel S.Fischer ; in Bild + Text 🙂 Liebe Grüße schickt Dir Babette

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