Mirna Funk wurde 1981 in Ostberlin geboren, studierte Philosophie und Geschichte. Sie arbeitet als freie Jounalistin und Autorin, u.a. für »Der Freitag«, und »Zeit Magazin«. Sie schreibt über Kultur, Lifestyle und Kunst. 2014 berichtete sie für das Magazin »Interview« aus Israel. Mirna Funk lebt in Berlin und Tel Aviv. Für ihr Debüt »Winternähe«, das diese Tage beim S. Fischer Verlag erschienen ist, erhält sie den Uwe-Johnson-Förderpreis.
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Klappentexterin: »Winternähe« erzählt von Themen wie dem Antisemitismus, dem Nahost-Konflikt und der Selbstfindung. Was hat Sie zu Ihrem vielseitigen Roman inspiriert?
Mirna Funk: Ich gehe mit offenen Augen durch die Welt. Und dabei ist mir besonders aufgefallen, dass der Mensch große Schwierigkeiten damit hat, die Komplexität einer Sache anzunehmen und zu verstehen, dass alles irgendwie miteinander zusammenhängt. Das heißt, wenn ich jemandem wehtue, dann hallt das nach, dann verändert diese Handlung, je nach Intensität natürlich, das Leben eines anderen. Für immer. Ich wollte deshalb einen Roman schreiben, der im Kern um diese Beobachtungen kreist. Und diese Beobachtungen macht man eben insbesondere, wenn es um den Nahost-Konflikt und den Holocaust geht.
Wie viel Mirna steckt in Lola?
Das ist im Moment eine sehr beliebte Frage. Es fällt wirklich jedem sehr sehr schwer, zwischen der Autorin und der Protagonistin zu unterscheiden. Im Übrigen auch zwischen mir und der Autorin. Wir drei, ich, die Autorin und Lola haben Schnittmengen, aber sind auch sehr unterschiedlich. Es gibt also Anteile oder Momente oder Gefühle, wo ich und Lola übereinstimmen, aber was wichtig zu verstehen ist, ist, dass wir eine andere Familiengeschichte haben. Es gibt keinen Gershom, keine Petra, keine Hannah und keinen Simon. Und es gibt auch keinen Shlomo. Die Protagonisten und ihre individuellen Geschichten sind fiktiv, deshalb ist auch der größte Teil des Romans fiktiv. Was autobiografisch ist, sind die antisemitischen Begebenheiten. Das habe ich mit Absicht so gestaltet.
Interessant finde ich die familiäre Konstellation in Lolas Fall, ihr Vater ist Jude, ihre Mutter nicht. Haben Sie einen ähnlichen Hintergrund oder ist Ihre Familie seit Generationen jüdisch?
Ich habe auch einen jüdischen Vater und eine nicht-jüdische Mutter. Diese Kombination kreiert für den oder die Betroffene ein großes Dilemma, weil man weder Jude noch Nicht-Jude ist. Das heißt, würde ich mich nur als Deutsche bezeichnen, würde man mir vorwerfen meine jüdischen Wurzeln zu verleugnen; sage ich, ich bin Jüdin, antwortet man mir, das kann ja nicht sein, denn deine Mutter ist keine. Im Judentum wird seit 70 n.Ch. die Abstammung matrilinear vererbt. Es gibt Millionen Menschen in dieser Welt, die dasselbe Dilemma wie ich in sich tragen. In Israel leben allein eine halbe Million von ihnen.
Das Buch erfreut mich mit vielen schönen Textpassagen wie dieser hier: »Jede Person, mit der wir sprechen, ist angefüllt mit eigener Geschichte. Einer Geschichte, zu der wir niemals einen vollständigen Zugang haben werden. Und trotz dieses fehlenden Zugangs muss diese Geschichte, obwohl wir von ihr nicht wissen, immer mitgedacht werden.« Diese Stelle sagt viel über uns aus. Woher wir kommen, warum wir so sind wie wir sind. Gleichzeitig empfinde ich diese Stelle als Plädoyer für mehr Toleranz und Mitgefühl. War das Ihre Intention?
Ja! Es geht mir um Komplexität und um das Anerkennen vom Nicht-Sichtbaren. Wir wissen doch eigentlich nichts vom anderen. Wenn wir also anerkennen würden, dass dieser Mensch vor uns eine Geschichte in sich trägt, so wie wir unsere eigene Geschichte in uns tragen, können wir vielleicht weicher und einsichtiger miteinander umgehen.
»Winternähe« heißt Ihr Roman. Wie sind Sie auf diesen Titel gekommen?
Den Titel hatte ich lange vor dem Schreiben des Romans. Als erstes entsteht bei mir der Titel, dann entwickle ich den Roman. Der Titel repräsentiert so etwas, wie den philosophischen Kern. Winternähe kann unterschiedlich interpretiert werden. Zum einen ist es natürlich eine Nähe zum Winter, also die Nähe zu einer unangenehmen Kälte, und damit meine ich menschliche Kälte, Desinteresse aneinander, aber auch Antisemitismus, Ignoranz, Hartherzigkeit. Was aber ausschlaggebend war, sind die zwei zentralen Interpretationen. Es geht um eine unangenehme Nähe, so wie der Winter unangenehm ist, aber auch um eine erzwungene Nähe, so wie man im Winter zusammenrücken muss, um sich zu wärmen. Der deutsch-jüdische und auch israelisch-palästinensische Konflikt haben für mich etwas von dieser Form der Nähe. Es ist eine Winternähe, sie ist unausweichlich und unangenehm zugleich. Diese Form der Nähe gibt es aber nicht nur auf politischer Ebene, sondern auch im persönlichen Bereich. Shlomos Beziehung zu dem palästinensischen Jungen ist eine Winternähe oder Lolas Beziehung zu ihrem Vater Simon.
Mir gefällt das wunderschöne Buchcover. Können Sie mir mehr dazu verraten?
Natürlich. Das hat ein guter Freund von mir gestaltet. Er heißt Enrico Nagel (http://www.enriconagel.com/) und ist Künstler und Illustrator.
Die Kapitel, die in Tel Aviv spielen, haben mich an zwei eindrucksvolle Bücher erinnert: »Judas« von Amos Oz und »Who the Fuck is Kafka?« von Lizzie Doron. Da kam in mir das Bild auf, wie Sie alle drei zusammensitzen. Ist das nur der Gedanke einer Leserin oder tauschen Sie sich mit israelischen Autoren regelmäßig aus?
Das ist nur ein Gedanke. Vielleicht sitzen wir im Geiste ja auch irgendwo zusammen, in der Wirklichkeit habe ich beide noch nie getroffen.
Wie die Autorin Sarah Stricker waren Sie 2014 ebenfalls bei den Ausschreitungen in Tel Aviv vor Ort und haben darüber für das Magazin »Interview« berichtet. Wie kam es dazu?
Ich habe „Winternähe“ im März 2014 begonnen und wusste, ich muss für den Tel-Aviv-Teil nach Tel Aviv, also buchte ich im April einen Flug. Da konnte man den Krieg noch nicht erahnen. Auch, wenn mich viele vor meinem Abflug am 15.7. baten nicht zu fliegen, bin ich geflogen. Heute weiß ich, dass es eine der wichtigsten Erfahrungen war, die ich je gemacht habe. Aber nicht nur das: ich habe in dieser Zeit meinen Roman geschrieben und meinen jetzigen Verlobten kennengelernt mit dem ich ein Kind erwarte. In drei Monaten hätte nicht mehr passieren können. Mein Aufenthalt in Tel Aviv im Sommer 2014 hat mein Leben grundlegend verändert.
Was waren Ihre einprägsamsten Erfahrungen in dieser Zeit?
Was mit einem passiert, wenn man mehrmals am Tag über zwei Monate hinweg einem Raketenalarm und den dazugehörigen Explosionen ausgesetzt ist. Das unterschätzt man nämlich. Jedenfalls habe ich das.
Sie leben in Berlin und Tel Aviv. Was verbindet beide Städte? Und was unterscheidet sie?
Tel Aviv ist eine moderne Metropole mitten im Orient. Man sitzt in Cafés oder liegt am Strand. Es ähnelt Berlin schon sehr. Der große Unterschied: dort geht der Sommer sechs Monate!
Die Klappentexterin dankt Mirna Funk für das Interview und wünscht der Autorin weiterhin viel Inspiration!
Wenn ihr neugierig auf die Autorin geworden seid, könnt ihr Mirna Funk auch auf ihrer Homepage besuchen.
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