
Ich bin eine Regenbogenfrau, die dem grauen Alltag die Zunge herausstreckt und im Farbrausch tanzt. Vergessen ist das nasskalte Winterwetter. Vergessen ist der Zorn der Tage. Wie das? Ganz einfach: Fee Katrin Kanzler hat mich mit ihrem Debüt „Die Schüchternheit der Pflaume“ vollends verzaubert. Ihre Sätze sind weich wie feinster Kaschmir und wunderschön. Der Roman gleicht einer Oase, die der Hektik den Riegel vorschiebt und mich in ein leuchtendes Vakuum einschließt.
Fast könnte man den Roman als ein langes nicht enden wollendes Gedicht sehen, so poetisch reiht sich Satz an Satz, so stark und einnehmend ist die Sprache, die sich göttlich über die Geschichte erhebt. Die junge Autorin erzählt von einem Mädchen, das suchend umherschwebt. Der Wind trägt die Erzählerin durch die Welt, über die Straßen einer Großstadt, durch Clubs, in denen sie sich glücklich tanzt, er setzt sie im Scheinwerferlicht auf die Bühne, auf der sie sich ihrer Musik hingibt und ihre warme Mitte findet. Musik ist ihr Lebenselixier: „Zu schildern, wie ich Musik höre, ist nicht so einfach. Sie treibt Strukturen durch den Raum, Netze und fließende Bänder, Blasen und Wellen, hochschießende Zapfen und Speere. Ich sehe sie. Es sind Strukturen, denen mein Körper folgt, wenn ich tanze. Ich fühle sie. Musik ist eine greifbare Welt für mich, eine Landeschaft hinter den Dingen, in ihr gehen Sinne ineinander über, ein synästhetisches Wunderland. Hätte ich nicht als Kind gelernt, dass Klänge ohne Geruch und Geschmack sind, hätte ich keine Scheu, sie mit Worten wie zitronig, fade oder süß zu bezeichnen.“
Schon auf den ersten Seiten spüre ich die zarte Seele aus ihrem Wesen nach draußen steigen. Ich fange sie auf und stecke sie in meine Tasche. Meine Beschützerinstinkte erheben sich automatisch von den Stühlen und wollen das Mädchen festhalten. Eins steht fest: Das Mädchen hat mich von Anfang an auf seine Seite gezogen. Ich kann nicht aufhören, den elfengleichen Beschreibungen zu lauschen, die sie in den Raum ausatmet, ein Flüstern reiht sich an ein Wispern, es folgt ein Streicheln auf der Wange und eine Liebkosung der Sprache.
Es scheint, als hätte der Himmel die Romanheldin ausgespuckt und sie auf die Erde fallen lassen, auf der sie nun versucht, durchzukommen. Die Götter wollten sie nicht mehr, so scheint es, ja, der Gedanke ist nicht ganz abwegig. Sie spricht selbst von ihnen und das nicht im Guten. Seit den Jugendtagen kämpft sie mit ihnen. „Mit dreizehn glaubte ich, den Göttern zu gehören. Fühlte ihre bitterscharfen, stahlblanken Krallen. Hörte ihr unterkühltes Gelächter und glaubte, niemals einem Mann gehören zu können, weil mich bereits die Götter besaßen.“ Die Götter wissen alles von ihr, glaubt sie, mehr als sie selbst. Die Erzählerin hängt oft in der Schwebe wie eine Seiltänzerin, die aus dem Takt gekommen ist, zwischen oben und unten baumelnd, unschlüssig, wohin sie nun schweben soll. Sie möchte ihre eigene Geschichte greifen, doch die entgleitet ihr zwischen den Fingern, wie ein nasser Fisch, der wieder zurück in den See will.
Da steht die namenlose Ich-Erzählerin also und blickt der Welt ins Gesicht. Mal strahlend, mal ängstlich, mal fragend. Und immer dabei, ihr unschlüssiges Herz, das sich nicht entscheiden kann, welchen Mann sie nun nehmen soll. Das liebenswerte Ding, das alle Sonderlinge magnetisch anzieht. Ja, die Erzählerin selbst ist sonderbar, verrückt und ein „Mondsuchtfräulein“, das schlafwandelt, und sich furchtbar gern hinter ihrer „Goldkäferbrille“ versteckt. Besonders nach Nächten, in denen sie wenig Schlaf bekommen hat oder an Tagen, an denen ihr das Leben abhandenkommt und sie sich verkriechen möchte, weil die inneren Erdbeben zu stark sind. Während ich das hier schreibe, streift mich die Erkenntnis, dass man sie liebt oder nicht. Wie diesen Roman. Entweder ganz oder gar nicht.
Fee Katrin Kanzler schafft großartige Wortkreationen und malt unglaubliche, betörende Bilder, verzauberte, melancholische und verträumte. Sie spielt mit der Sprache, verwandelt alltägliche Wörter in wundersame Geschöpfe. Sprachlich gesehen, ist der Roman eine wertvolle, bereichernde Schatztruhe. Ich grabe und verliere mich in zahlreichen Formulierungen, stoße auf Worte, die ich mir an die Wand malen möchte.
Dieser Roman löst die Erdanziehungskraft auf und lässt mich schweben. Ich entgleite dem Stress, dem lauten Getöse vor der Haustür. Es gibt keine harten Kurven, keine Explosionen, stattdessen nur einen zarten Faden, der sich verspielt und liebevoll um die Augen schmiegt. Alles Graue verschwindet und verwandelt sich in ein buntes Meer aus Farben. Rot, grün, blau, violett, rosa, gelb. Sie tanzen und ziehen mich alle mit. Der Roman gewinnt nicht durch die Geschichte, dafür ist sie zu klein, eine zurückhaltende Melodie, die sich bei mir dennoch großes Gehör verschafft. Es bleibt angenehm ruhig und still. Trotzdem finde ich auf den Seiten wohltuendes Leseglück und vollkommenen Seelenfrieden. Vielleicht weil ich für die kleinen besonderen Dinge des Lebens empfindsam bin und mich ein Buch auch durch eine schöne Sprache begeistern kann. Wer ereignisreiche Szenen und eine krachende Portion Aktion sucht, der wird hier nicht fündig. Doch wer sich in poetischen Bildern verlieren und sich dem Summen von wundervoll komponierten Sätzen hingeben kann, der wird am Ende das Buch mit einem glücklichen Seufzer zuschlagen und aussehen wie eine Regenbogenfrau. Versprochen!
Fee Katrin Kanzler.
Die Schüchternheit der Pflaume.
September 2012, 320 Seiten, 19,90 €.
Frankfurter Verlagsanstalt.

Mit dem Roman ist an dieser Stelle Schluss, doch mit der Autorin geht es am kommenden Mittwoch in einem Interview weiter.