
In manche Bücher plumpst man sofort hinein wie in ein weiches Bett. Der Bauch wird warm und schon nach den ersten Sätzen ahnen wir, dass etwas Großes auf uns zurollt. Genauso ist es mir bei Accabadora von Michela Murgia ergangen.
Die italienische Autorin erzählt in ihrem Debüt über Menschen und deren Schicksale und über eine Insel mit deren Vergangenheit. Im Vordergrund stehen Maria und die Schneiderin Bonaria Urrai. Die beiden leben zusammen wie Mutter und Tochter, obwohl sie es nicht sind. Maria ist das vierte Kind einer armen Witwe, die ein weiteres Kind nicht auch noch durchbringen kann. Bonaria ist es seit jeher vergönnt gewesen, ein eigenes Kind zu bekommen. Also nimmt sie Maria auf. Das Mädchen entkommt auf diese Weise einem Leben in Armut. Schon bald merkt sie jedoch, dass ihre Ziehmutter ein düsteres Geheimnis mit sich herumträgt, das sie eines Tages lüftet. Das zieht einen großen Konflikt nach sich, der einen unüberwindbaren Spalt zwischen den beiden Frauen schafft.
Der andere Erzählstrang berichtet von den Menschen auf der Insel, von ihren Nöten, ihren Sehnsüchten und Gefühlen. Es wird geliebt, gehasst und natürlich viel erzählt, mal tuschelnd, mal offen. Die Autorin erzählt so detailgenau und geht dabei sehr einfühlsam vor, dass man mitfühlt und mitdenkt. Ein kleiner Stachel setzt sich in den Kopf und bleibt dort stecken. Man denkt, denkt und denkt. Und denkt und denkt.
Dieses Buch hat mich sofort gefangen. Vor allem die poetische und sensible Sprache Murgia habe ich dies zu verdanken. Auf fast jeder Seite entdeckte ich Sätze, die ich mir liebend gern auf meine Wäscheleine aufhängen möchte. Hier ist einer von vielen:
„Es gibt Gedanken, die wie eine Eule das Tageslicht scheuen.“
Gedanken tauchen in dem Buch einige auf, an denen man nicht spurlos vorbeilesen kann. Die Gedanken drehen sich um zu viele Fragen mit denen ich konfrontiert wurde. Was bedeutet Familie? Tradition brechen oder weiterleben lassen? Was ist Gerechtigkeit? Darf ich Böses mit meinem eigenen Anspruch zunichte machen? Was ist ein gutes Leben? Darf man kranke Menschen, die keine Hoffnung mehr auf Besserung haben, erlösen, wenn sie es sich wünschen?
Wir tauchen auch ein in Traditionen und uraltem Wissen auf Sardinien. Eine Insel, die eine Welt für sich ist. Die Sonne glüht, der Mund ist trocken und überall schwebt öfter ein kalter Schatten, der haften bleibt – egal wie sonnig es ist. Dieses Buch hat zurecht kurz nach seinem Erscheinen bei uns viele begeistert. Es ist ein Werk über starke Frauen für starke Frauen, aber auch ein Werk für Männer, die solchen Frauen gern ins Gesicht schauen.
Michela Murgia.
Accabadora.
Februar 2010, 176 Seiten, 17,90 €,
Klaus Wagenbach.