Ein Sohn namens Gloria. Gloria Hemingway.

Ernest Hemingway und seine Söhne Patrick (links) and Gregory (rechts). © Foto: Ernest Hemingway Photograph Collection, John F. Kennedy Presidential Library and Museum, Boston.

Gloria Hemingway? Hemingway-Kenner:innen wissen wahrscheinlich, welches Schicksal sich dahinter verbirgt. Mir war dieser besondere Mensch bisher unbekannt. Bis ich „Hemingways Kind“ von Russell Franklin gelesen habe.

Klar kennen wir alle den Großschriftsteller Ernest Hemingway. Sein Leben, einige Menschen aus seinem reichen Leben und natürlich seine Bücher. Weniger bekannt ist sein Sohn Gregory. Russell Franklin hat sein Debüt „Hemingways Kind“ Gregory – auch „Gig“ oder „Greg“ genannt – gewidmet. Für mich zählt dieser Roman zu den literarischen Highlights dieses Jahres.

Obwohl am Anfang Anziehung und Ablehnung zugleich da waren. Einerseits macht der Titel „Hemingways Kind“ naturgemäß neugierig. Andererseits stößt mich das auf den ersten Blick recht kitschige Cover ab. Erst beim zweiten Blick erkenne ich einen Mann, der sich als Frau verkleidet hat. Dazu kam noch die Begeisterung meiner stories!-Kollegin Sarah, mit der mich viele gemeinsame Entdeckungen verbinden. Wieder einmal hat der berühmte Satz recht: Don’t judge a Book by its Cover.

Also rein ins Geschehen, in dem ich sofort gefangen bin. Russell Franklins Sprache ist unglaublich atmosphärisch, und so sitze ich gleich im Jahre 1940 neben Patrick und Gregory in Kuba an einem Fluss. Die Brüder verschnaufen, rauchen die gestohlenen Silk Cuts ihrer Mutter und trinken eine Coke dazu. Zwei Jungs, die sich mögen und gegenseitig necken. Allerdings wird diese Innigkeit im Laufe der Jahre nicht nur einmal auf eine harte Probe gestellt.

Denn so federleicht wie der Einstieg hinüberweht, bleibt es nicht. Russell Franklin schickt mich mitunter durch einen finsteren Wald aus großen Bäumen, vor dem ich oft innehalten muss. Einer dieser Äste im Lebensbaum von Gregory zeigt sich in Form seiner manisch-depressiven Seite, die ihn sein Leben lang begleitet und schlimme Folgen haben wird.

Es beginnt, als er den Wunsch verspürt, sich als Frau zu kleiden. Das macht er aber nicht im Geheimen, Gregory geht in voller weiblicher Montur in das Kino, in dem seine Freundin arbeitet. Es kommt zum Eklat, als er die Frauentoilette verlässt, und vor der Tür auf einen Polizisten trifft. Es folgt eine handgreifliche Auseinandersetzung, und Greg wird nicht nur festgenommen, sondern auch von seiner Freundin Shirley entdeckt. Er trägt ihr Kleid. Und dann stirbt seine Mutter einen Tag später. Eigentlich wollte Greg seine Tante aus dem Gefängnis um Hilfe bitten, bekam aber nur seine Mutter ans Telefon.

Die kann noch mit Hem über dieses für sie hochnotpeinliche Ereignis sprechen, stirbt dann aber vor lauter Aufregung und wohl auch Scham, so glaubt Greg. Der Tod seiner Mutter wird Greg sein Leben lang verfolgen, bis er nach dem Tod seines Vaters eine Entdeckung macht…

„Greg war die meiste Zeit seines Lebens ein menschliches Katastrophengebiet gewesen.“ Dieser Satz fasst Gregs Leben hart aber treffend zusammen. Ein tragisches Leben. Ein talentierter Junge, der, wie viele Kinder von berühmten Eltern, Zeit seines Lebens um die Anerkennung seines Vaters buhlt. Und immer wieder von seinen manisch-depressiven Phasen eingeholt wird. Er lässt sich aus lauter Verzweiflung sogar mit Elektroschocks behandeln und versucht so, sich, wie er sagt, „auf Null“ zurückzusetzen. Das gelingt nur bedingt. Irgendwann steht er vor der großen Frage: „Wer war er wirklich?“ […] Und wollte er immer eine Frau sein? „Was hatten ihm die Heimlichtuerei und das brutale Leugnen gebracht?“ […] Er schaut dabei auf einen ehemaligen GI – Christine Jorgensen – der sich in eine Frau verwandelt hat. Doch sie hatte keine Angst. Und Greg? „Greg konnte sich an keine angstfreie Zeit in seinem Leben erinnern…“

Was fühlt der berühmte Vater? Franklin schreibt dazu: „Nur der Name zählte noch, die Legende, und dabei kannte ihn gar niemand. Keiner wusste, wie wundervoll er gewesen war. Was für ein unglaublich stures Arschloch. Die Leser kannten nur eine Figur, die Ernest Hemingway selbst geschaffen hatte.“

© Nathalie Dawkins

Ein ungemein facettenreiches Werk, in dem es eine unsichtbare Balance gibt, die das Schwere immer wieder auffängt. Das Krokodil hat sein hungriges Maul weit aufgesperrt, doch es erwischt mich nicht. Noch etwas schafft der englische Autor: Er bewegt sich galant zwischen verschiedenen Zeitebenen und Orten. Mal sind wir auf Kuba, dann in New York oder Montana, plötzlich in Key West oder gar in Tansania. Alles fließt, mal haben wir 1938, dann sind wir auf einmal im Jahr 1985.

Besonders zeitgemäß ist natürlich der Aspekt, wie sich anfühlt, im falschen Körper zu stecken. Dazu noch der ewige Drahtseilakt eines manisch-depressiven Menschen, der stets versucht, auf viel zu dünnem Eis zu laufen und dies oft nur mit Rauschmitteln aushält. Obwohl sich in den vergangenen Jahren viel getan hat, ist die Diskriminierung von Menschen, die aus der sogenannten Norm fallen, weiterhin sichtbar und spürbar.

So gesehen hat uns Russell Franklin nicht nur eine bewegende Biografie aus Hemingways Kosmos geschenkt. Er legt ein Augenmerk auf all die Menschen, die täglich kämpfen. Um ihr Dasein, als das, was sie sind. Oder mit den dunklen Dämonen, die sie einschränken. Und er hat Gloria Hemingway ein Denkmal gesetzt.

Greg nannte sich am Ende Gloria und starb mit 69 Jahren in einem Frauengefängnis eines natürlichen Todes. Möge sie mit ihrer Familie im Himmel Frieden geschlossen haben. Ich wünsche es ihr genauso wie vielen weiteren Leser:innen dieses eindrucksvollen Buches. Und wer weiß – vielleicht fühlt es sich für sie da oben doch gut an, Kind eines Literaturnobelpreisträgers zu sein.

Russell Franklin: Hemingways Kind. Aus dem Englischen übersetzt von Michaela Grabinger. Kein & Aber Verlag, August 2023, 464 Seiten, 26,- €. Bei stories!-Die Buchhandlung verfügbar oder im Online Shop bestellbar. Das epub kostet 18,99 € und ist hier verfügbar.

Das Startbild habe ich übrigens vom Blog Hemingways Welt. Schaut mal vorbei, es lohnt sich.

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