Schlagwort-Archive: Amerika

Es bleibt spannend!

Weiter geht’s durch spannende Seiten dieses Herbstes. So folgt der zweite Teil meines Krimi-Spezials. Den Auftakt findet ihr hier. Heute erwarten euch drei – wie ich finde – äußerst bemerkenswerte Autorinnen. Drei unterschiedliche Bücher und doch eint alle eins: Sie enthalten erstklassigen und absolut packenden Stoff!

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Gesucht: starke Nerven.

Für sein Debüt „Was auf das Ende folgt“ wurde Chris Whitaker völlig zu Recht 2017 mit dem CWA John Creasey New Blood Dagger Award ausgezeichnet. Zum Glück ist es nun auch bei uns erschienen.

Und immer noch läuft mir ein Schauer über den Rücken, wenn ich an das Gelesene zurückdenke. Denn Whitakers Geschichten gehen einfach unter die Haut.

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Alles geht vorbei.

Der Frühling ist herrlich verregnet! So ungefähr klingt die Euphancholie. Was bitte? Benedict Wells beschriebt mit dieser neuen Wortschöpfung ein Gefühl, irgendwo zwischen Euphorie und Melancholie. In seinem neuen Roman »Hard Land« empfindet eine der Protagonistinnen das folgendermaßen: »Einerseits zerreißt’s dich vor Glück, gleichzeitig bist du schwermütig, weil du weißt, dass du was verlierst oder dieser Augenblick mal vorbei sein wird.« Kurz gesagt: Euphancholie. Melancholie bedeutet für mich in diesem Frühjahr, dass die Pandemie immer noch nicht überwunden ist, dass wir weiter durchhalten müssen, dass es einfach zermürbend ist. Auf der anderen Seite haben wir die Bücher, die uns wieder einmal ihre Rettungsringe zuwerfen.

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Nichts ist einfach. Aber auch nichts unmöglich.

 

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Als ich aufwachte, war ich plötzlich schwarz. Meine Bindfädenhaare kräuselten sich auf meinem Kopf zu einem kleinen Nest. So sehr war ich in dem Roman Americanah von Chimamanda Ngozi Adichie gefangen. Ich hatte mich vollkommen aufgelöst und in Ifemelu verwandelt. Ihr Leben wurde zu meinem, viele Tage lang atmete ich ihre Luft und dachte ihre Gedanken. Selbst jetzt bekomme ich noch eine Gänsehaut, wenn ich daran zurückblicke.

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On the Road to Luck.

Jean_Philippe Blondel_zweiundzwanzig

Ein Blinzeln in der Sonne. Sandstaub auf den Lippen. Und in den Tiefen meines Bauches eine ganze Armee an Endorphinen. Ich blicke auf das schmale Buch Zweiundzwanzig von Jean-Philippe Blondel, flach wie eine Flunder und stark wie ein Elefant. Immer noch bin ich erstaunt darüber, was die kurze Geschichte mit mir angestellt hat. Großartig war’s – so viel kann ich euch schon verraten.

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Dame und König.

 dubois

Wie soll man weitermachen, wenn man weiß, dass man verlieren wird? Diese große Frage schwebt wie ein riesiger Schirm über Das Leben ist groß von Jennifer DuBois. Sie ist die Verbindungslinie zu den Koordinaten, die zwei fremde Menschen zusammenführt.

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kleiner zwerg GANZ GROSS.

Manche Menschen gehen sonntags in die Kirche, ich lese „Owen Meany“. Dieses Ritual hat sich eines Tages so eingeschlichen, wie eine Mücke, die durchs offene Fenster schlüpft. So ist es geblieben bis zum Schluss. Seit ich die über 853 Seiten beendet habe, ist mir ein wenig mulmig zumute, fast so, als hätte ich eine ganze Tüte Salzige Heringe auf einmal aufgefuttert. Der eigentümliche Geschmack des Abschieds schiebt sich zwischen vollem Bauch und glücklichem Herzen. Die Wehmut steigt in den nächtlichen Himmel und hinterlässt einen hellen Schweif auf meinem Gesicht. Die Sache mit dem Abschied stimmt allerdings nicht ganz, denn ein Owen Meany verschwindet nicht, er bleibt bei uns, selbst wenn das Buch längst wieder im Regal steht. Owen Meany ist nicht nur Owen Meany, denn während ich diese Zeilen schreibe, sitzt er bei mir, der kleine Zwerg mit der kratzigen Stimme. Ist das schön? Ja, das ist! Und vollkommen verrückt!

„Owen Meany“ ist das zweite Buch, das ich von John Irving gelesen habe und ich kann sagen, die Liebe bleibt erhalten. Noch befindet sich unsere Autor-Leserin-Beziehung in der Probephase, in der man sich vorsichtig annähert. Im Nachhinein finde ich, dass ich sehr mutig gewesen bin, seinen dicken Wälzer als Zweites zu lesen, doch meine Neugier war zu groß, hatten mir doch viele Menschen gerade diesen Roman ans Herz gelegt und ein guter Freund sagte mir am Telefon: „Die letzten Sätze sind es, auf das alles hinausläuft. Unglaublich, wie John Irving das gemacht hat!“

Bereits auf der dritten Seite verliebe ich mich in den Roman oder viel mehr in Owen Meany, als Irving seinen Helden aus der Sicht des Ich-Erzählers beschreibt, so liebevoll und menschlich. Ich lese Worte, die wie warme Schokoladensoße über meine Zunge fließen. Entzückt klatsche ich in die Hände, spüre eine Wärme in mir aufsteigen und die Süße überall kleben. Ich bin eine Schokoladen schleckende Bärin, so würde mich Irving bestimmt beschreiben. Wie komme ich eigentlich zu diesem Bild, wo es in diesem Roman keinen Bären gibt? Und Bären wohl eher Honig schlecken. Das sind die Nebenwirkungen einer Irving-Lektüre, würde ich jetzt einfach behaupten. Statt der Bären treffe ich auf eine Handvoll Menschen, die der Autor wieder bis zur Vollendung ausschmückt, ihnen Eigenheiten an die Fersen klebt und unerwartete Wendungen in die Taschen legt.

Im Mittelpunkt steht die besondere Freundschaft zwischen John und Owen. Sie beginnt in den zarten Kinderschuhen und hält viele Jahre lang an. Owen schillert aus dem Buch hervor wie ein eckiger Diamant, dem ich mich nicht entziehen kann. Seine direkte Art, dem Leben und den Menschen zu begegnen, ist sehr eigenwillig und eindrucksvoll zugleich. An einer Stelle heißt es, dass er wie „ein vom Himmel herabgestiegener Engel“ aussieht, „ein kleiner, aber feuriger Gott, gesandt, über unsere Irrwege zu richten.“ Das trifft es auf den Punkt und zeigt, was für ein Wesen sich hinter dem kleinwüchsigen Owen verbirgt, dessen Stimme so schrill ist, dass jeder Owen-Satz in Großbuchstaben geschrieben ist. Seine Eltern betreiben einen Steinbruch, schenken ihrem Sohn wenig Zuneigung. Die Liebe bekommt der Junge hingegen bei Johns Familie, die immer einen Platz für ihn hat. Selbst nach einem fatalen Ereignis, auf das ich nicht näher eingehen möchte, denn dort draußen gibt es sicherlich noch einige, die dieses epische Werk entdecken werden. John Irving reißt seine Leser mit, überrascht sie mit unerwarteten Wendungen, das möchte ich ihm nicht wegnehmen. Gerade dann, wenn man sich eingerichtet hat, dreht er das Ruder um und der Kopf sieht für einige Augenblicke Sterne.

„Owen Meany“ ist für mich vor allem ein Werk voller Menschlichkeit, das mir selbst an Regentagen eine Sonne ins Gesicht gemalt hat. John Irving gelingt etwas Unglaubliches: Er öffnet die Tür zu meinem Herzen und lässt Owen Meany hineinspazieren. Was er natürlich mit Freude macht. Ich finde einfach keine Worte für diese besondere Begegnung.
Der Roman umfasst ein halbes Jahrhundert und fokussiert neben der Freundschaft auch den Glauben und Amerikas Geschichte. Der Vietnamkrieg ist ein tragendes Element, der wie eine schwingende Keule in das friedliche Szenerie schlägt. John Irving führt das ganze Ausmaß vor Augen, indem er mit Zahlen der in Vietnam stationierten amerikanischen Soldaten und Gefallenen untermalt. Selbst seine Helden bleiben davor nicht verschont und letztlich ist es der Krieg, der das große Drama zum Ende nach sich zieht. Gleichzeitig erzählt er aus dem Leben einer amerikanischen Kleinstadt und von den Dingen, die Menschen beschäftigen. Manches schmückt der Autor besonders aus, wie das Weihnachtsfest im Jahr 1953 und führt mir erneut vor Augen, was er für ein begnadender Erzähler ist, der seine wahre Freude daran hat, sich bis in die hinterste Ecke zu bewegen, ohne dabei vom Weg abzukommen. Am schönsten sind die Menschen selbst, ihre Beziehungen untereinander und ihre Dialoge. Das absolute Highlight – eine wahre Explosion – passiert auf der letzten Seite. Ich nenne es einen professionellen und raffinierten schriftstellerischen Schachzug, vor dem ich niederknie. Mein besagter Freund hatte Recht: Die letzten Sätze leuchten durch die Augen hindurch in meinen Kopf und bringen ihn zum Strahlen. So sah ich am Ende aus wie eine glühende schokoladenverschmierte Bärin, die weiß, dass sie von einem Fieber befallen ist, dem John Irving Fieber. Heilung unmöglich!

John Irving.
Owen Meany.
Dezember 1998, 853 Seiten, 12,90 €.
Diogenes Verlag.

Große Literatur, menschliches Drama.

                                           Foto: Olwyn Hughes.

Zu manchen Autoren und Autorinnen haben wir eine ganz besondere Beziehung. Wir wissen meist nicht, wo dieses vertraute Gefühl herrührt. Es ist einfach da wie der Wind, der unser Gesicht streift. Ich habe aufgehört, zu hinterfragen, warum das so ist, freue mich lieber über dieses exklusive Geschenk des Himmels und schreibe über Sylvia Plath, die heute 80 Jahre alt geworden wäre. Eine Autorin, die viel zu früh selbstbestimmt aus dem Leben gegangen ist und eindrucksvolle Literatur hinterlassen hat.

Unsere erste Begegnung ist viele Jahre her. Damals, in einer Zeit eines persönlichen Umbruchs, hat mich Sylvia Plath mit ihrem autobiographischen Roman „Die Glasglocke“ aufgefangen. Ich fühlte mich verloren in der Welt, wie die Ich-Erzählerin Esther Greenwood. Eine erfolgsverwöhnte 20-Jährige fällt durch die Absage für einen Schriftstellerkurs in ein tiefes Loch und leidet zunehmend an einer schweren Depression. Ich steckte in einer ähnlichen Situation, erfolgsverwöhnt wie ich war, schlitterte ich orientierungslos durchs Leben, weil plötzlich nichts mehr so lief, wie ich es mir vorgestellt hatte. Sylvia Plath traf eine Ader in mir, nicht zuletzt auch durch ihre eindrucksvolle Sprache. Sie reichte mir ihre Hand und zog mich vom Boden nach oben. Dieses Buch blieb wohl auch aus diesem Grund bis heute in meinem Herzen. Riesengroß war demnach die Freude, als ich entdeckte, dass die Frankfurter Verlagsanstalt dieses Jahr zwei Erzählbände neu aufgelegt hat, die ich bis dato nicht gelesen hatte. „Die Bibel der Träume“ heißt das eine, das andere „Zungen aus Stein“ und über letzteres möchte ich euch heute berichten.

„Zungen aus Stein“ enthält 16 Erzählungen, bei denen überwiegend junge Frauen im Mittelpunkt stehen. Die Geschichten sind melancholisch und wiegen schwer im Herzen. Oft sah ich das Bild einer kalten Mondnacht vor mir aufblitzen. Ich lief allein durch die Plath-Welt, einzig meine Atemwölkchen begleiteten mich durch die Dunkelheit.
Sylvia Plath erzählt von jungen Frauen, die im Amerika der vierziger Jahre umherirren. Ja, sie irren umher, viele von ihnen sind vom Weg abgekommen. Sie sind verletzte Wesen, denen das Leben schmerzhafte Wunden zugefügt hat. Da ist das Mädchen aus der Titelgeschichte. Eindringlich und beklemmend lesen sich die Seiten von dem Mädchen, das sich in einer Nervenheilanstalt befindet. Ihr Drama macht Plath bereits auf der zweiten Seite deutlich: „Zwei Monate lang hatte sie weder geweint noch geschlafen, und jetzt schlief sie immer noch nicht, aber es kamen immer mehr Tränen, den ganzen Tag.“ Jegliches Gefühl ist aus ihrem Körper gewichen, er fühlt sich an wie „eine dumpfe Marionette aus Haut und Knochen, die Tag für Tag für Tag gewaschen und gefüttert werden mußte.“ Sylvia Plath beschreibt das Bild einer depressiven Frau, ein Bild, das ihr vertraut war und hier so authentisch wirkt, beißend echt, dass ich die schwere Last der Seele in meiner Brust spüre.

In „Superman und Paula Browns neuer Schneeanzug“ macht Sylvia Plath deutlich, wie hässlich und gemein Kinder sein können. Das Schicksal spielt dem Ich-Erzähler einen bösen Streich. Wobei man nach dem Ende nicht mehr an Schicksal denken möchte, sondern die bloße, erschütternde Absicht sieht, jemanden die Schuld zu geben. Genau das macht die Geschichte noch tragischer als sie ohnehin schon ist. Raffiniert verarbeitet Plath etwas, dass wir allzu kennen, nämlich die eigene Schuld auf andere abzuladen. Hier ist es Paula Brown, die nicht eingestehen will, dass sie auf einer Ölpfütze ausgerutscht ist und ihren neuen Schneeanzug beschmutzt hat. In einer blitzschnellen Reaktion zeigt sie auf den Ich-Erzähler und ruft laut aus, dass er es war, der sie geschubst hat. Von da an ist er der Geächtete, der Ausgegrenzte, der an der Ungerechtigkeit beinah zerbricht. Als sei das nicht schon genug, untermalt die Autorin das Drama mit einer weiteren brutalen Komponente, denn dieser Vorfall ereignet sich in dem Jahr, als der Krieg begann.

Im „Tag des Erfolgs“ konfrontiert mich Sylvia Plath mit dem damaligen Frauenbild und dann seinen Folgen. Als Ellen davon erfährt, dass das Theaterstück ihres Mannes Jacob mit Begeisterung aufgenommen wurde, überrollt sie eine Welle der Zweifel und drückt sie nieder. Die Überbringerin dieser Nachricht versetzt Ellen in Angst und Schrecken, ist es doch jene brillante junge Fernsehredakteurin, mit der sich Jacob kürzlich getroffen hat. Die Eifersucht keimt in Ellen auf, die Stacheln verletzten ihr Herz, erschüttert ihr Kopf mit vielen Gedanken. Eigentlich sollte sie sich über diesen Erfolg ihres Mannes freuen. Hatten sie harte Zeiten hinter sich, doch über das Glück stülpt sich eine betäubende luftdichte Maske, die sie einfach nicht absetzen kann und sich spinnenartig in ihren eigenen Gedanken verwebt. Plötzlich fängt sie an, sich kritisch zu betrachten: „Ich passe schon jetzt nicht mehr. Ich bin hausbacken, unmodern wie die Rocklänge vom letzten Jahr.“ Ellen wird bewusst, wie sehr sie ihre anziehende Weiblichkeit als Hausfrau und Mutter verloren hat. Angst macht sich breit, ihrem Mann nicht mehr zu gefallen und ihn damit in die Arme von attraktiven Frauen zu werfen.

Das Spektrum der Erzählungen ist reichhaltig, und ich habe nur einen Bruchteil angerissen. So vielfältig sie auch sind, eins vereint sie alle: der Verlust. Über allem schwebt dieses tragende Element, ein Gefühl, mit dem die Autorin seit frühen Kindheitstagen selbst konfrontiert wurde. Sie war 8 Jahre, als ihr Vater starb. Vielleicht führte dieses tragische Ereignis dazu, dass dieses Thema so häufig auftaucht. Ob es sich um einen besonderen Tag handelt, der nie wiederkehrt, oder um einen Ort der Kindheit, der nicht mehr so ist, wie er einst mal war oder um einen verlorenen Menschen oder eine sich verändernde Beziehung. All das hält mir die Autorin mit ihren Geschichten vor Augen, diese ständige Bewegung des Lebens, die die Dinge und Menschen ändert, ob wir es wollen oder nicht. Aus vielen Seiten vernehme ich Rufe nach mehr selbstbestimmtem Leben. Einige Mädchen rufen nicht nur, sie handeln, brechen aus, befreien sich von den Handschnellen, die man ihnen angelegt hat und treffen mutige Entscheidungen. Für wenige Augenblicke verblasst die Schwermütigkeit, und wird von leichten Wolken überdeckt. Übermut macht sich dort bemerkbar, wo sonst nur lähmende Ohnmacht saß. Ein Lächeln fährt über das sonst so ernste Gesicht und übertüncht den angespannten Ausdruck mit einem beruhigenden Frieden und hoffnungsfroher Zuversicht.

Der Erzählband enthält Plaths nachdenkliche Handschrift. Sie war eine sehr reflektierende und empfindsame Person, dies entfalten ihre persönlichen Aufzeichnungen, die ich euch als ergänzende Lektüre empfehlen möchte. Sie lassen uns in ihre Seele blicken und manch einer findet dort vielleicht eine Antwort, warum diese talentierte Schriftstellerin und Lyrikerin so früh aus dem Leben gegangen ist. „Briefe nach Hause 1950-1963“ und „Die Tagebücher“ geben einen Einblick und sind auf besondere Weise eine literarische Bereicherung. Einmal aufgeschlagen, wollte ich nicht wieder hinaussteigen. Sie führen hinein in das Leben einer jungen Frau, die vor Leben und Schreiblust brennt, die hochfliegt, so viel vom Universum möchte, dabei oft tief fällt und von schwermütigen Phasen niedergedrückt wird. Ich erlebe sie als kreischende, juchzende Biene und als sentimentale, nachdenkliche junge Frau, die ihre Schmerzen ihren Tagebüchern und ihren Briefen anvertraut. 1953 unternahm sie mit 20 Jahren den ersten Selbstmordversuch. Der Brief an E. gibt Aufschluss darüber, was Sylvia Plath zu diesem Schritt geführt hat. In ihren Erklärungen berichtet sie von der Absage für einen Schreibkurs, auf den sie so sehr gehofft und mit dem sie fest gerechnet hatte. Dieses einschneidende Erlebnis greift sie später in ihrem Roman „Die Glasglocke“ auf. Das Zerfallen und Verlieren in dem kalten See der Enttäuschung entfaltet sie hier in diesem Brief und gibt Antworten auf Fragen nach dem Wieso und Warum. Sylvia Plath vergleicht sich mit ihren Freundinnen, die in Europa Romane schreiben, bald heiraten oder Medizin studieren. Sie zerfällt in ihren Sorgen, kann nicht mehr schlafen, weil sie gegen Schlaftabletten immun wird und erlebt traumatische Erfahrungen mit Elektroschockbehandlungen. Als einzigen Ausweg sieht sie am Ende nur noch den Selbstmord, um der Irrenanstalt – wie sie die psychiatrische Klinik selbst bezeichnet – zu entkommen.

Die persönlichen Aufzeichnungen sind eine Reise durch Sylvia Plaths Seele. Ihr Innenleben fließt nach draußen direkt auf das Papier und in den Kopf des Lesers. Sylvia Plath erzählt von den hohen Anforderungen der Gesellschaft, denen sie sich beugt und die sie trotzdem kritisch hinterfragt: „Doch, genaugenommen, wieviel davon war eigentlich freier Wille? Wieviel davon war Denkfähigkeit, die ich von meinen Eltern mitbekommen habe, wieviel elterlicher Druck, zu lernen und gute Noten nach Hause zu bringen, die Notwendigkeit, eine Alternative zur gesellschaftlichen Welt der Jungs und Mädchen zu finden, zu der ich nicht zugelassen war? Und stammt der Wunsch zu schreiben nicht aus einer Neigung mich nach innen zu orientieren, die sich bei mir schon als Kind zeigte, als ich in der Märchenwelt lebte, mit Mary Poppins und Winnie-the-Pooh?“

Sie ist eine strebsame Studentin, die nach dem abgeschlossen College sogar ein Stipendium für Cambridge erhält. Sie arbeitet als Gastredakteurin bei der „Mademoiselle“ und bietet ihre literarischen Werke Zeitungen an, wartet auf Zusagen für Veröffentlichungen, hadert mit Absagen und nimmt die Ratschläge der Redakteure für Verbesserungen der Texte an. Ich komme manchmal als Leserin kaum zum Luftholen, so viel passiert in dem Leben dieser bemerkenswerten Frau. Ich schätze die offene und reflektierende Art, die eine eigene Welt und die der anderen zu betrachten. An einer Stelle analysiert sie ein Gedicht, das sie verfasst hat, betrachtet es, legt es geradezu unters Mikroskop – so fühlt sich die Analyse für mich an und erklärt, warum sie so schreibt wie sie schreibt: „Da meine weibliche Welt stark durch Gefühle und Sinne wahrgenommen wird, behandle ich sie auch dementsprechend in meinem Schreiben, und das ist dann oft überladen mit langweiligen Beschreibungen und einem Kaleidoskop von Vergleichen“. Zwischen den zahlreichen Betrachtungen und Reflexionen stoßen aber weise Gedanken an die Oberfläche, sie legen sich wie Balsam auf die Seele: „Ob man in einem Streit gewinnt oder verliert, ob man eine Zu- oder Absage erhält, sagt noch nichts über Gültigkeit und Wert der persönlichen Identität. Man kann sich irren, einen Fehler machen, handwerklich schlecht oder bloß unwissend sein – das alles entspricht in keinster Weise dem wahren Wert der gesamten eigenen Identität als Mensch: weder der früheren, noch der gegenwärtigen, noch der zukünftigen!“

Die privaten Aufzeichnungen sind literarisch und menschlich gesehen einmalig und äußerst beeindruckend. Es ist die poetische und kraftvolle Sprache, die aus den vielen Briefen und Tagebucheinträgen hervorsticht. Kleine glitzernde Wortdiamanten, von denen ich nie genug kriegen konnte. Sie sind brillant und für mich unvergesslich. Mögen einige Täler in Sylvia Plaths Seele bisweilen finster sein und jedes Tageslicht schlucken, enthalten die Seiten auch so unendlich viele kraftvolle Passagen, die stark machen. Während ich dies schreibe, überlege ich: Gehört das auch nicht alles dazu? Das Fallen und das Sich-Suchen und das Sich-Finden? Die kritische Auseinandersetzung mit dem eigenen Leben und den persönlichen Befindlichkeiten? Nur tragisch, dass die Autorin am Ende für sich keinen anderen Ausweg mehr sah, als sich umzubringen. Da war sie gerade mal 31 Jahre jung. Ein Jahr jünger als ich. Dies macht mich unendlich traurig, aber ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass sie mir von da oben zuschaut und jetzt in dem Augenblick lächelt, in dem ich über das literarische Erbe lächle, das sie uns zurückgelassen hat.

Sylvia Plath.
Zungen aus Stein. Erzählungen.
September 2012, 300 Seiten, 14,90 €.
Frankfurter Verlagsanstalt.

Und hier sind noch weiterführende Links zu Sylvia Plath:
http://cms.frankfurter-verlagsanstalt.de/fva.php?page&p=DE,2416,,,,
http://www.suhrkamp.de/autoren/sylvia_plath_3747.html?d_view=veroeffentlichungen
http://www.sylviaplath.de/
http://www.facebook.com/SylviaPlathAuthor

Vibrationen.

„Heimsuchungen“ von Chimamanda Ngozi Adichie ist ein Buch, das alles in mir in Bewegung setzt und mich aufspringen lässt. Wie stellt die Autorin das nur an? Hat sie doch einen ruhigen, klaren Erzählstil, der mich an Alice Munro erinnert.

Die Stimme ähnelt einem stillen See, der aussieht, als wäre er ein glattes Tuch. Von aufwühlenden Strömungen kann keine Rede sein und dennoch spüre ich Vibrationen vom Zeh bis in den Kopf. Es ist das Innenleben ihrer zwölf Erzählungen, die wie kleine Kontrastmittel Dinge beleuchten, was sonst nur die Technik vermag. Die Autorin bewegt sich zwischen Nigeria und Amerika, schreibt über die Unruhen in Nigeria und über die Hoffnung in dem großen Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Sie verdeutlicht die Widerstände in Nigeria und die Kulturunterschiede beider Länder. Warmes wird kalt, Helles wird dunkel.

Gleich in der ersten Erzählung „Zelle eins“ legt die Autorin ihrem Protagonisten Nnamabia eine Beobachtung in den Mund, die mich aufhorchen lässt. Der junge Student ist verhaftet worden, weil er die Ausgangssperre nicht eingehalten hat. Nun berichtet er seiner Familie von den Zuständen auf der Polizeiwache: „Wenn Nigeria wie diese Zelle regiert würde“, sagte er, „hätten wir in diesem Land keine Probleme. Alles ist durchorganisiert. Unsere Zelle hat einen Chef, General Abacha, und er hat einen Stellvertreter. Wenn du eingeliefert wirst, musst du ihnen Geld geben. Wenn du’s nicht tust, kriegst du Ärger.“ Hatte er Geld? Ja, hatte er, versteckt in seinem After. Die Geschichte führt immer tiefer in die Machenschaften der Gefangenen, durchleuchtet die Brutalität und rüttelt den übermütigen Nnamabia mehr und mehr auf. Währenddessen berichtet seine Schwester von der Außenwelt, so gab es erneut einen Kultangriff auf dem Campus. Die Axt bewegt sich weiter und haut unerschütterlich zu.

Etwas ruhiger scheint die anschließende Erzählung „Imitation“, in der Nkem von der Geliebten ihres Mannes erfährt. Sie lebt in Amerika und ihr Ehemann pendelt zwischen Nigeria und den Vereinigten Staaten hin und her. Die Schwangerschaft brachte Nkem nach Amerika. Stolz war sie damals, „weil sie in die begehrte Klasse der reichen Nigerianer eingeheiratet hatte, die ihre Frauen für die Geburt der Kinder nach Amerika schickten.“ Ein Haus wurde gekauft, obwohl anfangs nie die Rede davon gewesen war, länger zu bleiben. Mittlerweile lebt Nkem in Amerika und ihr Mann kommt nur in den Sommerferien in die neue Heimat. Warum wählt er so ein geteiltes Leben? Eine Bekannte von Nkem bringt es auf den Punkt: „Weil Amerika keine Großen Herren anerkennt. In Amerika sagt keiner: Sir! Sir!“ Das scheinbar sichere Leben von Nkem bekommt jetzt Risse, die Nkem nicht stopft, sondern hindurchschlüpft und der aufkommenden Rebellion nachgibt. Das Ruhige erliegt dem Kampf.

Mindestens genauso einschneidend ist „Ein privates Erlebnis“. In der Erzählung fokussiert Adichie neben einem religiösen Gewaltakt zwei Frauen aus verschiedenen Verhältnissen, die nach den Ausschreitungen auf einem Markt in einen Laden flüchten. Nach der Ankunft wird ihnen bewusst, was sie verloren haben: Die Händlerin eine Kette und ihre Tochter. Die Medizinstudentin ihre Burberry-Tasche und ihre Schwester. Hier werden die Gegensätze wie ein vorsichtiger Stoß spürbar, ohne zu bewerten, schieben sich die Unterschiede vors Gesicht. Chika ist Igbo-Christin, die andere Muslimin, die gebrochene Sprache zwischen den beiden Frauen agiert als dokumentierendes Element. Chikas Mutter reist zu Geschäftsreisen nach London, die Händlerin hingegen hat sechs Kinder zu versorgen und verkauft Zwiebeln auf dem Markt, dort wo sich Igbo-Christen und Hausa-Muslime einen Kampf geliefert haben. Langsam nähern sich die beiden in ihrem Gespräch an. Während sich Chika bedeckt hält, scheut die Händlerin nicht davor zurück von ihren brennenden Brustwarzen zu sprechen und ihre Bluse auszuziehen, als sie erfährt, dass Chika Medizin studiert. Chika ist immer noch betroffen von dem einschneidenden Erlebnis: „Sie und ihre Schwester sollten von dem Gewaltausbruch nicht betroffen sein. Über solche Gewaltausbrüche las man in Zeitungen. Sie stießen anderen zu.“

Das Radikale lauert in jeder Geschichte und bricht vulkanartig aus. Das Erzählte brodelt aus dem Drama, das sein Gesicht zeigt, erschütternde Vibrationen schlängeln sich durch die Sätze, führen eine tiefe Bestürzung herbei, schnüren mir an manchen Stellen die Kehle zu, dass ich nicht schlucken kann und mich festkralle. Die Autorin bewegt sich zwischen beiden Ländern wie ein Pendel, spricht den jungen Nigerianern aus der Seele, die in Amerika auf ein besseres Leben hoffen und nicht selten an spitze Kanten stoßen. Beziehungen, die durch die Distanz auf eine harte Probe gestellt werden, plötzlich andere Formen annehmen, mit denen keiner gerechnet hat. Leichte Träume, die sich auf einmal anfühlen, als wären sie schwere Steine. In alldem vereint Adichie das Afrikanische und Westliche, bewegt sie aufeinander zu und erzeugt damit einen ganz eigenen Ton, bei dem nicht an Ruhe zu denken ist. Es vibriert jederzeit.

Chimamanda Ngozi Adichie.
Heimsuchungen.
April 2012, 300 Seiten, 19,99 €.
S. Fischer Verlag.

Über die Autorin:
Chimamanda Ngozi Adichie wurde 1977 in Nigeria geboren. Sie lebt heute in Nigeria und den Vereinigten Staaten und ist eine der bedeutendsten Stimmen Afrikas. Ihr erster Roman „Blauer Hibiskus“ stand auf der Longlist für den Booker Prize, der Roman „Die Hälfte der Sonne“ gewann den Orange Prize for Fiction. Adichie steht auf der renommierten Liste der „20 besten Schriftsteller unter 40“ des „New Yorker“.

Nichts ist spannender als die Wirklichkeit.

Miranda July! Miranda July! Miranda July! Miranda July! Miranda July!

Liebe Miranda July,

ich bete zu den Göttern, dass mein Ruf laut genug ist und du mich findest. Endlich möchte ich dir sagen, wie großartig ich deine Arbeit finde. Hab bitte Nachsicht, dass ich meine Gedanken in meiner Muttersprache schreibe, denn darin fühle ich mich am besten aufgehoben. Das Englische ist für mich ein Boomerang, den ich nicht immer ganz so gut beherrsche und blamieren möchte ich mich nicht, nicht vor dir und den anderen. Du wirst das bestimmt verstehen. Das Sie habe ich übrigens umschifft, immerhin sind wir fast gleich alt.

Auf gewisse Weise fühle ich mich mit dir verbunden, auch weil du das July in deinem Namen trägst, meinen Geburtstagsmonat. Meine Augen blitzen auf, wenn ich deinen Namen lese. Ich liebe deine Filme, deine Geschichten und Kunstwerke. Für mich bist du eine Zauberin des Alltags, die aus kleinen Nebensächlichkeiten strahlende Schätze kreiert. Ich denke hierbei an die PR-Aktion zu deinem Erzählband „No One Belongs Here More Than You“, bei der du deinen Kühlschrank und Herd beschrieben hast. Oder das Video „How to make a button“, in dem du uns zuckersüß zeigst, wie man Knöpfe herstellen kann. Unglaublich! Die kleinen Dinge werden mit dir zu riesigen Ereignissen, die magisch anziehen und mich glücklich machen. Du schenkst mir stets ein charmant-verrücktes Lächeln, das haften bleibt, als hättest du es mir höchst persönlich angeklebt. Exklusiv für mich das Miranda-July-Lächeln. Wirklich großartig! Du schärfst meinen Blick, schubst meine Kreativität mit einem Elektrostoß an und begeisterst mich. Da war es sonnenklar, dass ich dein neues Buch lesen musste, über das ich jetzt im Anschluss schreiben werde. Ich werfe meinen Hut und verneige mich vor dir. Thanks a lot! Ich werde deinen Rufen weiterhin folgen.

Herzlichst,

Klappentexterin

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Miranda July ist eine der kreativsten Menschen unserer Zeit. Aber wie alle Kreativen bleibt auch sie vor einer Schaffenskrise nicht verschont. Als sie im Sommer 2009 bei der Arbeit an ihrem Film „The Future“ nicht weiterkommt und die Finanzierung noch unsicher ist, bummelt sie lieber im Internet herum und verrichtet freudlos die Hausarbeit. Dienstags hingegen weht ein frischer Wind in Miranda Julys Heim, weil dann das Anzeigenblatt „PennySaver“ in der Post steckt. Sie liest das Blatt wie eine Detektivin und ist begeistert: „Jede Anzeige war wie ein sehr kurzer Zeitungsartikel.“ Wer steckt hinter den wenigen Zeilen? Ihre Neugier führt sie schließlich zum Telefonhörer. Miranda July ruft den Anbieter einer Lederjacke an und fragt den Mann, ob sie sich die Lederjacke anschauen und ein Interview mit ihm durchführen könnte. Als Entschädigung für den Zeitaufwand würde sie 50 Dollar zahlen. Michael willigt ein. Damit kommt der Stein ins Rollen.

„Diese Gelegenheit, meiner Höhle zu entkommen, war himmlisch.“ Das ist der erste Satz, der Mirandas Erleichterung zusammenfasst, ich höre förmlich ihr Aufatmen. Gemeinsam mit ihrer Freundin Brigitte Sire und ihrem Assistenten Alfred macht sich Mirandy July auf den Weg. Brigitte ist die Fotografin und Alfred der Beschützer, „damit wir nicht vergewaltigt wurden“.

Michael ist der erste von zehn Menschen, die das Team im Laufe der Zeit zu Hause besuchen wird. Er trägt eine „brombeerefarbene Bluse, Busen und lachsrosa Lippenstift“ und ist mehr Frau als Mann, denn Michael unterzieht sich einer Geschlechtsumwandlung. Das ist das erste, was er an der Tür sagt, bevor er sie in ihr Reich lässt. Die drei folgen seiner Einladung und schlüpfen in die Wohnung. Nach dem Betrachten der Lederjacke, eröffnet Miranda July das Gespräch und fragt Michael ohne Umschweife nach seiner Geschlechtsumwandlung. Mit dieser natürlichen Offenheit begegnet sie auch den anderen Männern und Frauen. Wie Ron, der ein siebenundsechzigteiliges Hobbymalset verkaufen möchte und eine elektronische Fußfessel trägt oder Pam, die Fotoalben von fremden Menschen anbietet, die sie gekauft hat und sich damit in fremde Welten träumt. Besonders bewegend ist die Beziehung, die sich zwischen Joe und Miranda July entwickelt. Mit dem Interviewten freundet sie sich an und gibt ihm eine Rolle in ihren Film. Erschrocken bin ich hingegen über Domingos Innenleben, das er sich an die Wand klebt. Auf diese Bekanntschaft ist Miranda July zufällig gestoßen, als sie Domingos Schwester aufsuchte, die Glücksbärchis inseriert hatte.

Meist dienen die angebotenen Dinge im „PennySaver“ als Türöffner. Miranda July fragt stets nach dem Grund der Anzeige und löst eine Kettenreaktion aus, die mitten hinein in das Leben fremder Menschen führt. Es sind Frauen und Männer, mit denen die Künstlerin sonst nicht in Kontakt treten würde. Nach dem Gespräch bei Pauline und Raymond schreibt sie: „Es erschien plötzlich sonnenklar, dass die ganze Welt, und besonders Los Angeles, darauf angelegt war, mich vor genau diesen Leuten, mit denen ich mich nun traf, abzuschirmen. Es gab kein Gesetz dagegen, ihre Bekanntschaft zu machen, aber es passierte einfach nicht. L.A. ist keine Stadt für Fußgänger und hat kein nennenswertes U-Bahn-System – sofern sich nicht jemand in meiner Wohnung oder meinem Auto aufhält, werden wir uns also nie an ein und demselben Ort befinden, nicht einmal für einen Augenblick.“

Miranda July liegen immer zwei Dinge am Herzen: Das Glück und Computer. Fast jedes Mal fragt sie die Menschen nach dem glücklichsten Moment in ihrem Leben und ob sie einen Computer haben. Erstaunlicherweise besitzen die meisten keinen PC, dafür eine Handvoll Geschichten, die aus ihnen fontänenartig aus den Mündern strömen. Manche berühren, manche erschrecken. Mal blinzelt mir die Sonne ins Gesicht und mal erfasst mich ein kalter Regenschauer. Es sind die Fotos, die dem Ganzen die Distanz rauben und mir das Gefühl schenken, als wäre ich direkt vor Ort, würde bei Primila im Wohnzimmer sitzen und mit meiner Hand über den Sari fahren. Ich spüre die feuchte, glibschige Ochsenfrosch-Kaulquappe, die Andrew im Anzeigenblatt anbietet und Miranda July zeigt. Brigitte Sire fängt die persönlichen Puzzleteile mit ihrer Kamera ein, übersieht auch die feinen Details nicht wie die weiß-blonde Frauenperücke in Michaels Wohnung oder der ausgestopfte Tierhintern von einem Reh, der bei Beverly an der Wand hängt. Die Fotos holen mich noch näher an die Menschen heran, die plötzlich keine Fremden mehr sind. Das Objektiv zoomt sich in das Privatleben, ohne aufdringlich zu wirken.

Das Buch „Es findet dich“ schüttelt mich wie ein Mixer durch, weil die einzelnen Geschichten allerhand mit mir anstellen. Ich komme eigentlich gar nicht richtig zum Luftholen, überall lauern Überraschungen. Komische Situationen lassen mich auflachen und bringen meine Augen zum Flattern. In anderen Momenten spüre ich eine Gänsehaut, das Herz fühlt sich zentnerschwer an, ich bin zutiefst betroffen und ringe nach Luft. Miranda July bleibt bei allem sehr menschlich und liebenswert. Sie redet nichts schön und spricht alles an, was ihr durch den Kopf geht. In ihrem Buch gibt sie auch sich selbst Platz und lässt den eigenen Gedanken freien Lauf. Sie schreibt über die Eindrücke, die die Besuche bei ihr hinterlassen, hinterfragt Dinge und natürlich blitzt immer wieder ihr Drehbuch auf. So ist das Ganze auch sehr ein persönliches Werk geworden.
Ihrem bemerkenswerten Feingefühl ist es zu verdanken, dass sich die Interviewten wie Muscheln öffnen. Miranda July zeigt, wie spannend das Leben draußen jenseits des Internets sein kann und wie weit man mit offenen Augen kommt. Es gibt sie, die Geschichten, du musst nur aufmerksam sein. Dann findest du sie oder sie dich. Und irgendwo dazwischen lauert das Glück.

Miranda July.
Es findet dich.
Februar 2012, 220 Seiten, 22,90 €.
Diogenes Verlag.

PS:  Den Film „The Future“ gibt es jetzt übrigens auf DVD:

PS1: Zauberhaft fand ich ihren ersten Film „Ich und du und alle, die wir kennen“:

PS2: „No One Belongs Here More Than You“ gibt es auch auf Deutsch: