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Broken Angel.

Ich habe noch nie einen Engel mit gebrochenen Flügeln gesehen, aber jetzt scheint so ein Wesen in meine Lesewelt gefallen zu sein. Der Engel heißt Anna und taucht in „Wenn die Nacht am stillsten ist“ von Arezu Weitholz auf.

Die Geschichte beginnt mit einem Monolog, der von einem wundervollen Einstiegssatz eröffnet wird: „Am Ende geht es um den Moment.“ Weise Worte aus dem Mund einer gebrochenen jungen Frau, die vor ihrem schlafenden Geliebten sitzt. Er hat Tabletten genommen, um der Welt zu entfliehen. Eigentlich müsste Anna einen Krankenwagen rufen, doch sie tut es nicht: „Notfälle kamen in deiner Welt nie vor.“ Sie haben nie darüber gesprochen. Also lässt sie ihn schlafen und redet sich alles von der Seele. Von den Dingen, die schon viel zu lange in ihr brodeln und die mit jedem Atemzug in die Schatten der Nacht fliegen wollen. Bis jetzt hat Anna ihr Leben vor Ludwig geheim gehalten und den kühlen Mann so hingenommen, wie er war. Nun öffnet sie sich wie eine Mondscheinblume, die das Tageslicht scheut und erst in der Dunkelheit aufblüht.

So erzählt Anna von ihrer depressiven Mutter, die im Altenheim lebt und von ihrem Vater, der sich umgebracht hat. Es sind die Opfergeschichten, die Ludwig so bezeichnete, und die er nie hören wollte. Bei Ludwig drehte sich bislang das ganze Schaffen und Sein um das Gewinnen, um das Vorwärtskommen. Hinfallen und Verlieren waren Fremdwörter, gehörten nicht in seinen Sprachjargon: „In deiner Welt kämpfen die Leute um Anerkennung, um Positionen, um Macht. Deine Waffen sind dein Verstand und die Schwächen der anderen.“ Bei solchen Beschreibungen zieht sich bei mir alles zusammen und ich fröstele. Draußen tanzt der Spätsommer, drinnen haust der Winter. Dieser Monolog spaltet sich in zwei Hälften. Einerseits spricht eine verlorene Seele über ihren Kummer, ihre Gedanken und Gefühle. Andererseits rechnet sie mit der gefühlskalten Welt ab, in der sich beide bewegen. Weiche Worte spülen harte Steine an die Oberfläche und hinterlassen bei mir Spuren.

Luftholen kann ich schließlich, als sich das Blatt ein wenig verschiebt und Arezu Weitholz aus dem Kopf der Protagonistin steigt. Dann wechselt die Perspektive, aus dem „Ich“ wird eine „Sie“, doch nah bleibt Annas Geschichte trotzdem, weil sie so unendlich traurig und in einem Mantel aus Gefühlen gehüllt ist. Ich suche Sonnenseiten und finde keine, nur lichte Momente, wie die, als Anna mit ihrem Fisch spricht. Er reicht ihr eine Schnur, an der sie sich festhält. Dante fängt ihre Sätze auf, guckt sie an und dreht weiter seine Runden. Es scheint, als sprächen sie die gleiche Sprache, wobei der Fisch in seinem Schweigen verharrt, stört Anna das nicht im Geringsten und so redet sie weiter.

Arezu Weitholz hat die finstere Nacht in ihren Roman geholt, Tageslicht oder Sonnenschein tauchen nicht auf. Es bleibt zappenduster, was mich bisweilen ein wenig stört. Ich suche in Büchern so gern die Hoffnung, mag sie auch noch so klein sein, ein umherschweifendes Staubkörnchen, egal, aber ich wünsche sie mir am Ende. Ich mag die Sonne nach einem verregneten Tag und seufze, wenn sie ausbleibt wie hier. Aber hätte sie in die Geschichte wirklich hineingepasst? In diese merkwürdige Beziehung von zwei Menschen, die sich irgendwann verloren haben? Eine Geschichte, die mich wütend macht und ohnmächtig zurücklässt. Menschen, die nicht loslassen wollen und sich in ihren Rollen eingerichtet haben und nicht hinauskommen. Sie sitzen auf ihren Sofas und verharren der Dinge wie stumme Fische. Einzig das Mondlicht schenkt ihnen für kurze Momente kleine Ausbrüche, die jedoch schnell wieder verschwinden, so dass sich diese Augenblicke immer noch kalt anfühlen. Ja, ich weiß: „Am Ende geht es um den Moment.“

Es ist schon ein sehr bedrückendes Leseerlebnis, zu sehen, wie Anna sich um ihre rebellierende Mutter im Altenheim kümmert und selbst versucht, die Liebe zu Ludwig für sich zu richten, ein bisschen Hoffnung zu schmecken. Sie schwankt, erwartet Zuneigung und weiß gleichzeitig, dass Ludwig ihr das nicht geben kann. Oder viel mehr will, weil er so absurde Ansichten hat: „Alles, was ich tue, soll einen Sinn ergeben. Für mich muss es das. Ich betreibe Gedankenhygiene: Duschen. Abtrocknen. Desinfizieren. Aufschreiben. So bin ich, und ich ändere mich nicht. Nicht, weil ich es nicht will. Ich will es nicht können, und ich kann es nicht wollen. Es gibt kein Mädchen für mich.“ Anna liebt den Moment, Ludwig zerstört ihn. Für ihn sind das Befreiungsschläge. Er selbst nennt sich hermetisch. Das gruselt und schlägt mir mitten ins Gesicht. Eine Ohrfeige, die brennt.

Zärtlichkeit finde ich dafür reichlich in den poetischen Sätzen, die meine Augen zum Leuchten bringen. Darin liegt für mich die Kraft des Romans. Sprachlich gesehen, ist er an vielen Stellen meine Welt: Philosophisch, nachdenklich, melancholisch und teilweise frech. Plötzlich schießen Anna Äußerungen aus dem Kopf, die wie Nadeln stechen. Die kleinen Rebellionen richten Anna für Momente auf, bis sie erneut vor mir zusammensinkt und ich ein großes Bedürfnis habe, sie zu aufzufangen, ihren gebrochenen Flügel wieder zu richten. Inhaltlich bleibe ich gespalten. Das liegt vorrangig an den merkwürdigen Menschen, zu denen ich keinen Zugang finde. Was die eine Seite mag, gefällt der anderen Seite weniger. So ist es wohl, wenn das Ying sich nicht mit dem Yang versteht. Manchmal muss es solche Reibungspunkte geben, vor allem dann, wenn Harmonie nicht erwünscht ist und das Drama sich am dunklen Himmel den Platz mit dem Mond teilt.

Nein, am Ende ist Anna kein richtiger Engel. Dafür sind ihre Taten nicht himmlisch genug und doch werde ich das Bild einfach nicht los. Anna ist ein gebrochenes Wesen, das ich tragen und dem ich das Fliegen zeigen möchte. Anna ist auch ein Wesen, das ich schütteln und dem ich ins Gesicht rufen möchte: „Steh auf! Vergiss den ganzen Dreck der Vergangenheit und such endlich dein Glück! Das gibt es.“ Schade, dass ich diese leuchtende Hoffnung am Ende des Romans nicht gefunden habe und im Dunkel der Nacht versunken bin.

Arezu Weitholz.
Wenn die Nacht am stillsten ist.
September 2012, 224 Seiten, 17,95 €.
Verlag Antje Kunstmann.

Und hier gibt es noch einen Programmhinweis für alle Berliner:

Arezu Weitholz liest am Donnerstag, 13.09.2012 um 20 Uhr in der Buchhandlung Moby Dick, Stargarder Straße 67, 10437 Berlin, Telefon: 030. 40 04 57 57, aus „Wenn die Nacht am stillsten ist“. Der Eintritt kostet 5,- €.

Wenn Kühe Buchstabenmilch geben könnten.

Ich habe das Buch noch nicht einmal aufgeschlagen und bin schon verliebt. Das fällt mir auch nicht schwer bei dem wunderschönen Cover und dem Titel: „Ada liebt“. Da huscht ganz automatisch ein stilles Lächeln über meine Lippen, die Augen blitzen kurz auf und das Herz hüpft aufgeregt.

Viel ist schon über dieses Buch geschrieben worden, auch ich möchte meine Begegnung mit diesem Roman nach draußen rufen. Wie ungewöhnlich die Liebe zwischen Ada und Bo ist. Wie lesenswert und einzigartig! Nicole Balschun erzählt die Geschichte vom Sommer und Winter. Genauso kommt mir der Roman vor, ja, gegensätzlicher können zwei Liebende nicht sein. Ada ist ein Kopfmensch und Literaturwissenschaftlerin. Bo hat einen Bauernhof, melkt Kühe und arbeitet nebenbei als Sargträger.

Ada trifft Bo zum ersten Mal auf der Beerdigung ihrer Tante. Er taucht bei der dritten Strophe eines Liedes auf und in Ada regt sich sofort etwas, als sie Bo erblickt: „Ich sah ihn und dachte an meine Mutter, die mich immer gefragt hatte, kannst du es fühlen, Ada, und jetzt fühlte ich es und sah Bo an und mein Blick ging zu meinem Vater, der meine Hand nahm und leise weinte.“

Ada ist eine seltsame junge Frau, die ich öfter mal durchschütteln möchte, weil sie in mir ein Unbehagen auslöst und ich denke, sie könnte es viel einfacher haben, wenn sie nur wollte, aber nein, das möchte sie nicht. Stattdessen schiebt sie Tiefkühlpizzen in den Ofen und vergräbt sich in ihrer eigenen Welt, lässt Worte in ihrem Kopf wie Flugzeuge kreisen, die auf eine Landeerlaubnis warten. Statt ihnen die Erlaubnis zu erteilen, hält sie an deren Flüge fest und verfängt sich fast in einer Sprachlosigkeit, die viel kaputt macht und mich in den Wahnsinn treibt.

Schon als junges Mädchen ist Ada lieber mit sich allein. Einzig die Bücher sind ihre wahren Freunde, mit denen sie die Zeit verbringt, als Schülerin wie als junge Frau. Bo hingegen ist draußen im wirklichen Leben bei seinen Kühen und Schweinen glücklich. Wenn Ada bei ihm schläft, jucken ihre Füße und doch öffnet sich der Landwirt dieser geistigen Frau, die ihm aus Büchern vorliest. Diese Szenen sind so zauberhaft und herzergreifend, dass ich nur aus tiefstem Herzen seufzen kann. Ada hingegen bleibt stur. Sie kann sich zunächst nicht mit den landwirtschaftlichen Dingen anfreunden, denn „dieses Ziehen an den Eutern machte aus Bo etwas Tierhaftes, weil seine Finger und die gleichmäßige Bewegungen seines Körpers mit der Kuh verschmolzen und Bo Kuh wurde und ich Bo schön fand, wie er war, ohne Euter.“ Und doch ist da die Kraft der Liebe, die an ihr zieht, wie der Bauer am Euter seiner Kuh.

Diese Liebe ist wirklich zum Mäusemelken! Mitten im Winter hatte ich einen heißen Kopf und mein Bauch fuhr Achterbahn. Nicole Balschun hat mit der Leichtigkeit einer Feder ein kleines Liebesmelodram geschrieben, bei dem ich gleichzeitig schniefe und grinse. Die junge Autorin zeigt uns, dass die Liebe keine Grenzen kennt und auch vor einem Misthaufen nicht Halt macht. Ada ist eine Kratzbürste bester Güte, die so komisch ist, dass ich Bo für seine Geduld danke. Er ist das offene Feld und sie der zugeschüttete Graben. Die Autorin hebelt die melancholischen Töne aus und schenkt mir oft ein verschmitztes Lächeln. Und manchmal wünsche ich mir sogar, dass Kühe Buchstabenmilch gäben. Das würde Ada sicherlich glücklich stimmen und einiges erleichtern. Ja, die Liebe könnte so schön einfach sein, aber würde sie dann so wunderbare Romane wie diesen hervorbringen?

Nicole Balschun.
Ada liebt.
Februar 2012, 190 Seiten, 8,99 €.
DuMont Buchverlag.

Über die Autorin:

Nicole Balschun wurde 1975 in Leer geboren und studierte Literaturwissenschaften und das Lehramt an Förderschulen. Sie lebt mit ihren beiden Kindern in Hannover und hätte immer gern ein Hausschwein gehabt.

Der perfekte Liebeskummerroman!

Wenn ich könnte, dann würde ich mit Dominique einen Kaffee trinken, irgendwo in einem Pariser Café. Um uns herum gäbe es ein lautes Stimmengewirr. Ich würde sie fragen, wie es ihr geht und was aus der Sache mit Luc geworden ist. Aber das funktioniert nicht, weil es sich bei Dominique nur um eine Romanfigur von Françoise Sagan handelt. So bleibe ich schweigend zurück, blicke auf „Ein gewisses Lächeln“ von der französischen Schriftstellerin, in dem Dominique von ihrer Affäre mit Luc erzählt. Was für eine mitreißende, sinnliche und tragische Liebesgeschichte, die wieder den typisch französischen Charme versprüht.

Dominiques Leben hat etwas von einem ruhigen See. Die Studentin lebt in den Tag hinein, studiert an der Sorbonne und ist mit Bertrand zusammen. Er ist ihr erster Liebhaber, mit dem sie den Duft ihres Körpers kennengelernt hat. Françoise Sagan entzückt mich mit einer wunderschönen Beschreibung: „Man entdeckt den eigenen Körper, seine Länge, seinen Geruch, immer an den Körpern der anderen – erst mit Mißtrauen, dann mit Dankbarkeit.“ Eine wohlige Zärtlichkeit setzt sich zu mir und haucht ihren sanften Atem aus. Trotzdem nehme ich eine Unruhe in Dominiques weiteren Gedanken wahr, etwa eine bestimmte Sehnsucht, bei der die Füße unruhig hin und her wippen. Die Sehnsucht bekommt bald einen Namen, nur drei Buchstaben: Luc. Er ist der weitgereiste Onkel von Bertrand, der sie mit ihm bekannt macht. Das Eis zwischen den Fremden schmilzt und Dominique weiß sehr schnell: „Er mußte mein Freund werden.“ Das wird er auch, zusammen mit seiner liebenswürdigen Frau Françoise. Beide schließen Dominique ins Herz, sie kaufen ihr sogar einen Mantel, den sie zum Ärger von Bertrand annimmt. Bereits hier zeigt sich, dass Bertrand ein vollkommen anderer Mensch als Dominique ist, so anders, dass ich schon jetzt einen Riss in der jungen Liebe wahrnehme.

Dominique fühlt sich zu Luc hingezogen, „möchte dieses Gesicht“ in ihre Hände nehmen. Ganz zart, wie ein Schneeglöckchen, das sich durch die kalte Erde nach oben kämpft, nimmt die Beziehung zwischen Luc und der Studentin Gestalt an, ohne dass zunächst etwas passiert. Bis Luc ihr eines Abends einen Vorschlag unterbreitet: Er will ein Abenteuer. Dominique fühlt sich zunächst ein wenig überrumpelt: „Ich begann dumm zu lachen. Ich war unfähig zu reagieren.“ Aber Luc, der Charmeur, scharwenzelt um seine Katze, raubt ihr die Angst und spricht aus, was beide verbindet: „In gewisser Hinsicht“, sagte Luc ernsthaft, „gibt es da etwas. Ich will sagen: zwischen uns. Sonst habe ich im allgemeinen für junge Mädchen nicht sehr viel übrig. Aber wir sind vom gleichen Schlag. Ich meine, es wird weder so dumm noch so abgedroschen sein. Und das kommt selten vor. Also denken Sie darüber nach.“

Und so kommt, was kommen muss. Beide nähern sich wie zwei Tropfen aufeinander zu, die zu einem Fleck werden. Luc und Dominique sind Seelenzwillinge, die sich einfach finden mussten. Françoise beschreibt es Dominique so: „Sie haben die gleiche Natur wie Luc. Ihr seid beide etwas unglückliche Naturen, dazu bestimmt, von Venusmenschen wie mir getröstet zu werden. Sie können dem nicht entgehen…“ Während die eine Natur oben schwimmt, in dem Fall Luc, versinkt die andere immer mehr und verliert ihr Herz an diesem Mann, ohne es zunächst selbst wahrhaben zu wollen. Beide verbringen zwei Wochen an der Riviera, zwei glückliche Wochen, aus denen Dominique zum Ende nicht aussteigen möchte und die mehr nach sich ziehen werden, als sie es sich zunächst eingestehen will.

Wenn es einen idealen Liebeskummerroman gibt, dann diesen! Françoise Sagan begibt sich vollkommen in die Lage einer unglücklich Verliebten. Niemals wird es zu rührselig oder schwer, vielmehr sitzt eine Leichtigkeit zwischen den Zeilen und verscheucht das Tragische auf die letzten Reihen. Ich finde eine stille Melancholie, die sich hinter klaren und bildhaften Wörtern versteckt, beinahe so als würde der Mond leise seufzen und den Sternen zu zwinkern.
Die französische Autorin zeichnet auch das Bild einer Affäre, von der man von vornherein weiß, dass es nur einen Gewinner und eine Verliererin gibt. Obwohl ich Dominique nicht als solche bezeichnen möchte, denn sie ist ein Mädchen mit Kopf und Verstand, selbst wenn das Gefühl der Liebe sie zunehmend aufsaugt. Vieles kann ich nachempfinden wie die Worte, die sie anfangs über Luc fallen lässt: „Wahrscheinlich war er der erste Mensch, mit dem ich mich vollkommen wohl fühlte und nicht im geringsten langweilte.“ Vielleicht ist es das, was mich auf besondere Weise an das Buch bindet, denn wie Dominique kenne ich so einen Menschen. Nur hatte ich das Glück, dass ich ihn mir nicht teilen musste. Schade, ich hätte es Dominique gern erzählt. So bleibt mir das gewisse Lächeln, das ich insgeheim auf meinen Lippen aufblitzen lasse.

Françoise Sagan.
Ein gewisses Lächeln.
2011, 144 Seiten, 9,90 €.
Verlag Klaus Wagenbach.