Mark Twain und ich haben eine Gemeinsamkeit. Besser gesagt, wir teilen uns einen Satz: „Ich war schon immer kopflos.“ Darüber schmunzele ich noch jetzt wie über viele weitere Stellen aus „Meine geheime Autobiographie“, die Harry Rowohlt in einer gekürzten Hörbuchfassung meisterhaft vorliest. Dass der Sprecher und der Autor eine wunderbare Symbiose eingehen, konnte ich damals bei der Preview feststellen. Daher habe ich mich für diese Form entschieden. Eine gute Entscheidung, eine sehr gute, wie ich feststellen durfte.
Im Gegensatz zu anderen Rezensenten bin ich ohne große Erwartungen an dieses Werk herangegangen. Bisher kannte ich weder Mark Twain genauer, noch seine Romane. Die erste Lücke ist jetzt nach diesem Hörgenuss beseitigt, die andere möchte ich ebenfalls schnellstmöglich mit seinen Büchern schließen. „Tom Sawyers Abenteuer“ kenne ich aus Kindheitstagen nur aus dem Fernsehen. Weil die Bücherwelt die schönere von beiden ist, möchte ich demnächst lesend in das Mark Twain-Abenteuer steigen.
„Meine geheime Autobiographie“ ist ein bereicherndes Œuvre an Reflexionen, Gedanken und Beobachtungen, die der Autor im Laufe seines Lebens gesammelt hat. Es dauert nicht lange bis sich mein Herz für diesen Mann erwärmt. Ich erlebe großartige Augenblicke, als Mark Twain von der Zeit auf der Farm seines Onkels berichtet. „Für einen Jungen war sie ein himmlischer Ort, diese Farm meines Onkels John. Das Haus war ein doppeltes Blockhaus mit einem geräumigen (überdachten) Gang, der es mit der Küche verband. Im Sommer wurde der Tisch mitten in diesem schattigen und luftigen Gang gedeckt, und die üppigen Mahlzeiten – ach, ich muss weinen, wenn ich nur daran denke.“ Die folgende Aufzählung der köstlichen Speisen treibt nicht nur Mark Twain das Wasser im Mund zusammen. Ich rieche die duftenden Kekse und den geräucherten Schinken, schmecke die frisch gekochten Maiskolben. Wenige Sekunden später weiter verscheucht er das schlechte Gewissen sofort in den Keller, das sich bei solchen Schlemmereien automatisch einstellt: „Ich bezweifle, dass Gott uns irgendetwas geschenkt hat, was, in Maßen genossen, ungesund ist, ausgenommen Mikroben. Trotzdem gibt es Menschen, die sich alles und jedes Essbare, Trinkbare und Rauchbare, das sich einen zweifelhaften Ruf erworben hat, strengstens versagen. Diesen Preis zahlen sie mit ihrer Gesundheit. Und Gesundheit ist alles, was sie dafür bekommen. Wie seltsam das ist. Als verschleudere man sein gesamtes Vermögen für eine Kuh, die keine Milch mehr gibt.“ Das ist er, der waschechte Kritiker, der kein Blatt vor dem Mund nimmt und all das ausspricht, was ihn bewegt.
Mark Twain war ein aufmerksamer Beobachter der Gesellschaft, er schimpfte über Politiker und über die Reichen. Kritische laute Töne erlebe ich bei der Schilderung über das Massaker auf den Phillipinen, bei denen etliche unschuldige Menschen – die Wilden, wie sie bezeichnet wurden – ums Leben gekommen sind. Besonders rührend sind die Passagen, in denen seine Tochter Susy zu Wort kommt, die 1885 mit Fünfzehn die Biographie über ihren Vater begann. „Er ist ein sehr guter Mensch und ein sehr komischer. Er ist sehr aufbrausend, aber in unserer Familie sind wir das alle. Er ist der liebenswürdigste Mann, den ich je gesehen habe oder zu sehen hoffe – und oh, so zerstreut. Er erzählt ganz entzückende Geschichten.“ Mark Twain klinkt sich in Susys Aufzeichnungen ein und gibt seinen süßen Senf dazu, immer sehr liebevoll und rührend. Genauso herzerwärmend sind die weiteren Schilderungen über seine Familie und seine geliebte Frau, die für ihn mehr war als nur eine Frau. Sie war sein Fels in stürmischen Zeiten, sein Stern in den düsteren Momenten und so etwas wie seine Spielkameradin, war sie zeitlebens „Mädchen und Frau“. Diese Stellen waren meine liebsten, denn in ihnen findet sich so viel Liebe und Aufrichtigkeit, so dass mir an einigen Stellen fast das Herz still zu stehen schien und die Tränen kamen. Ich erinnere mich da besonders an den frühen Tod des einzigen Sohnes, Susy und dem seiner Frau.
Hatte ich anfangs Zweifel, ob mich die gekürzte Hörbuchfassung erfüllen würde, dachte ich in der Mitte des Werkes mit keiner Silbe mehr daran. Das Bild über Mark Twain wird mit jeder Minute runder. Ich lerne einen warmherzigen, leicht chaotischen und ehrlichen Menschen kennen, der zu seinen Leidenschaften wie zu seinen Fehlern gleichermaßen steht und auf vielseitige Weise aus der damaligen Zeit berichtet. Mark Twains Leben breitet sich wie eine bunte Patchworkdecke über mich aus, unter die ich gern krieche. Ich schmunzle an etlichen Stellen und spule bei manchen zurück, weil mich einige Sätze zutiefst beeindrucken. Sie sind klug, weise und liebreizend. Diese Freude habe ich auch Harry Rowohlt zu verdanken, der mit seiner Bärenstimme brummt, summt und geradezu Freude versprüht. Seine Zunge knetet die Worte zu einem wohligen Sound, der mich hungrig macht und mitreißt, so dass ich zum Schluss traurig und zugleich erfüllt bin, nachdem der letzte Satz verhallt ist.
Mark Twain.
Meine geheime Autobiographie.
Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Hans-Christian Oeser.
Vorgelesen von Harry Rowohlt.
Gekürzt, 05 Std. 15 Min., 13,95 €.
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