Vom Leben und Überleben.

Für gewöhnlich bespreche ich ja keine Bestseller. Keine Regel ohne Ausnahmen – so geschehen neulich bei Benedict Wells und heute erneut. Warum? Ganz einfach – auch sogenannte Bestseller sind hin und wieder richtig gute Bücher. Und liegen mir am Herzen. In diesem Fall sind es zwei stille Titel, denen trotzdem eine enorme und inspirierende Kraft innewohnt.   

Helga Schubert – Vom Aufstehen.   

Kaum ein Buch wurde in diesem Frühjahr mit so viel Neugier erwartet wie das neue Werk der über 80jährigen Ingeborg-Bachman-Preisträgerin aus dem vergangenen Jahr. Helga Schubert öffnet in „Vom Aufstehen – Ein Leben in Geschichten“ mit 29 Erzählungen ihr bewegtes Leben. Sie selbst schreibt: „Ich habe so viele Ursprünge, meine Wurzeln schleppe ich als Drachenschwanz verborgen immer mit mir…“  Schon sehe ich die in Berlin-Kreuzberg geborene Autorin vor mir: Eine echte Kämpfernatur, die trotz etlicher Entbehrungen und Rückschlägen keinen Groll in sich trägt. Davon zeugen ihre Texte ebenso wie Interviews in Funk und Fernsehen.

Helga Schubert verlor ihren Vater im Krieg, da war er gerade mal 28 Jahre jung. Sie wurde zum Flüchtlingskind, erlebte erst den Krieg, später das geteilte Deutschland und hatte in der DDR einiges auszuhalten.  Die Autorin betrachtet einerseits das große Ganze, andererseits zoomt sie uns ins kleine Private. Sie erzählt, warum die Karwoche für sie eine gewichtige Bedeutung hat. Und dass ein einziger kluger Satz, eine Gedichtzeile oder ein Liedanfang einen Menschen wieder aufrichten können. Gleich zu Beginn erzählt sie von ihren Sommerferien bei der Großmutter in Greifswald: Es ist warm und duftet nach Apfelkuchen. Kurz nach der Ankunft schaukelt sie zwischen zwei Apfelbäumen selig in ihrer Hängematte, den Duft von Muckefuck und frisch gebackenem Kuchen in der Nase. Muckefuck – welch‘ herrliches, vergessenes Wort! Kam auch in meinem Sprachschatz vor, hat die Klappentexterin doch die ersten neun Jahre ihres Lebens ebenfalls in der DDR verbracht. Die Lektüre ist damit auch eine Reise in meine eigene Vergangenheit.   

Ebenso berührend: Helga Schubert in ihrem Bett. „Die weiche Bettdecke bis unter die Nase. Ganz gerade gestreckt. Ganz gerade gestreckt. Hier bin ich sicher.“ Sie zögert das morgendliche Aufstehen hinaus, schreibt voller Zärtlichkeit über die kleinen Rituale des Morgens, die sie zusammen mit ihrem Mann erlebt. Während er ihr fünfzig Jahre lang das Frühstück zubereitet hat, übernimmt sie nach seiner Pflegebedürftigkeit den Part. Aber es ist noch Zeit, bis der Wecker klingelt. Helga Schubert schaut weiter zurück, erzählt von ihrer Mutter, mit der sie zeitlebens ein gespaltenes Verhältnis hatte. Aber die Autorin zeigt auch, dass Versöhnung möglich ist. 

„Vom Aufstehen“ ist ein weises Werk über das Leben einer außergewöhnlichen Frau im Spiegel der deutschen Geschichte. Völlig zu Recht steht es auf der Shortlist des Preises der Leipziger Buchmesse 2021 und hat noch viele weitere Leser*innen verdient!   

Helga Schubert: Vom Aufstehen – Ein Leben in Geschichten. dtv, März 2021, 224 Seiten, gebunden, 22,- €.

Hier findet ihr noch Links zu weiteren Beiträgen über Helga Schubert:

  • Auch meine geschätzte Buchhandels- und Bloggerkollegin masuko13 hat dieses Buch sehr ins Herz geschlossen. Nachzulesen hier.
  • radioneins Die Literaturagenten vom 28. März 2021. Entweder im Podcast nachzuhören oder surft auf die radioeins-Homepage und scrollt ein bisschen nach unten.
  • Denis Scheck hatte Helga Schubert am 25. April in seiner Sendung druckfrisch zu Gast, und auch Benedict Wells. Es lohnt sich also im doppelten Sinne, die Sendung nachzuschauen. Klickt einfach hier.

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Gabriele von Arnim – Das Leben ist ein vorübergehender Zustand   

Noch eine bewundernswerte Frau: Gabriele von Arnim. Über zehn Jahre lang hat die freie Journalistin ihren Mann gepflegt, der einen Schlaganfall erlitt. Genau an dem Tag, an dem sie ihn eigentlich verlassen wollte. Ein Anruf aus der Charité, und schon ist nichts mehr wie zuvor. Es blieb nicht bei einem Schlaganfall, gefolgt von Beeinträchtigungen im Artikulationszentrum, Lähmungen und Thrombosen. Folgen eines schonungslosen Lebens.   

Als ich endlich begriffen hatte, dass er nicht krank war und genesen, sondern krank war und krank bleiben würde, habe ich mich wehren müssen gegen die Resignation, gegen die Versuchung zu kapitulieren, gegen die Gefahr bitter, und die Sorge, einsam zu werden.“ Von Arnim wollte nie hadern und hat sich jedwede Bitterkeit verboten. Ein durchaus schmerzhafter Prozess.  Ihr Mann war vor der Krankheit ein aktiver Mensch, der gern erzählt hat. Und plötzlich ist er in seinem Kopf und Körper gefangen, denkt aber immer noch blitzgescheit. „Wie ist es, mit wachem Geist hinter Mauern zu sein?“ Eine von vielen Fragen, die sie selbst fünf Jahre nach seinem Tod noch beschäftigen.   

Einzig sie versteht, was er sagt, und übersetzt. Sie kämpft wie eine Löwin, entscheidet sich für eine neue Wohnung. Um sie herum ist alles Baustelle, trotzdem holt sie ihren Mann aus dem Krankenhaus. Sie will ihm eine würdevolle, friedvolle Umgebung schaffen. Und sie organisiert einen einzigartigen Lesekreis: 17 Menschen lesen ihm an festgelegten Tagen aus Zeitungen, Zeitschriften und Büchern vor.   

„Das Leben ist ein vorübergehender Zustand“ ist ein zutiefst berührendes Buch über Krankheit und die Auseinandersetzung mit dem Tod. Aber auch über das Leben, über Literatur und deren Kraft. Gabriele von Arnim webt Zitate von Autor*innen wie Joan Didion und Elisabeth Tova Bailey mit ein. Ebenso zahlreiche lebenskluge, wohltuende und nachdenkliche Sätze. Streicheleinheiten für unsere aufgeregten Seelen. 

Gabriele von Arnim beobachtet und denkt, seziert jedes Gefühl, jeden Gedanken. Sie versucht, die Welt mit den Augen ihres Mannes zu sehen, übt sich im schwierigen Spagat zwischen Pflege und Selbstpflege. Sie lädt Freunde ein und organisiert am Ende ein letztes Weihnachtsfest zu zweit. Bewundernswert und rührend zugleich. Ihr Mann ist dem Tod nahe, aber die Ärzte wollen ihn noch einmal operieren. Sie erhebt energisch ihre Stimme: „Weil für Ärzte noch immer der Tod ihr Feind ist und dessen Sieg ihre Niederlage. Also wollen sie retten. Nur retten für was? Ein Leben im Koma? An Schläuchen und Tröpfen? Was ist das für eine Rettung, wenn die erstrebte Lebensverlängerung tatsächlich nur das Dahinsiechen und damit oft auch die Qual verlängert wird.“ Wahre Worte!  

An anderer Stelle heißt es: „Wir brauchen Geschichten, um zu leben. Wir brauchen Geschichten, um das Leben zu verstehen.“ Und wir brauchen solche Bücher, weil sie erleuchtend und wertvoll sind. Mutig obendrein, lässt uns Gabriele von Arnim doch an ihrer eigenen, intimen Geschichte teilhaben. Verneigen wir uns davor, dass sie so all denjenigen eine Stimme gibt, die ein gleichwertiges Schicksal durchleiden mussten und immer noch müssen.   

Gabriele von Arnim: Das Leben ist ein vorübergehender Zustand. Rowohlt, März 2021, 240 Seiten, gebunden, 22,- €.

4 Gedanken zu „Vom Leben und Überleben.

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