Vom Gestern und vom Heute.


Ich weiß nicht, wie viele Sekunden ein Atemzug braucht, aber ich weiß, dass er sich mit diesem Buch sehr intensiv anfühlt, unwahrscheinlich lange, Zeitlupentempo wäre vielleicht ein passender Begriff dafür. Es ist ein bewusstes Senken und Heben des Brustkorbes, ein Auf und Ab, die Augen fahren über Marica Bodrožićs Worte, in denen ich aufgehe, innehalte, verweile, aus der S-Bahn schaue und dem Echo des Geschriebenen lausche. Ich habe für „kirschholz und alte gefühle“ mehr Tage gebraucht als ich zunächst annahm und das aus einem einfachen Grund: Marica Bodrožić liest man nicht nebenbei, man atmet ihre Sprache und damit ihre Geschichten, die mit vielen Gedanken und Gefühlen gefüllt sind.

„kirschholz und alte gefühle“ ist der zweite Teil einer Trilogie. „Das Gedächtnis der Libellen“ nennt sich das erste Buch, das Ada Mitsou wundervoll besprochen hat. In ihrem neuen Roman schenkt die Autorin Arjeta Filipo eine Stimme. Durch die Ich-Erzählperspektive radiert Marica Bodrožić jede Distanz aus und holt mir Arjeta ganz nah heran. Es dauert nicht lange und schon ist die Protagonistin eine Vertraute, die mir ihre Geschichte erzählt und von ihren Absencen berichtet: „Unser Arzt sprach von Anfällen. Pétit mal. So nannte er die Pausen in meinem Gedächtnis. Manchmal wurde mein Kopf von einer mir unbekannten Kraft nach hinten gezogen. Vor den Augen meiner Familie war kein Entkommen. Und wenn das kleine Übel vorbeigezogen war, nannten mich meine Eltern ihre Sternenguckerin.“ Diese Lücken will sie nun in ihrer neuen Wohnung in Berlin füllen, indem sie sich mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzt. Sieben Tage lässt sie mich an ihrem Leben teilhaben, das einige bewegende und schmerzvolle Erfahrungen in sich trägt.

Die neue Wohnung ist leer, darin finden sich nur Kartons und Fotos, die sie auf dem geliebten Kirschholztisch ihrer Großeltern ausbreitet. Dieser Tisch ist etwas Besonderes und macht Arjeta glücklich. Draußen fliegen Schwalben, die Arjeta anfängt zu zählen und zu denen sie eine besondere Beziehung hat: „Ich fühle mich von ihnen begrüßt, stelle mir vor, dass ein kleiner blauer Vogel durch meinen Verstand fliegt. Vielleicht kann er mir helfen, in der Gegenwart zu leben.“ Das Vögelchenzimmer wird ihr Rückzugsort, „einfach nur ein Raum, kein Gegenstand, kein Gedanke soll ihn verstellen.“ Mit diesem Zimmer hofft sie, endlich zur Ruhe zu kommen.

Noch ist die Ruhe ein ferner Geselle. Ihre Erinnerungen, die aufblitzen und die sie mit mir abgeht, führen mich zuweilen an meine Grenzen. Als Arjeta damals Jugoslawien verließ, um in Paris Philosophie zu studieren, begann der Balkankrieg, vor dem sie in ihren Erzählungen nicht haltmacht. Es fallen furchtbare Zahlen: 1425 Tage dauerte die Belagerung, es fielen durchschnittlich pro Tag 329 Granaten. Aber auch in Worten bringt die Autorin das Grauen zum Ausdruck, dass ich den Schmerz fühle, das Blut förmlich rieche und zittere.

Es stürmt nicht die ganze Zeit in ihren Erinnerungen, es gibt auch sanfte Momente des Aufatmens wie die mit einem guten alten Freund. „Mischa Weisband war kein Mensch, der die Straßen und die Sprache seiner Kindheit hassen konnte“. Er ist ein deutscher Jude, der in Paris lebt, ein Nachbar im Haus Arjetas Tante, den sie kennenlernt. Eine Begegnung, aus der sich eine besondere Freundschaft fürs Leben entwickelt, eine starke Hand und ein Geschenk des Schicksals, wie er es an einer Stelle so schön beschreibt. Nicht so warm ist die Beziehung zu Arik, einem Künstler, der nie ganz in Arjetas Leben bleibt, immer wieder flüchtet, ein Schatten, der schnell um die Ecke huscht und in der Dunkelheit verschwindet. An ihn verliert Arjeta ihr Herz und fast sich selbst.

Es ist ein Ziehen und Dehnen, ein ständiges Flattern der Gedanken und Gefühle, die Marica Bodrožić bei mir auslöst. Arjeta bewegt sich in den sieben Tagen zwischen gestern und heute. Sie kehrt zurück nach Paris, das sie mit zwei besonderen Freundinnen gemeinsam erlebt hat, Hiromi und Nadeshda. Während Hiromi wieder nach Japan ging, zog Nadeshda nach Berlin und kümmerte sich um einen Job für Arjeta, als sie ihre Zeit in Paris beenden wollte. Und nicht zuletzt der wunderbare Mischa Weisband und der anstrengende Arik. Sie sind Fäden, die sich durch Arjetas Leben ziehen, genauso wie die Familiengeschichte, in der neben hellen Augenblicken auch Reibungen und schmerzvolle Erfahrungen lauern wie das große Loch, das der Krieg hinterlassen hat mit den Verlusten und Brüchen. Arjeta beugt sich der Vergangenheit, verlässt die Gegenwart, öffnet den Erinnerungen die Tür und kehrt abwechselnd zurück in das Jetzt.

Marica Bodrožić erzählt mit einem unglaublichen Sprachgefühl, jedes Wort entstammt einer inneren Stille, wurde mit Bedacht gewählt und entfaltet sich auf seine Weise. Ich konnte das Buch nicht verschlingen, ich habe es gelöffelt wie eine heiße Hühnersuppe. Zwischendurch habe ich dem Dampf zugeschaut, wie er sich verflüchtet hat, die Worte hingegen blieben in mir. „kirschholz und alte gefühle“ ist genau das Richtige, wenn einem die Welt draußen zu schnell und laut wird. Das Buch setzt vieles in Bewegung und verströmt trotzdem eine Ruhe, in die ich mich jetzt im Herbst so gern lege. Einerseits löst die Geschichte eine Anspannung aus, andererseits führt sie zu einer inneren Einkehr der eigenen Gedanken über Familie, Liebe, Freundschaft und den Wurzeln. Der Roman lässt dich spüren, was es bedeutet, anzuhalten und auf die Stille zu hören, den Weg deines eigenen Atems zu verfolgen und zu fühlen, wie schön es sein kann, anzukommen, egal, wie lang und anstrengend deine Reise auch sein mag.

Marica Bodrožić.
kirschholz und alte gefühle.
September 2012, 224 Seiten, 19,99 €.
Luchterhand Literaturverlag.

Über die Autorin:

Marica Bodrožić wurde 1973 in Svib/Dalmatien, dem heutigen Kroatien, geboren. Sie lebt seit 1983 in Deutschland und schreibt Gedichte, Essays, Romane sowie Erzählungen. Ihre Bücher wurden mit zahlreichen Preisen und Stipendien ausgezeichnet. So erhielt sie den Förderpreis für Literatur von der Akademie der Künste in Berlin. Claudio Magris über Marica Bodrožić: „Eine der ungewöhnlichsten frischesten und originellsten Stimmen der zeitgenössischen deutschsprachigen Literatur.“

Mit dem Buch ist an dieser Stelle nun Schluss, doch am Donnerstag geht es mit einem Interview weiter. Seid gespannt!

12 Gedanken zu „Vom Gestern und vom Heute.

  1. caterina

    … „genau das Richtige, wenn einem die Welt draußen zu schnell und laut wird“. Vielleicht wäre jetzt genau der richtige Moment für mich, dieses Buch zu lesen, ja, diese Autorin für mich zu entdecken, die ich schon so lange im Auge und doch nie gelesen habe. Danke für deine schönen Worte, sie haben mir Frau Bodrožić wieder ein Stück näher gebracht.

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  2. buzzaldrinsblog

    Danke für diese bezaubernde und lustmachende Besprechung. Ich bin traurig, dass morgen ein Feiertag ist und ich nicht gleich losgehen kann, um das Buch zu kaufen. Um so mehr freue ich mich bereits jetzt auf Donnerstag und darauf diesen Roman entdecken zu dürfen. 🙂

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  3. Klappentexterin Autor

    Ihr Lieben, ich danke euch von Herzen für eure Gedanken und finde es wirklich schön, dass ich euch zu dieser Autorin führen konnte! Ada durfte ja bereits Bekanntschaft mit dem ersten Buch dieser bemerkenswerten Trilogie machen. Für das zweite Buch wünsche ich dir, liebe Ada, eine wundervolle Lesezeit. Und euch anderen viel Freude beim Entdecken dieser besonderen literarischen Perlen.

    Ich lasse euch die Sonnenstrahlen hier, die gerade an meinem Fenster tanzen. Allerliebste Grüße, eure Klappentexterin.

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  4. lesesilly

    Liebe Klappentexterin,
    wieder eine ansprechende Rezension von Dir. Wie soll man nur all die tollen Bücher lesen, die Du empfiehlst und die mir sonst noch so unterkommen. Da dies eine Trilogie ist, ist es sicherlich sinnvoller mit dem 1. Teil anzufangen. Das würde aber bedeuten, zwei Bücher zu kaufen und ich habe mir zwangsauferlegt nur noch ein Buch pro Monat zu erstehen. Dieser Monat ist schon für Irving verplant. Es ist wirklich schwer. Deshalb lese ich weiterhin Deine Rezensionen, um wenigstens etwas von den tollen Büchern mitzunehmen.

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    1. Klappentexterin Autor

      Liebe lesesilly,
      schön, dass du wieder hier warst und mir einen Kommentar hinterlassen hast. Das freut mich sehr! Auch wenn dein Monat büchermäßig bereits verplant ist (und wie gut er das ist, lese ich den neuen Irving gerade selbst vorm Einschlafen und bin begeistert), wollte ich dir nur sagen, dass du diese Trilogie nicht nacheinander lesen musst. Ich habe mit dem zweiten Band angefangen und werde den ersten Band anschließen. Die Autorin hat dies übrigens auch bestätigt. Marica Bodrožić konzentriert sich in den einzelnen Bänden ganz auf eine Person, im ersten Band geht es um Nadeshda und im zweiten Band kommt Arjeta zu Wort.

      Viele liebe Grüße

      Klappentexterin

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  5. lesesilly

    Glaubst Du, liebe Klappentexterin, ich sollte mein Monatsbudget erhöhen und dieses Buch noch zu dem Irving dazunehmen? (Finanziell kein Problem, nur mein SUB ist riesengroß!)

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    1. Klappentexterin Autor

      Hui, das ist eine Frage, liebe lesesilly, die ich schwer mit einem Nein beantworten kann. : ) Beide Bücher ergänzen sich übrigens wunderbar (gut, ich stecke derzeit noch am Anfang, was den Irving betrifft). Während das eine aufgekratzt ist wie der Tag, atmet das andere ruhiger und lässt dich die Sterne spüren. Ying und Yang sitzen sich quasi gegenüber.

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  6. buechermaniac

    „Das Buch setzt vieles in Bewegung und verströmt trotzdem eine Ruhe, in die ich mich jetzt im Herbst so gern lege.“ Was für ein poetischer Satz, liebe Klappentexterin. Fehlt noch der dampfende Tee und ich kuschle mich gerne auf das Sofa, um in den Worten dieses Romans zu versinken.

    LG buechermaniac

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    1. Klappentexterin Autor

      Hab lieben Dank, liebe buechermaniac! Apropos Tee, neben mir steht gerade eine Tasse, dampft vor sich hin und die Bücher sind in greifbarer Nähe. In diesem Sinne, auf einen gemütlichen und schönen Leseherbst! LG, Klappentexterin.

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