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Die starken Frauen von Sarajevo.

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Fortan denke ich beim Kaffeetrinken auch immer ein wenig an die mutigen Frauen von Sarajevo. Sie werden mich daran erinnern, wie gut er schmecken kann, wenn man seinen Geist in die Gegenwärtigkeit taucht. »Die Gedanken stehen still, ruhen sich aus, gönnen dem Kaffeetrinker einen tieferen Atem. Es ist die Versenkung in den Augenblick, die sie diese Erfahrung machen lässt. Ob das der Grund ist, warum der Kaffee in Sarajevo so gut schmeckt?« – Ich habe lange überlegt, wie ich meine Besprechung zu »Mein weißer Frieden« von Marica Bodrožić beginnen soll und mich für die Frauen von Sarajevo entschieden, weil sie mich berührt und zutiefst beeindruckt haben. Ich habe geweint, später die Tränen weggelacht und diesen besonderen Moment mit jeder Fingerspitze gespürt. Frauen von Sarajevo – euch gebührt der Anfang meiner Rezension wie auch die Widmung der Autorin.

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Vom Gestern und vom Heute.


Ich weiß nicht, wie viele Sekunden ein Atemzug braucht, aber ich weiß, dass er sich mit diesem Buch sehr intensiv anfühlt, unwahrscheinlich lange, Zeitlupentempo wäre vielleicht ein passender Begriff dafür. Es ist ein bewusstes Senken und Heben des Brustkorbes, ein Auf und Ab, die Augen fahren über Marica Bodrožićs Worte, in denen ich aufgehe, innehalte, verweile, aus der S-Bahn schaue und dem Echo des Geschriebenen lausche. Ich habe für „kirschholz und alte gefühle“ mehr Tage gebraucht als ich zunächst annahm und das aus einem einfachen Grund: Marica Bodrožić liest man nicht nebenbei, man atmet ihre Sprache und damit ihre Geschichten, die mit vielen Gedanken und Gefühlen gefüllt sind.

„kirschholz und alte gefühle“ ist der zweite Teil einer Trilogie. „Das Gedächtnis der Libellen“ nennt sich das erste Buch, das Ada Mitsou wundervoll besprochen hat. In ihrem neuen Roman schenkt die Autorin Arjeta Filipo eine Stimme. Durch die Ich-Erzählperspektive radiert Marica Bodrožić jede Distanz aus und holt mir Arjeta ganz nah heran. Es dauert nicht lange und schon ist die Protagonistin eine Vertraute, die mir ihre Geschichte erzählt und von ihren Absencen berichtet: „Unser Arzt sprach von Anfällen. Pétit mal. So nannte er die Pausen in meinem Gedächtnis. Manchmal wurde mein Kopf von einer mir unbekannten Kraft nach hinten gezogen. Vor den Augen meiner Familie war kein Entkommen. Und wenn das kleine Übel vorbeigezogen war, nannten mich meine Eltern ihre Sternenguckerin.“ Diese Lücken will sie nun in ihrer neuen Wohnung in Berlin füllen, indem sie sich mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzt. Sieben Tage lässt sie mich an ihrem Leben teilhaben, das einige bewegende und schmerzvolle Erfahrungen in sich trägt.

Die neue Wohnung ist leer, darin finden sich nur Kartons und Fotos, die sie auf dem geliebten Kirschholztisch ihrer Großeltern ausbreitet. Dieser Tisch ist etwas Besonderes und macht Arjeta glücklich. Draußen fliegen Schwalben, die Arjeta anfängt zu zählen und zu denen sie eine besondere Beziehung hat: „Ich fühle mich von ihnen begrüßt, stelle mir vor, dass ein kleiner blauer Vogel durch meinen Verstand fliegt. Vielleicht kann er mir helfen, in der Gegenwart zu leben.“ Das Vögelchenzimmer wird ihr Rückzugsort, „einfach nur ein Raum, kein Gegenstand, kein Gedanke soll ihn verstellen.“ Mit diesem Zimmer hofft sie, endlich zur Ruhe zu kommen.

Noch ist die Ruhe ein ferner Geselle. Ihre Erinnerungen, die aufblitzen und die sie mit mir abgeht, führen mich zuweilen an meine Grenzen. Als Arjeta damals Jugoslawien verließ, um in Paris Philosophie zu studieren, begann der Balkankrieg, vor dem sie in ihren Erzählungen nicht haltmacht. Es fallen furchtbare Zahlen: 1425 Tage dauerte die Belagerung, es fielen durchschnittlich pro Tag 329 Granaten. Aber auch in Worten bringt die Autorin das Grauen zum Ausdruck, dass ich den Schmerz fühle, das Blut förmlich rieche und zittere.

Es stürmt nicht die ganze Zeit in ihren Erinnerungen, es gibt auch sanfte Momente des Aufatmens wie die mit einem guten alten Freund. „Mischa Weisband war kein Mensch, der die Straßen und die Sprache seiner Kindheit hassen konnte“. Er ist ein deutscher Jude, der in Paris lebt, ein Nachbar im Haus Arjetas Tante, den sie kennenlernt. Eine Begegnung, aus der sich eine besondere Freundschaft fürs Leben entwickelt, eine starke Hand und ein Geschenk des Schicksals, wie er es an einer Stelle so schön beschreibt. Nicht so warm ist die Beziehung zu Arik, einem Künstler, der nie ganz in Arjetas Leben bleibt, immer wieder flüchtet, ein Schatten, der schnell um die Ecke huscht und in der Dunkelheit verschwindet. An ihn verliert Arjeta ihr Herz und fast sich selbst.

Es ist ein Ziehen und Dehnen, ein ständiges Flattern der Gedanken und Gefühle, die Marica Bodrožić bei mir auslöst. Arjeta bewegt sich in den sieben Tagen zwischen gestern und heute. Sie kehrt zurück nach Paris, das sie mit zwei besonderen Freundinnen gemeinsam erlebt hat, Hiromi und Nadeshda. Während Hiromi wieder nach Japan ging, zog Nadeshda nach Berlin und kümmerte sich um einen Job für Arjeta, als sie ihre Zeit in Paris beenden wollte. Und nicht zuletzt der wunderbare Mischa Weisband und der anstrengende Arik. Sie sind Fäden, die sich durch Arjetas Leben ziehen, genauso wie die Familiengeschichte, in der neben hellen Augenblicken auch Reibungen und schmerzvolle Erfahrungen lauern wie das große Loch, das der Krieg hinterlassen hat mit den Verlusten und Brüchen. Arjeta beugt sich der Vergangenheit, verlässt die Gegenwart, öffnet den Erinnerungen die Tür und kehrt abwechselnd zurück in das Jetzt.

Marica Bodrožić erzählt mit einem unglaublichen Sprachgefühl, jedes Wort entstammt einer inneren Stille, wurde mit Bedacht gewählt und entfaltet sich auf seine Weise. Ich konnte das Buch nicht verschlingen, ich habe es gelöffelt wie eine heiße Hühnersuppe. Zwischendurch habe ich dem Dampf zugeschaut, wie er sich verflüchtet hat, die Worte hingegen blieben in mir. „kirschholz und alte gefühle“ ist genau das Richtige, wenn einem die Welt draußen zu schnell und laut wird. Das Buch setzt vieles in Bewegung und verströmt trotzdem eine Ruhe, in die ich mich jetzt im Herbst so gern lege. Einerseits löst die Geschichte eine Anspannung aus, andererseits führt sie zu einer inneren Einkehr der eigenen Gedanken über Familie, Liebe, Freundschaft und den Wurzeln. Der Roman lässt dich spüren, was es bedeutet, anzuhalten und auf die Stille zu hören, den Weg deines eigenen Atems zu verfolgen und zu fühlen, wie schön es sein kann, anzukommen, egal, wie lang und anstrengend deine Reise auch sein mag.

Marica Bodrožić.
kirschholz und alte gefühle.
September 2012, 224 Seiten, 19,99 €.
Luchterhand Literaturverlag.

Über die Autorin:

Marica Bodrožić wurde 1973 in Svib/Dalmatien, dem heutigen Kroatien, geboren. Sie lebt seit 1983 in Deutschland und schreibt Gedichte, Essays, Romane sowie Erzählungen. Ihre Bücher wurden mit zahlreichen Preisen und Stipendien ausgezeichnet. So erhielt sie den Förderpreis für Literatur von der Akademie der Künste in Berlin. Claudio Magris über Marica Bodrožić: „Eine der ungewöhnlichsten frischesten und originellsten Stimmen der zeitgenössischen deutschsprachigen Literatur.“

Mit dem Buch ist an dieser Stelle nun Schluss, doch am Donnerstag geht es mit einem Interview weiter. Seid gespannt!

Mehr als nur ein Krimi.

Oliver Bottini hat sich mit seinem neuen Krimi „Der kalte Traum“ was Großes vorgenommen. Einerseits taucht dieses Mal nicht seine beliebte Kommissarin Louise Bonì auf. Andererseits widmet er sich einem jüngeren Teil europäischer Geschichte und verknüpft dabei verschiedene Menschenschicksale miteinander.

Idyllisch und poetisch beginnt das Geschehen, ganz vertraut im Bottini Stil. Von „rotgoldenen Wäldern“ und einem „sanftmütigen Tal“ ist die Rede. Nur wenige Atemzüge und ich lehne mich entspannt zurück, bis ein kalter Wind durch die Seiten fegt, der mich aufhorchen lässt und die Ruhe zur Seite schiebt. Es ist der Fremde, der die Landschaft beobachtet. Da gehen meine Alarmantennen ganz automatisch an, so wie er das Tal bei Rottweil in Augenschein nimmt. Saša Jordan sucht Thomas Ćavar.
Mehrere Kilometer nordöstlich bittet Richard Ehringer seinen Neffen, ein Berliner Kommissar, nach Thomas Ćavar in den Datenbanken zu suchen. Und in Zagreb stößt die engagierte Journalistin Yvonne Ahrens auf ein Kriegsbild vom Kapetan. Hinter dem Namen soll sich kein anderer als Thomas Ćavar verbergen, ihr Jagdinstinkt ist geweckt. Woher kommt plötzlich das Interesse an einem Mann, der vor 15 Jahren im Bosnienkrieg gestorben sein soll? Eine Frage, die über allem schwebt und eine Hetzjagd nach sich zieht.

In verschiedenen Handlungssträngen verfolge ich die Suche und bewege mich zwischen dem Gestern und dem Heute. So begegne ich im Jahre 1990 dem jungen Thomas. Damals, als alles noch in Ordnung war. Glücklich umschleicht er wie ein Hund seinen neuen Ford Granada 2.0. und kann es kaum erwarten loszufahren. Hat er sich doch „ein Jahr und sieben Tage“ darauf gefreut. Unbeschwert genießt Thomas mit seiner Freundin Jelena die Autofahrt: „Der warme Fahrtwind, die Musik, Jelenas Hand auf seinem Schenkel, so konnte das Leben bleiben.“ Doch das wird es nicht. Wenige Stunden später brodelt es im heimischen Wohnzimmer, der Vater bringt es auf den Punkt: „Sie stehlen uns die Heimat!“ Der Blick wandert nach Kroatien, wo einige Tage zuvor „Serben Straßen- und Schienensperren errichtet und eine kroatische Polizeistation geplündert“ wurde. Zu diesem Zeitpunkt nimmt Thomas den Konflikt mit jugendlichem Leichtsinn hin, träumt mehr von einer romantischen Nacht mit seiner Liebsten, interessiert er sich nicht für Politik und Heimat. Noch nicht. Nur wenige Monate später sollte sich das ändern, als er der persönliche Chauffeur von Josip Vrdoljak, dem Mitbegründer der Kroatischen Demokratischen Gemeinschaft (HDZ) wird.

Im Oktober 2010 erfährt unterdessen der Kommissar Lorenz Adamek bei seinen Recherchen, dass sich auch andere nach Thomas Ćavar erkundigen, wie Ivica Markoić, ein Vertrauter Tuđmans. Das verrät ihm sein Onkel, ein ehemaliger hochrangiger Politiker. Er ist es auch, der den Kommissar nicht nur die Hintergründe über den Krieg in Osteuropa näher erläutert, sondern ihn auf eine zweite Möglichkeit bringt, die da lautet: „Keine Leiche. Kein Grab.“ Denn wer interessiert sich schon für einen Toten?

Die Lektüre setzt mehr Wissen über den Balkankonflikt heraus, als ich angenommen habe. Oliver Bottini fordert mich. Er schickt mich durch den jüngeren Teil europäischer Geschichte, der mir durchaus bekannt, aber nicht immer hundert Prozent vertraut ist. Es tauchen Namen und Abkürzungen wie Tuđman, Operation „Sturm“, ICTY sowie politische Hintergründe auf. Einige Lücken stoppen meinen Lesefluss, aber ich bin da nicht die Einzige, wenn ich zu Adamek schaue: „Er wusste nicht viel über Kroatien und diesen dummen, grauenhaften Krieg.“ Gott sei Dank gibt es ein umfassendes Glossar, in dem ich wichtige Namen nachlesen und aufkommende Fragezeichen wegwischen kann. Der Autor hat viel Zeit in sein Werk investiert und gewissenhaft recherchiert, das merke ich mit jeder Seite mehr. Dabei zieht er den Vorhang auf und öffnet mir den Blick hinter die Kulissen. Ich erspähe die politischen Machenschaften und die Konflikte zwischen den Volksgruppen, den Hass aufeinander und das Blutvergießen. Oliver Bottini verdeutlicht in seinem Krimi genauso das Schicksal der unabhängigen kroatischen Journalisten, die Licht in das Dunkel bringen wollen und immer wieder zum Schweigen gebracht werden, nicht selten sogar ihr Leben verlieren müssen. „Wer kroatische Kriegsverbrechen recherchiere, begebe sich in Gefahr.“ Den Journalisten hat er seinen Krimi gewidmet und damit ein Denkmal gesetzt.

Oliver Bottini ist ein großer Roman gelungen, wenngleich ich natürlich gestehen muss, dass mir Louise Bonì ein bisschen gefehlt hat. Ich bin eine sporadische Krimileserin, die vor allem ein Herz für eigenwillige und etwas entrückte Ermittler und Kommissarinnen hat. Der Autor konnte meine Sehnsucht trotzdem ein wenig stillen, indem er jedem seiner Protagonisten charakterstark gezeichnet und mir nahe gebracht hat wie den hin- und gerissenen Berliner Kommissar oder die engagierte Journalistin Yvonne Ahrens. Für mich ist dies kein typischer Krimi, in dem nur die Aufklärung eines Mordes im Vordergrund steht. „Der kalte Traum“ ist viel mehr ein packender und wissensreicher Politthriller in einer gut erzählten Sprache, die manchmal poetisch und manchmal unwahrscheinlich klar heraussticht. Man sollte in jedem Fall Zeit für dieses anspruchsvolle Buch mitbringen. Wer dies beherzigt, wird eindrucksvolle und spannende Lesemomente erleben.

Oliver Bottini.
Der kalte Traum.
Februar 2012, 448 Seiten, 18,99 €.
DuMont Buchverlag.