Der salzig-saure Raketenflug!

Warum muss ich bei diesem Hörbuch an Gewürzgurken denken, die ins All fliegen? Ich habe keine Ahnung! Fakt ist: „Petropolis – Die große Reise der Mailorder-Braut Sascha Goldberg“ von Anya Ulinich ist ein sehr komisches und außergewöhnliches Debüt, bei dem die Arme zappeln und der Kopf seltsam wackelt. Da kann es durchaus zu schrägen Gedanken kommen. Jasmin Tabatabai wird mir dies sicherlich bestätigen können, denn sie saß als Vorleserin wie ich mittendrin in dem Roman.

Sascha Goldberg ist nicht zu beneiden. Man stelle sich ein molliges, dunkelhäutiges, jüdisches Mädchen in Russland vor. Sie lebt zusammen mit ihrer Mutter in der sibirischen Kleinstadt Asbest 2. Den Vater gibt es noch, nur ist er nach Amerika geflüchtet. Die Mutter hat beschlossen, ihrer Tochter „ein außerschulisches Betätigungsfeld zu beschaffen“, denn „Kinder der Intelligenzija hocken nicht nachmittags zu Hause und frönen der Idiotie.“ Ein Klavier passt nicht in die beiden vollgestopften Zimmer. Also muss als Ersatz eine Geige her. Kaum angeschafft, eröffnen gleich drei Lehrer, dass Sascha kein musisches Talent besitzt. Auch die anderen beiden Alternativen – das Eiskunstlaufen und Ballett – wandern wegen fehlender Voraussetzungen in den Keller. Einzig die Malerei beendet die Suche nach einer sinnvollen Beschäftigung. Sie führt Sascha schließlich aus ihrer Isolation heraus, und später weg aus Asbest 2.

Sascha erlebt schon in Asbest 2 allerhand merkwürdige Sachen wie die Geschichte mit dem ersten Liebesabenteuer. In einer Baracke auf einer Müllhalde schaut sie zum ersten Mal sehr tief ins Wodkaglas und trifft dort einen Jungen, der sie interessiert. An diesem Ort verliert sie auch ihre Jungfräulichkeit und wird prompt schwanger. Ihre Mutter drängt Sascha nach der Geburt, der Kunstschule trotzdem in Moskau beizutreten. Fast widerwillig steigt sie in den Zug, lässt ihre Tochter und Mutter zurück, und ahnt zu dem Zeitpunkt noch nicht, wo ihre Reise wirklich hingehen wird, viel weiter als nach Moskau.

Anya Ulinich hat in ihrem Debüt die eigenen Lebenserfahrungen literarisch verarbeitet. „Alle Figuren sind erfunden, aber viele von ihnen haben etwas von mir“, sagte die Autorin im Interview, das im beiliegenden Booklet nachzulesen ist. Mit Hinblick auf ihren Lebenslauf gibt es zwei Parallelen zwischen der Autorin und Sascha. Beide lieben die Malerei und verlassen Russland.
Sascha führt es nach Amerika, nachdem sie in Moskau über eine Agentur als „Mailorder-Braut“ an einen Amerikaner vermittelt wird. Doch Saschas eheliche Verpflichtungen ermüden sie relativ schnell. Sie macht kurzen Prozess und haut ab zu einer Freundin. So kommt eins zum anderen. Durch eine russische Emigrantenfamilie findet sie Unterkunft bei einer wohlhabenden Familie, die sich für Juden aus Russland engagieren. Dort reinigt sie die Zimmer und nähert sich dem schwerbehinderten Sohn an. Zwischen beiden entzünden sich in manchen Situationen messerscharfe Dialoge, vor denen ich mich ducke. Einmal kommen sie sich sogar nah, sehr nah. Zum ersten Mal blitzt hier das warme Wort Liebe auf. Aber nicht lange, ich kann es nicht greifen, schon ist Sascha weg, auf nach New York zu ihrem Vater.

Staunend und leicht grinsend folge ich dem russischen Mädchen. Auch wenn sie die Vorteile der anderen Welt zu schätzen weiß, klopft Saschas Herz nach wie vor für die Heimat, nicht zuletzt wegen ihrer Tochter. Sascha verkörpert das Bild einer Auswanderin, die sich wie ein Pendel hin und her bewegt. Neben dieser Zerrissenheit erzählt die Autorin auch von den Hürden, die man als Emigrantin in einem fremden Land auf sich nehmen muss. Wer kann das besser als sie? Hat sie doch selbst anfangs in ärmlichen Verhältnissen gelebt. Das Wort Armut bekommt hier zwei Gesichter, das einer Familie in der ehemaligen Sowjetunion, die nicht viel Geld zur Verfügung hat und das einer Ausländerin in einem fremden Land. Auf dem ersten Blick scheint dies eine traurige Geschichte zu sein, wäre sie vielleicht auch, wenn sie nicht von Anya Ulinich stammen würde. Die Autorin ist kein Kind von Traurigkeit. Ich erlebe viele Schmunzelmomente, oft kleine Nebensächlichkeiten wie die Beschreibung einer Lehrerin: „Die Turnlehrerin war baumlang, trug einen Trainingsanzug und einen Haarschnitt, der verriet, dass sie insgeheim lieber als Igel auf die Welt gekommen wäre.“ Der Roman spielt mit mir, unterhält mich durch den Witz und die Satire, die dazwischen springt und der gewaltigen Fantasie die Tür öffnet. Die Autorin scheut auch nicht davor, die Eigenheiten der Russen und Amerikaner auf die Schippe zu nehmen. Sie macht das äußerst liebenswert komisch, so dass ich nicht anders kann als herzhaft zu lachen.

Manchmal beschleicht mich das Gefühl, als würde ich in einer Rakete sitzen. So schnell rauscht eine komische Begebenheit nach der anderen an mir vorbei, die viele glühende Funken versprüht. Jasmin Tabatabai verleiht mit ihrem tiefen Timbre genau dem richtigen Ton, bringt mir Sascha besonders nah. Genauso gut fühlt sie sich in die anderen Figuren ein und verleiht ihnen die richtige Stimme. Mal ist sie aufbrausend, wird laut, ein anderes Mal streifen mich sanftmütige Züge.

Obwohl Saschas Lage ohne Aufenthaltsgenehmigung zunächst recht prekär ist, lässt sie sich nicht entmutigen, träumt stattdessen von einem besseren Leben und boxt sich durch. Irgendwo flackert die Kerze, ein Stück Hoffnung, dass Sascha ankommen wird und ehrlich gesagt, ahne ich es schon vorm Ende. Zu zielstrebig, zu mutig ist die junge Frau. Ich liebe ihre Sätze, einige so sauer und erfrischend wie der Biss in eine Zitrone, an anderer Stelle wird es sogar ein wenig salzig. Ja, wenn man nicht aufpasst, rollen Gewürzgurken im Kopf, die nur einen Wunsch haben: Den Flug ins All!

Anya Ulinich.
Petropolis: Die große Reise der Mailorder-Braut Sascha Goldberg.
Gelesen von Jasmin Tabatabai.
2008, 5 CDs, ca. 331 Min., 14,99 €.
Der Audio Verlag.

Über die Autorin:

Anya Ulinich wurde 1973 in Moskau geboren. Im Alter von 17 Jahren emigrierte sie mit ihrer Familie nach Amerika. Ihre große Leidenschaft galt zunächst der Malerei, schon mit vier Jahren besuchte Anya Ulinich die Kinder-Kunstschule am Puschkin-Museum für Bildende Kunst. In den USA interessierte sie sich zunehmend für die Kultur- und Klassenstrukturen Amerikas, schrieb sich am Art Institute of Chicago ein und machte ihren Abschluss in Malerei an der University of California. Als sie im Jahr 2000 zusammen mit ihrem Mann und den beiden Kindern nach New York zog, gab die Malerei auf und fing an zu schreiben. Petropolis ist ihr Debüt-Roman, für den sie einen der fünf Preise der National Book Foundation für Autoren unter 35 erhielt. Anya Ulinich lebt in Brooklyn.

6 Gedanken zu „Der salzig-saure Raketenflug!

  1. Nanni

    Sehr schöne Rezi. Das Buch habe ich mal aus einem ME Stapel gerettet, seitdem subt es allerdings vor sich hin. Ist eigentlich nicht so schlimm, da es sich im Regal der ungelesenen Bücher eigentlich in guter Gesellschaft befindet. Nach dieser Rezension bin ich allerdings sehr neugierig geworden. Vielleicht befreie ich es demnächst mal aus der Enge …

    LG Nanni

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    1. Klappentexterin Autor

      Vielen Dank, liebe Nanni! Mir ist es übrigens wie dir ergangen, nur mit dem Unterschied, dass ich nicht zugegriffen habe, als ich „Petropolis“ in einem Stapel von gemängelten Büchern entdeckt habe. Wahrscheinlich wollte ich es insgeheim als Hörbuchfassung lesen. Das geht mir bei manchen Büchern so (dass ich sie lieber hören möchte). Ich kann es dir sehr ans Herz legen, vor allem die erfrischende Art und die komischen Situationen haben mich sehr begeistert.

      Liebe Grüße
      Klappentexterin

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    1. Klappentexterin Autor

      Da siehst du mal, liebe Mariki, wie verschieden die Geschmäcker sind. Sicherlich ist die Idee keine neue, aber für mich bestens umgesetzt und absolut lesens/hörenswert.

      Herzlichst,
      Klappentexterin

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    1. Klappentexterin Autor

      Huch! Welche Überraschung, verehrter flattersatz! Ich bin entzückt und wünsche dir viel Spaß bei deiner Reise mit Sascha. Eine Reise, die ich am liebsten noch einmal erleben möchte. Na, das werde ich ja dann bei dir. Freu mich schon!

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