Kalt ist die Wirklichkeit, warm sind die Worte.

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Manchmal sind Bücher wie Menschen. Man fühlt sich von Anfang an vertraut, als würde einem eine unsichtbare Schnur miteinander verbinden. Man kennt sich einfach und ist sich nah. So ging es mir, kurz nachdem ich »Über den Winter« von Rolf Lappert begonnen hatte. Wie Muschelrauschen klang anfangs die Kritik über das Buch, das es sogar auf die Shortlist geschafft hat. Neugierig stieg ich immer tiefer in den Roman und hörte schon bald nichts mehr – außer Stille und Rolf Lapperts mit Bedacht gewählte schöne Worte.

Es ist keine laute, knisternde und spannungsgeladene Geschichte. Hier ist es eher ruhig, wie unter Wasser. Ich fühlte mich von Anfang an wohlwollend umarmt und gleichsam vom schnellen Leben draußen abgeschirmt. Wie mein Buchpreisblogger-Kollege Buchrevier kürzlich in unserem Bloggertalk über Valerie Fritsch treffend sagte, bin ich eine Freundin von Stimmungsbüchern, die von einer schönen Sprache getragen werden. Melancholische Töne atme ich genauso gerne ein wie den Duft frischgebackener Brötchen. Obendrein schätze ich die traditionelle japanische Literatur, die meist in einem ruhigen Erzählfluss unauffällige Geschichten erzählt. Warum ich das schreibe? Ich denke, diese Vorlieben haben dazu beigetragen, dass mich »Über den Winter« vollends begeistern konnte.

Der Künstler Lennard Salm – im Roman vorwiegend Salm genannt – wird durch den Tod der älteren Schwester mit seiner Familie konfrontiert. Lange Zeit lebte Salm ein typisches Künstlerleben, hatte in New York ein Atelier und pflegte nur sporadischen Kontakt zu seinen Wurzeln. Nun kehrt er zur Beerdigung seiner älteren Schwester Helene nach Hamburg zurück. Eigentlich will er danach sofort wieder weg, sein Künstlerleben fortführen. Doch es kommt anders. Plötzlich passiert dies und das, und Salm schlittert geradewegs in eine Sinnkrise. Obwohl er gerade die Inspiration für ein neues Projekt hatte.

Auslöser waren verlorene Dinge von Flüchtlingen, besonders bewegend – ein totes Baby, das an den Strand angespült wurde. Dieses Erlebnis hebt dem Künstler erstmalig leise Zweifel in sein Schaffen. Salm, der für seine Performancekunst bekannt ist, fotografierte das alles. Sein Mäzen Johannes Wieland ist begeistert von der Idee und versucht, Salm zu erreichen. Der ignoriert die Anrufe zunächst. Ist er doch gerade dabei, sein bisheriges Leben zu hinterfragen. Erst leise wie eine Katze, die vorsichtig durch den Schnee tapst, doch bald schon formt sich das Gefühl in ihm zu einer großen Welle, die Salm mitreißt.

Er wendet sich seinem Vater zu, der krank ist und mit einer polnischen Pflegekraft in einer fast leeren Wohnung lebt. Der Vater musste seine Möbel verkaufen, um Bascha, so heißt der Engel an seiner Seite, bezahlen zu können. Dies erfährt Salm von Bille, seiner jüngeren Schwester, die hocherfreut über die Wiederkehr ihres Bruders ist. Salm zieht bald aus dem Hotel aus und beim Vater ein – in sein altes Kinderzimmer. Dort wird er wie in einer »Zeitkapsel« von Erinnerungen an die eigene Kindheit eingeholt. Hier öffnet Rolf Lappert eine weitere Tür und entfaltet die tragische Geschichte der Familie Salm, die von zerplatzten Träumen, nicht erfüllten Sehnsüchten und einer mütterlichen Härte geprägt ist. Im fast leerstehenden Haus des Vaters stößt Salm auf den rebellischen Lobo, der mit seiner Mutter in der Wohnung der verstorbenen Schwiegermutter lebt. Für diesen Jungen erwärmt sich sein Herz, wie auch später für Lobos Mutter. Eine weitere kleine Geschichte von vielen, die Rolf Lappert um seinen Protagonisten streut.

Es sind viele kleine Mosaiksteinchen, die Rolf Lappert mit einer Engelsgeduld zusammenfügt. Wer die Ruhe hat, sich auf so ein Werk einzulassen, wird am Ende reich belohnt.

Der Autor schreibt in einer herrlich unaufgeregten Sprache, die nichts weiter möchte, als einfach eine gute Geschichte zu erzählen. Von einem Rückkehrer, der sich durch die Kälte des Winters ziehen lässt, sich aber nicht vollkommen im Selbstmitleid verliert. Kleine Gesten des Mitgefühls machen den eigensinnigen Mann sympathisch. Wie auch seine Konsequenz, eine Entscheidung zu treffen, die viel Mut bedeutet.

Es ist kalt in diesem Buch, der Winter mit jedem Atemzug spürbar. Rolf Lappert beschreibt ein frostiges Hamburg-Wilhelmsburg, durch das man sofort mit einem hochgeschlagenen Mantel und ein wenig desillusioniert laufen möchte. Wer kennt nicht die Momente im Leben, wenn man das Gefühl hat, zu schwimmen und einiges zu hinterfragen? Für diesen Seelenzustand findet Rolf Lappert wunderschöne Beschreibungen. So legt sich nicht nur der Schnee förmlich auf die Augen der Leserin, auch eine innere Kälte überkommt sie. Eine Kälte, die nicht einmal eine voll aufgedrehte Heizung vertreiben kann. Eine Kälte, die erschaudert und gleichzeitig fasziniert. Weil sie einen spüren lässt, das man lebt.

Rolf Lappert bezeichnete im Gespräch mit dem Magazin »Books« der Orrell Füssli Thalia AG sein Buch selbst als persönliches Wagnis: »Wird es in seinem unspektakulären Wesen jemandem etwas sagen?« Ich sage: Ja. Vor allem Leser und Leserinnen, die sich auf die melancholische Stimmung und die ruhige Geschichte einlassen, werden die traurig-schöne Stimmung mögen und in sich kleine Erschütterungen spüren. Denn dieses Buch geht sehr nah.

Rolf Lappert erweist sich als epischer Erzähler, der es liebt, Beobachtungen bildhaft und in aller Breite erlebbar zu machen. Jedes kleines Rädchen im großen Getriebe beschreibt der Autor – seien es vermeintliche Nebensächlichkeiten wie die Nachrichten: »Die Nachrichten waren ein Raunen, ein monotones Murmeln, ein Abgesang auf die Welt ohne Melodie.«

Hat das Buch also genügend Potenzial, um mit den Deutschen Buchpreis ausgezeichnet zu werden? Ein unspektakulärer, stimmungsvoller Roman. Ein Roman, der sich voll und ganz auf einen fast fünfzigjährigen Mann in einer Midlife-Crisis konzentriert und obendrein eine Familiengeschichte in den Mittelpunkt rückt. Ich persönlich wünsche ihm den Preis von ganzem Herzen. Rolf Lappert zeigt sich als beeindruckender Erzähler, ein Meister seines Fachs. Er hätte es verdient. »Über den Winter« bleibt bis zum Finale berührend. Ein Ende, das mir Tränen und ein unglaublich schönes Glücksgefühl bescherte. Die Auflösung folgt am 12. Oktober. Aber für mich ist er jetzt schon ein Gewinner.

Rolf Lappert: Über den Winter. Hanser Verlag, August 2015, 383 Seiten, 22,90 €. Das Buch ist bei Buchhandel.de bestellbar. Oder als eBook für 16,99 € erhältlich.

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Meine beiden Buchpreisbloggerkollegen waren wie ich sehr angetan von diesem Buch. Ich empfehle euch die beiden lesenswerten Rezensionen:
> Buchrevier
> Kaffeehaussitzer

12 Gedanken zu „Kalt ist die Wirklichkeit, warm sind die Worte.

  1. Heidi Scholzen

    Liebe Klappentexterin!
    Wieder einmal hast du eine Rezension verfasst, die mich einem Buch sehr nahe gebracht hat, das mir „meine“ Buchhändlerin zwar ans Herz gelegt hatte, dessen Inhalt mir aber irgendwie zu düster erschien. Nun werde ich es wohl doch kaufen und lesen „müssen“ 😉
    Ganz herzlichen Dank für die ausführliche und einfühlsame Rezension, die mich „gepackt“ hat!
    Heidi, die ansonsten dicke Bücher liebt!

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  2. Klappentexterin Autor

    Liebe Heidi,
    ich danke dir herzlich für deinen Kommentar! Deine Buchhändlerin hatte recht, dieses Buch ist düster, aber von einer schönen Melancholie umgeben, die man mögen muss, wie auch den Erzählstrom. Das Buch wird ja an manchen Stellen heiß diskutiert. Ich glaube, hier gibt es keine Mitte, sondern ein Ganz oder Gar nicht. Nichts dazwischen. Daher ist es Wagnis, nicht nur für den Autor. Schau doch einfach mal beim Verlag in die Leseprobe rein, ob es dich anspricht: http://www.hanser-literaturverlage.de/buch/ueber-den-winter/978-3-446-24905-9/
    Gern möchte ich dir auch die anderen beiden Rezensionen meiner beiden Buchpreisblogger-Kollegen ans Herz legen. Sehr bewegende und schöne Worte haben die zwei gefunden.

    Ein schönes Feiertagswochenende wünsche ich
    Klappentexterin

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  3. Pingback: Das Buchpreislesen: #dbp15 | Kaffeehaussitzer

  4. Masuko13

    Ich lese schon! Man muss aber doch aufpassen, dass die melancholische Stimmung des Autors nicht auf einen selbst überspringt. Deshalb genieße ich die Geschichte einfach nur in kleinen Portionen. Und wenn ich zum Weiterlesen mal zu müde sein sollte oder die Kälte mir zu stark ist, dann will ich deine Rezension wiederlesen, die mir das Buch so wundervoll ans Herz gelegt hat.

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  5. Pingback: Deutsche Buchpreisvergabe zum Messeauftakt | Literaturgefluester

  6. jancak

    Ein tolles Buch, bis jetzt mein Favorit, aber ich habe ja noch den Heinz Helle und den Frank Witzel zu lesen. Die Mischung die Realität mit absurden Einfällen aufzupäppeln, scheint mir aber hier sehr überzeugend gelungen, so daß man das Leben und seine Schwierigkeiten auf einmal zu verstehen glaubt.

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