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Carol Birch, Priya Basil, Éric-Emmanuel Schmitt und Zeruya Shalev im Gespräch.

Mein Kopf ist ein Brummkreisel. Viele schöne Dinge finden sich nach der „Roman-Revue II“ beim 12. ilb darin. Es ist ein Zischen und Tanzen, wirklich unglaublich schön. Jetzt möchte ich den Kreisel anhalten und euch von vier besonderen Begegnungen erzählen.

Auf der Bühne standen zwei Stühle. Zwei? Moment. Ich rechnete nach und war zunächst verwirrt, denn im Programmheft waren für den Abend drei Autorinnen und ein Autor angekündigt gewesen: Carol Birch, Priya Basil, Zeruya Shalev und Éric-Emmanuel Schmitt. Wie sich bald herausstellte, sollte es keine Diskussionsrunde werden, sondern Einzelgespräche.

Carol Birch war die Erste. Als die Moderatorin, Shelly Kupferberg, das Publikum fragte, wer die Autorin kennen würde, gingen kaum Finger nach oben. Noch. Nicht mehr lange, denn jetzt erscheint ihr grandioser Roman „Der Atem der Welt“, ein aufregender Abenteuerroman, der mit einem Jungen und einen Tiger beginnt und die Leser aufs Meer führen wird. Ich habe euch den ersten Abschnitt von diesem Roman mitgebracht: „Ich wurde zweimal geboren. Das erste Mal in einem Zimmer aus Holz, das über das schwarze Wasser der Themse ragte; das zweite Mal acht Jahre später auf dem Highway, als der Tiger mich in sein Maul nahm und eigentlich alles erst richtig begann.“ Da möchte man am liebsten weiterlesen. Carol Birch widmet sich in ihren Romanen vorrangig armen Menschen. Shelly Kupferberg wollte wissen, wo die Affinität zu diesen Menschen herrührt. Carol Birch selbst stammt aus armen Verhältnissen, ihre Mutter hatte viele Schulden. Auch die Geschichte von einem achtjährigen Jungen, der auf einen Tiger zuging, spielte sich in einem zwielichtigen Millieur ab, dem Ratcliffe Highway. Außerdem möchte sie in ihren Geschichten, denjenigen eine Stimme geben, die sonst keine haben. Neben der wahren Begebenheit wurde sie von zahlreichen Berichten von Schiffbruch-Überlebenden genauso inspiriert wie von dem Klassiker „Moby Dick“.

Aufregend war auch das Gespräch mit Priya Basil, die Autorin, die einige von euch bereits kennen. Ihr Buch „Die Logik des Herzens“ hat mich dieses Jahr bisher am meisten begeistert. Sie schwärmte von Berlin, einer Stadt, die sich immer noch entwickelt und sie ist gespannt, in welche Richtung sie sich bewegen wird. Die Autorin schreibt nicht nur großartige Geschichten, sie engagiert sich, unterstützt die Control arms, eine Kampagne, die 2002 von amnesty international, iansa und Oxfam gegründet wurde und sich für einen streng kontrollierten Umgang mit Waffen weltweit einsetzt. Die gebürtige Kenianerin berichtete auch von der Initiative „Authors for Peace“, die sie 2010 ins Leben gerufen hat. Diese Organisation will die Stimmen der Schriftsteller bündeln und den Autoren die Möglichkeit bieten, in verschiedenen Formen den Frieden zu unterstützen. Das ilb hat dieser Institution als erstes Forum die Möglichkeit gegeben, auf sich aufmerksam zu machen. Darüber hinaus sprach Priya Basil über ihre eigene Vergangenheit, die sie in den frühen Jahren in Kenia im Wohlstand erlebt hat, einer privilegierten Blase. Damals hat sie die Unterschiede nicht wahrgenommen, heute hingegen reflektiert sie die Gesellschaft und beschäftigt sich mit den Umständen, so auch in ihrem aktuellen Roman, der neben einer unmöglichen Liebe auch von gläubigen Moslems erzählt. Gerade nach dem 11. September 2001 leidet der Islam unter einem negativen Image. In „Die Logik des Herzens“ wollte sie sich auf positive Art und Weise dem Islam nähern, Licht ins Dunkel bringen.

Éric-Emmanuel Schmitt war der Hahn in der Runde. Diese Rolle füllte er perfekt aus. Bislang habe ich nichts von dem Autor gelesen, doch das soll sich nun ändern. Ja, er hat mich mit seinem französischen Charme verführt. Nicht nur mich, auch meine Sitznachbarin, die anschließend seine Lesung besuchen wollte. „Every day is the first time.“ Das ist sein Lebensmotto, das auch die Vielfalt seines Schaffens erklärt. Wenn er einen Roman beendet hat, kann er nicht daran anknüpfen, dann müsse eine neue Form her wie ein Erzählband. So produziere er wie ein Apfelbaum Äpfel wachsen lässt, sagte Schmitt. Druckfrisch liegt nun sein neuer Roman „Die Frau im Spiegel“ vor, in dem er drei Frauen porträtiert. Ein Mann, der über Frauen schreibt. Wie kommt das? Es war ein großes Abenteuer für ihn, er wollte in die Rolle der Frauen schlüpfen, die ihn immer schon faszinieren. Als Junge hat er oft seine Mutter und seine Schwester vorm Spiegel beobachtet. Er wollte wissen, was sie denken und weiß heute, dass sich Frauen anders anschauen. Sie sind im Gegensatz zu Männern besonders kritisch. Zum neuen Roman inspiriert haben ihn mythische Gestalten aus der Renaissance und Romy Schneider.

Zum Abschluss schwebte die großartige Zeruya Shalev auf die Bühne. Die Freude war riesig. Ich bewundere diese Autorin und ihre Bücher, die viel in mir auslösen. Zunächst dankte sie für die Einladung und war froh der Hitze ihres Landes entkommen zu können. Daraufhin ging ein Lachen durch den Saal. Shelly Kupferberg fragte die Autorin u.a., wie es sei, in Jerusalem zu schreiben. „Life is a challenge. Write is a bigger challenge.“ Sie berichtete davon, dass die Stadt einerseits eine große Inspiration ist, andererseits aber auch viel Spannung in sich trägt. Gerade die 2. Intifada hat sie sehr beschäftigt. Es fiel ihr schwer, zu schreiben. Immer wieder wurde sie herausgerissen, konnte nicht am Stück arbeiten. In ihrem aktuellen Roman „Für den Rest des Lebens“ hat sie die Geschichte Israels mit eingearbeitet, damit hebt sich der Roman von den anderen ab. Sie selbst hat durch ihre Arbeit an dem Buch noch mehr über Israels Geschichte erfahren können.

Die „Roman-Revue II“ war für mich ein persönliches Highlight auf dem 12.ilb. Es fühlt sich unglaublich an, wenn vor mir renommierte AutorInnen sitzen, die ich bewundere. Sie sind ein Königreich, vor dem ich mich verneigen möchte und gleichzeitig zum Greifen nah. Ich möchte vor Glück schreien, muss aber schweigen. Ich wollte alles aufsaugen, jeden Satz einatmen und mich daran festhalten. Allesamt waren so natürlich und versprühten mit der herzlichen Moderatorin eine angenehme vertraute Atmosphäre. Es gab keine Barriere zwischen uns, wir flossen zusammen durch den Abend, der für einige nach der Veranstaltung nicht endete. An dieser Stelle möchte ich auch Shelly Kupferbergs Arbeit lobend hervorheben. Sie führte nicht nur auf angenehme Weise durch den Abend, sondern übersetzte die englischen Antworten ins Deutsche.
Zeruya Shalev, Éric-Emmanuel Schmitt und Carol Birch lasen im Anschluss separat aus ihren Büchern. Ich entschied mich für niemanden, weil ich mich nicht entscheiden konnte und wollte. Also packte ich diese unglaublich schönen Eindrücke in mein Herz und eilte hinaus in eine wartende Menschentraube. Es war wirklich großartig zu sehen, wie viele Menschen vorm Einlass warteten. Ich lächelte in der aufgewärmten Luft über diese Beobachtung. Dies war kein Popkonzert, sondern ein Ort, an dem die Literatur ihre Arme öffnet. Ja, die Literatur lebt und reißt viele Menschen mit. Dem 12.ilb ist es zu verdanken, dass hunderte Leser ihre AutorInnen live erleben können, eine einmalige und wunderbare Möglichkeit. Und für viele bleibt es unvergesslich wie für mich. Literatur verbindet und macht glücklich. Bis zum nächsten Jahr, liebes ilb!

Erschütterungen.

Ich wusste, worauf ich mich einlasse und doch hat mich Zeruya Shalev erneut mit einer Wucht gegen die Wand geschleudert. Verletzt habe ich mich nicht, ganz im Gegenteil, ich spüre nach ihren Romanen stets eine ungeheure Kraft in mir. Wie ein Baum stehe ich fest auf dem Boden und bin glücklich, einen Sturm überlebt zu haben. Gewaltig sind ihre Bücher, radikal und kraftvoll die Worte, mit denen sie düstere, dramatische Geschichten erzählt. So auch „Für den Rest des Lebens“, in dem sie das Leben von drei Menschen durchleuchtet.

Chemda Horovitz ist der Ausgangspunkt der Geschichte. Die alte Frau liegt in ihrem Bett, ist unfähig, sich zu bewegen und übergibt dem Kopf das ganze Kommando. Der Kopf beobachtet, wie „knochig und geschrumpft“ sie ist, „leicht wie eine Feder“, dass sie wegfliegen könnte. Der Kopf nimmt die Besuche der Kinder wahr, „spürt den alten Groll, bemerkt die Blicke auf die Uhr, das erleichterte Aufatmen, wenn das Telefon klingelt.“ Der Kopf ist es auch, der ihr Gedanken einhaucht und an den Fäden der Erinnerung zieht. So wandert sie zurück, erlebt die ersten Momente des Lebens, die sie als erstes Kind im Kibbuz machen soll. Plötzlich steht sie im Mittelpunkt der Menschen. Laufen soll sie, die ersten Schritte machen, bedeutungsvolle Schritte wie sie jetzt im Nachhinein denkt: „Es schien, als hätten sich alle Sehnsüchte nach den kleinen Geschwistern, die in der Fremde geblieben waren, nach ihrer eigenen Kindheit, aus der sie aufgrund einer harten Ideologie herausgerissen worden waren, nach der Liebe ihrer Eltern, die sie nicht mehr gesehen hatten, seit sie weggegangen waren, manche im Zorn, manche mit gebrochenem Herzen, dort im gerade fertig gebauten Speisesaal versammelt.“ Es passiert das große Drama, sie fällt in dem Moment, als der Vater sie loslässt. Der Sturz bleibt ein wunder Punkt in Chemdas Leben, die erst zwei Jahre danach anfängt zu laufen.

Stagnation ist ein treffendes Wort für das Leben von Chemdas Kindern, die gefangen sind in ihren eigenen Welten, wie zwei Käfer auf dem Rücken liegen und strampeln. Avner sehnt sich nach Freiheit, will ausbrechen aus den Fesseln seiner Ehefrau, die ihn über Jahre gedemütigt hat und spürt ein großes Verlangen nach der großen erfüllenden Liebe, nachdem er im Krankenhaus ein Pärchen beobachtet hat und berührt ist. In Dina wächst der Wunsch nach einem weiteren Kind, dem verlorenen Zwillingsbruder ihrer Tochter, der die Schwangerschaft nicht überlebt hat. Es ist nicht der Verlust, der sie dazu hintreibt, viel mehr ist es das innere Bedürfnis, gebraucht zu werden. Genau das Gefühl gibt ihr die heranwachsende Tochter nicht mehr: „Früher, als Nizan sie brauchte, hatte sie wie eine Wilde geatmet, hatte Sauerstoff aus den Mündern der Vorübergehenden gesogen, doch nun, da ihre Tochter sie ignoriert, sie absichtlich kränkt, braucht sie keinen weiteren Sauerstoff, sollen ihn doch die anderen einatmen.“

Es ist ein Buch voller Zorn, Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit, Trauer. Stachel bohren sich ins Herz, drücken den Kopf gegen kühlen Stein. Trotzdem steckt hier so viel Kraft drin, dass ich explodieren könnte. Anfangs brauchte ich ein bisschen, um mit Zeruya Shalev warmzuwerden. Wieder reihen sich ihre Sätze schlangenförmig aneinander, beinah atemlos wollen sie erzählen und dulden keine Pause. Anführungszeichen gibt es nicht, dafür unzählige Kommas, die Gedanken miteinander verbinden, die Gegenwart mit der Vergangenheit vereint. Das mag auf den ersten Seiten anstrengen, aber wer Shalev kennt, weiß, dass sich der erste Höllenlesemarsch lohnt und die Geschichten kleine Fußabdrücke hinterlassen. Die Themen wühlen auf, zu sehr bewegen die Lebensschicksale und rütteln an den eigenen Fensterläden, die ich gern geöffnet habe.

Zeruya Shalev widmet sich in ihrem neuen Roman dem Leben selbst, den Erschütterungen, den Sehnsüchten, Träumen und der Liebe. Vor allem die Liebe taucht mehr als Phantom auf, sie scheint in den Kränkungen und dem Egoismus der Menschen abhanden gekommen zu sein. Neben den einzelnen Schicksalen webt Shalev kritische Töne ein, erhebt eine Stimme gegen das Bild der israelischen Frau. Sie spricht von freiwilliger und trotzdem erzwungener Versklavung, „scheinbar sind sie unabhängig von den Männern, aber sie werden von ihren Kindern versklavt, sie hören auf, Frauen zu sein, und werden zu Müttern […]“ Darüber hinaus spüre ich aus dem Buch einen Unmut mit dem Staat Israel aufsteigen. Der Kessel brodelt und Dampf zieht nach oben, wenn ich Avners Gedanken lese, in denen er sorgenvoll über sein Land nachdenkt, hoffnungslos und „die Trauer den Hals“ zuschnürt. Die Autorin geht noch weiter und legt Avner folgende Worte in den Mund: „Vielleicht sollten sich Wissenschaftler dieses Konflikts annehmen, keine Staatsmänner, denkt er, vielleicht würde sie es schaffen, eine Formel zu finden, denn dieser Widerspruch zwischen den Einzelnen und dem Ganzen zieht sich in diesem Teil der Welt über Generationen hin […]“
Obwohl Shalevs Schreibstil sehr radikal und derb ist, fügt sie an vielen Stellen zarte Fragmente ein, die Bilder erzeugen, leise poetische Zwischentöne und mir die verlorene geglaubte Hoffnung in die Hände legt. Die Hoffnung und der Glaube daran, dass auch Wände durchbrochen werden können und damit Platz für Frieden und Liebe frei wird.

Zeruya Shalev.
Für den Rest des Lebens.
Januar 2012, 500 Seiten, 22,90 €.
Berlin Verlag.