Lucky Leserin.

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Es war einmal eine Leserin, die folgte mit ihren neugierigen Augen einem Erzähler und seiner Geschichte. Und fand darin großes Vergnügen. Von der ersten Seite an blieb sie gebannt bei ihm, als säßen beide an einem Lagerfeuer. Das Holz knackte, aus den Tiefen der Nacht flog der Ruf einer Eule hinüber. Dieses Bild gefällt der Leserin, die immer noch höchst beglückt auf »Lucky Newman« von Carl Nixon zurückblickt und mit ihren eigenen Worten nochmals in die gut riechenden Seiten dieses haptisch wundervollen Buches eintaucht.

Denn das Werk darf sich überaus glücklich schätzen, beim Weidle Verlag publiziert zu werden. Die Gestaltung ist wirklich vom Allerfeinsten! Nimmt man den Schutzumschlag vom Buch ab sieht man das gleiche Covermotiv auch auf dem Buchdeckel. Bezaubernd! Genauso beeindruckend ist das Papier. Es verströmt einen besonders schönen Geruch und ist in seiner Struktur auffallend stark, so dass der Gedanke aufkommt: Hier hat ein Baum seine würdige Bestimmung gefunden. Also beste Voraussetzungen für ein großartiges Leseerlebnis!

Der Erzähler nimmt die Leserin mit in eine Kleinstadt am anderen Ende der Welt. Im Mai sprießen dort keine Blumen, dafür fallen Blätter von den Bäumen. Obendrein dreht er die Zeit um viele Jahre zurück. Und so befinden wir uns im Jahr 1919, in Mansfield, kurz nach Ende des Ersten Weltkrieges. Der Erzähler ist sehr aufmerksam, ihm entgehen selbst kleine Details nicht. Wenn die Leserin auf Beschreibungen wie die folgende stößt, lächelt sie insgeheim: »Der Erste Weltkrieg endete am 11. November 1918; offiziell in der elften Stunde des elften Tages des elften Monats – ein zu poetisches Ende für das vierjährige Schlachten. Jonathan Whitman steht auf der Vermißtenliste.«

Jonathan Whitman ist der Ehemann von Elizabeth, einer der Hauptfiguren in dieser Geschichte. Sie lebt mit ihrem vierjährigen Sohn Jack bei ihren Eltern und arbeitet im Krankenhaus. Dort hat sie einen guten Ruf – bei den Kollegen und Kranken gleichermaßen. Was zeichnet Elizabeth aus? Ganz einfach, möchte man meinen: Sie lebt in der Gegenwart und nimmt die Kriegsveteranen so wie sie sind, macht keinen Schlenker in die Vergangenheit der Männer oder wirft hoffnungsvolle Blicke in die Zukunft. Im Jetzt reibt sie trockene, rissige Haut ein und verbindet infizierte Wunden. Sie ist tüchtig – genau das schätzen die Kranken. Und es führt dazu, dass Mrs. P. Blackwell Elizabeth ein besser bezahltes Jobangebot bei sich in ihrem herrschaftlichen Anweisen unterbreitet. Sie will die Krankenschwester als Pflegerin für ihren Mann einstellen. Seitdem dieser aus dem Krieg zurückgekehrt ist, erinnert er sich aufgrund einer Kopfverletzung an nichts mehr und nennt sich Lucky. »Wie sonst soll man einen Soldaten nennen, dessen Kameraden ausnahmslos von einer Granate zerfetzt worden sind? Glückspilz. Lucky.« Mrs. P. Blackwell ist mit ihrem Latein am Ende und hofft auf Elizabeths Hilfe.

Erst zögert die Krankenschwester, doch dann nimmt sie die Stelle an – auch wegen ihrer Eltern. Die ihre Tochter darauf hinweisen, dass die Wohnung für alle vier langsam zu klein wird. Für Elizabeth, aber auch für die Leserin, beginnt damit ein neuer, äußerst spannender Abschnitt. Während die Protagonistin sich dem verschreckten, abgemagerten Patienten mit ihrer abgeklärten Arbeitsweise annimmt, ist die Leserin von ihrer Pflege mit Fingerspitzengefühl beeindruckt. Sehr berührende Momente sind das. Tränen kullern ihr jedoch nicht aus den feuchten Augen, das verhindert der Erzähler, der sich immer wieder mit seiner charmanten Stimme einschaltet. Er bezieht seine Leser mit ein, indem er Fragen stellt, andere Wendungen einiger Szenen vorstellt oder seine Arbeit wie folgt kommentiert: »Es liegt im Interesse des Geschichtenerzählers, dem Leser den Mund wässrig zu machen – und genau deshalb lasse ich zumindest eine Zeitlang alles in der Schwebe.« Bevor die Leserin weiter grübeln kann, wie die Geschichte nun wohl weitergeht, lächelt sie auf den nächsten Seiten über die märchenhafte Geschichte, die Elizabeth ihrem Sohn erzählt. Darin geht es um einen Ballonfahrer, der allerhand Abenteuer erlebt. Große Aufregung – nicht nur für den vierjährigen Bub.

»Lucky Newman« erstaunt die Leserin in vielerlei Hinsicht – allein die Erzählform ist grandios. Gleich eingangs erfährt sie, dass der Autor 2008 von einem Mann angerufen wurde. Dieser bat ihn, die Geschichte seiner Familie aufzuschreiben.

Das macht er dann auf diese bereits beschriebene, außergewöhnliche Weise. Ergreifend, berührend und spannend ist die Geschichte zwischen Elizabeth und Lucky, über die noch viel mehr erzählt werden könnte. Hier möchte die Leserin aber einen Mantel des Schweigens drüber werfen. Schließlich sollen auch alle anderen Leser über die unerwarteten Wendungen staunen, überhaupt über den ganzen Roman. Nach dessen Lektüre man sich selbst wie ein Glückspilz fühlt. Lucky Newman, Lucky Leserin.

Carl Nixon: Lucky Newman. Aus dem Englischen von Stefan Weidle und Ruth Keen. Weidle Verlag, März 2015, 280 Seiten, 23,- €.

karenina-illustrationWeitere Stimmen über das Buch:
> masuko13

5 Gedanken zu „Lucky Leserin.

  1. masuko13

    Hey, liebe Lucky Leserin,
    zurück von meiner Insel, verschönst du mir den ersten Abend im kalten Berlin 🙂
    Ich bin sofort wieder drin in der Geschichte von Nixon. Er hat’s einfach drauf, oder?!
    Neben mir liegt eine meiner Urlaubslektüren, sein Roman „Settlers Creek“.
    Ebenso großartig erzählt sowie wundervoll gestaltet. Ich bin sicher, über Nixon werden wir beide noch jede Menge reden.
    Glückliche Grüße, masuko

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  2. J. Kienbaum

    Gefällt mir, gefällt mir sogar sehr!
    Auch ich bin glücklich ans Ende dieser wundervoll poetischen, ebenso einfachen wie tiefsinnigen Geschichte geschwebt. Deine Begeisterung teile ich aus vollstem Herzen und weiß nun gar nicht, wie ich nach Deiner Besprechung eigene Worte finden soll für den reizvollen »Lucky Newman«. (…) Ich werde es dennoch versuchen; das Buch hat es verdient. In einigen Tagen mehr…
    lg_jochen

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  3. Klappentexterin Autor

    Hach, ihr Zwei, wie ist das schön! Eure begeisterten Stimmen hier aufzufangen. Und dabei lange zu lächeln. Mir erging es nach masukos Rezension genauso, lieber Jochen. Wie und was konnte ich noch schreiben, nachdem masuko bereits all das beschrieben hatte, was ich bei der Lektüre empfand? Aber irgendwie kamen sie dann doch noch, die eigenen Worte, und das erneute Eintauchen in die Lektüre war eine besondere Freude. Ganz ähnlich wird es dir ebenfalls ergehen – da bin ich mir so was von sicher. Daher freue ich mich schon jetzt auf deine baldige Besprechung! Und auf deine, liebe masuko, sofern du eine Besprechung zu »Settlers Creek« schreiben wirst. Immerhin hast du das Buch im Urlaub gelesen und Urlaub heißt auch abzuschalten und Bücher ohne Hintergedanken zu lesen. Ohne Zettelchen und Notizbuch. In jedem Fall – da sind wir uns hier alle einig – haben wir dank des feinen Weidle Verlags einen bemerkenswerten Autor entdeckt. Very lucky!

    In diesem Sinne glücklich in die Runde winkend,
    eure Klappentexterin

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  4. lesesilly

    Liebe Klappentexterin,
    bin gerade bei der Lektüre dieses wundervollen Buches, welches ich aufgrund Deiner und Masukos Rezension erworben habe und bin überglücklich. Die ganze Aufmachung dieses Werkes ist toll und erst recht der Inhalt. Ich werde traurig sein, wenn ich es beende, denn man fühlt sich beim Lesen so wohl. Vielen Dank für diese tolle Empfehlung!
    LG
    lesesilly

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    1. Klappentexterin Autor

      Liebe lesesilly,
      ja, ist es nicht wundervoll? Innen und außen eine wahre Augenweide! Du brauchst aber gar nicht traurig zu sein, denn es gibt vom gleichen Autor noch zwei weitere Bücher. Schau am besten hier beim Weidle Verlag. Pssst: Rocking Horse Road gibt’s auch als Taschenbuch. 😉

      Danke für deine begeisterte Rückmeldung!

      Liebe Grüße
      Klappentexterin

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