Handschuhe auf den Augen und Inspiration im Kopf.

Ich hatte lange gewartet und sah am Ende aus wie eine gut gefüllte Weihnachtsgans. Die große, tiefsitzende Sehnsucht trieb mich schon einige Tage vor Erscheinen von „1Q84“ in den Wahnsinn. Tagsüber begann ich ein Buch nach dem anderen und konnte mich nicht ganz konzentrieren. Nachts lag ich wach im Bett und schaute den Sternen im nächtlichen Himmel zu. Als der Mond schließlich zunahm, wusste ich: Die Zeit ist gekommen für einen neuen Murakami. Der Roman erschien bei zunehmendem Mond am Himmel.

Als ich das Buch in den Händen hielt, verlor ich jegliches Zeitgefühl. Die Stimmen der Menschen um mich herum rauschten vorbei und ich war vollkommen geblendet von dem Silberbarren. So sieht das Buch nämlich aus. Ein Silberschatz in der Buchhandlung und am Literaturhimmel sozusagen. Die Seiten sind feinstes Papier und sehr weich. Sie schmiegten sich vertraut um meine Finger. Schon war ich drin und saß zusammen mit Aomame im Taxi.

Sie ist unterwegs zu einem wichtigen Termin. Es kommt jedoch schnell zum Stillstand, weil sie in einen Stau geraten. Der Taxifahrer sagt, dass es lange dauern wird. Zeit hat Aomame keine, also verrät er ihr eine „inoffizielle Möglichkeit“, wie sie es doch noch pünktlich zum Termin schaffen kann. Über eine Treppe, die von der Stadtautobahn führt. Wenn sie die herabsteigt, gelangt Aomame in die Nähe „einer Station der Tokyu-Linie“. Zunächst ist die junge Frau unsicher, doch sie entscheidet sich für den Weg. Bevor sie aus dem Taxi steigt, gibt der Fahrer ihr noch einen Ratschlag mit auf den Weg: „Die Dinge sind meist nicht das, was sie zu sein scheinen.“ Warum? fragt Aomame und auch der Leser runzelt die Stirn. Das Herabsteigen über einer Treppe von der Stadtautobahn ist etwas Ungewöhnliches, sagt der Fahrer. Besonders am hellichten Tag. „Wenn man so etwas tut, kann es sein, dass einem der Alltag anschließend ein wenig – wie soll ich sagen – verschoben erscheint. Aber man darf sich nicht vom äußeren Schein täuschen lassen. Es gibt immer nur eine Realität.“ Genau hier blieb ich hängen und dachte: Es ist ein Omen, es ist verdammtes Murakami-Omen. Gib Acht!

Nur wenige Seiten weiter treffe ich im zweiten Kapitel auf Tengo. Er erinnert sich gerade, wie er mit eineinhalb Jahren seine Mutter gesehen hatte. Dabei sah er sich als dritte Person im Kinderbett liegen. Diese erste und einzige Erinnerung an seine Mutter hat sich tief in sein Bewusstsein eingebrannt. „Isoliert ragte diese Erinnerung aus einer trüben Wasserfläche heraus wie der Kirchturm einer überfluteten Stadt.“ Die Szene erscheint ihm oft, einfach so. Dann vergisst er alles um sich herum, wo er ist, was er gerade macht und ihm wird schlagartig schwindelig. So jedenfalls fühlt sich das Ereignis jedes Mal an. Diese Attacke ereilt Tengo, als er mit dem Redakteur Komatsu zusammensitzt und über das Manuskript „Die Puppe aus Luft“ redet. Eine interessante Geschichte, die leider zu schlecht geschrieben ist. Genau diese soll Tengo, der als Mathematiklehrer an einer Yobido seinen Lebensunterhalt verdient und Schriftsteller ist, so schön schreiben, dass die Verfasserin, die siebzehnjährige Fukaeri, den Debütpreis erhalten soll. Ein gewagtes Vorhaben, auf das sich Tengo einlässt.

Und wie ist das nun mit Tengo und Aomame? Zwischen den beiden besteht eine Verbindung. Das ahnt man als Leser relativ schnell. Ja, die gibt es. Eine besondere dazu. Was aber genau, das werde ich natürlich nicht verraten. Nur so viel: Ein Händedruck und zwei Monde spielen da eine nicht unbedeutsame Rolle.

In diesen beiden Handlungssträngen der beiden Hauptprotagonisten bewegt sich die Geschichte, die in zwei Büchern unterteilt ist. Aomame taucht dabei jeweils in den Kapiteln mit den ungeraden Zahlen auf, Tengo bei den geraden. Der Autor hat in seinen Roman – neben einer zauberhaften Liebesgeschichte, die den zarten Schleier von Romeo und Julia trägt – auch spannende und verschiedene Aspekte eingearbeitet. Da sind die japanischen Frauen, die unter gewaltsamen Ausbrüchen ihrer Ehemänner leiden. Und auch eine Sekte spielt ebenfalls eine große Rolle wie die „Little People“. Sie tauchen in Fukaeris Roman zum ersten Mal auf und bewegen sich auch in der wirklichen Welt. Man möchte die „Little People“ fassen, aber sie zerrinnen dem Leser immer wieder zwischen den Fingern. Am Ende bleiben Fragen im Kopf kleben wie ein Kaugummi. Dafür lieben wir ja Murakami. Für dieses Unerklärliche. Das Mystische, das Alltägliches in kleine Märchen verwandelt. Nichts ist wie es scheint. Auf vieles gibt es Antworten, aber eben nicht auf alles. Der Autor schreibt es selbst und legt die Worte Tengos Vater in den Mund:
„Was einer ohne Erklärung nicht versteht, versteht er auch nicht, wenn man es ihm erklärt.“ Diesen Satz wiederholt Murakami oft. Ist es eine winzige Botschaft an seine Leser?

Murakami hat einen weiten Spannungsbogen gezogen. Ausführlich erzählt er die vielen Geschichten, die sich in dem Werk finden. Er beweist erneut, dass er ein Meister darin ist, den Leser bei der Stange zu halten. Manche Leser meinten, man hätte den Roman auf 800 Seiten kürzen können. Das finde ich nicht. Keine Seite ist zu viel. Dies ist auch der großartigen Leistung von der Übersetzerin Ursula Gräfe zu verdanken, die hier hervorragende Arbeit geleistet hat.

Ich habe ja bereits in meinem Zwischenbericht darüber geschrieben, dass dies ein ganz anderer Murakami ist als seine bisherigen Bücher. Anfangs hat mich der Autor verwirrt und auch ein bisschen enttäuscht. Meine Erwartung wurde zunächst nicht erfüllt. Wie ein trotziges Mädchen sah ich aus. Habe mit den Füßen getreten und mich geärgert. Aus einem Impuls heraus blieb ich eines Morgens stehen und spürte etwas anderes, was von „1Q84“ ausging.

Es hatte klick gemacht. Der Schalter ging von ganz allein an. Ich strahlte zwar immer noch nicht, aber ich war kein Schattenkind mehr, dafür viel mehr ein Literaturkind, das sich leicht leuchtend mit einer Hochachtung vor dem Schriftsteller verneigte.

Während sich seine anderen literarischen Werke für mich durch eine besondere Wärme hervorhoben, bleibt es hier kalt. Bitterkalt. So verdammt fies kalt, dass ich oft einen Schal oder Handschuhe brauchte. Manchmal ist der Blick verschleiert und erscheint wie eine undurchlässige Flüssigkeit. An einigen Stellen war mir der Autor fremd. So kannte ich ihn bisher nicht, doch ausgerechnet das hat mich auf eine seltsame Weise fasziniert. Es schimmert leicht und man nimmt nur verschwommen die Umrisse wahr. Bald schon blieb ich still mit meinen Handschuhen auf den Augen und habe ihn machen lassen. Dafür hat er mich belohnt mit einer spannenden Geschichte, einem eiskalten Märchen, das er mit wunderbaren Sätzen schmückte, die ich in mein Eisfach gelegt habe.

Murakami erinnert uns mit diesem Exoten – so will ich „1Q84“ mal bezeichnen – daran, dass das Leben sich wie ein Strom bewegt und uns mitnimmt. Veränderungen kommen und gehen. Nichts bleibt wie es ist. Auch ein Murakami schnappt sich das Recht, sich literarisch zu verändern und damit seine Leser – eine eingefleischten Fangemeinde – zu überraschen. Für so eine Veränderung nimmt man auch gerne eine anfängliche Verwirrung in Kauf.

Loslassen lautet für mich das Zauberwort zu dem Roman. Alles andere bisher Dagewesene von ihm sollten wir ausradieren – meinetwegen in eine Schublade oder gern in einen tiefen Brunnen ablegen – beim Lesen den bekannten Murakami vergessen und komplett versinken. Kaltes muss sich nicht automatisch leer anfühlen. Dort passt jede Menge Gefühl rein. Und Leeres muss sich nicht automatisch kalt anfühlen. Es kann durchaus auch warm sein, auf seine eigene Weise, kalt-warm, lauwarm. All das inspiriert. Das ist der springende Punkt. Dem Autor gelingt es, durch eine Kälte und Leere anzustoßen, hier und da zu schubsen. So habe ich mir oft die beiden Monde am Himmel gedanklich vorgestellt, die Aomame und Tengo sehen. Murakami ließ mich auch darüber nachdenken, wie Tengos „Blumenkohlohren“ wohl aussehen. Im Kopf passiert so einiges, wenn man „1Q84“ liest. Sogar so viel, dass sich fremde Menschen finden und über all die Rätsel diskutieren wie beim Blog „Reading Murakami„. Wieviele solcher Autoren existieren auf unserem Planeten?

Bevor ich das Buch gelesen habe, wusste ich, dieses Werk wird sein Opus Magnum. Anfängliche Zweifel ließen die Behauptung verblassen, doch nach den 1021 Seiten, weiß ich, dass ich recht hatte. Und dass es sich gelohnt hat, wie eine gut gefüllte Weihnachtsgans auszusehen.

Haruki Murakami.
1Q84.
Oktober 2010, 1021 Seiten, 32,- €.
Dumont Verlag.

6 Gedanken zu „Handschuhe auf den Augen und Inspiration im Kopf.

  1. Charlousie

    Wow, das hast du sehr schön gesagt! Ich habe bisher ein Buch von ihm gelesen und dieses meinem Bruder empfohlen, weil ich es sehr schön und gelungen fand. Seitdem liest er alles, was er von Haruki Murakami in die Finger bekommen kann und 1Q84 wünscht er sich zu seinem Geburtstag, wenn es doch nur nicht so teuer wäre… ;), liebe Grüße!

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  2. klappentexterin Autor

    Liebe Charlouise,

    hab vielen Dank für dein Wow! Lass mich sagen: Das Buch ist geradezu prädestiniert, um es sich zu wünschen. Weil es
    a) so schön aussieht, dass man eigentlich nur Folie braucht, um es zu verpacken.
    b) einen stolzen Preis trägt, den man oft selbst nicht tragen mag und
    c) obendrein ein wunderbares Stück an Literatur ist.

    Jetzt bin ich sehr neugierig: Welches Buch hast du denn gelesen?

    Mit besten murakamischen Grüßen

    Klappentexterin

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  3. Slaktus (Marcel)

    Grüße dich, Klappentexterin

    Es freut mich sehr das du doch noch mit dem Buch warm/kalt geworden bist ;D

    Habs ja gesagt, wenn man es irgendwie schafft, Murakamis letzte Werke etwas zu verdrängen, entfaltet sich 1Q84 einfach wunderbar. Und ich finde sogar, das 1Q84 wärme/kälte gleichermaßen rüberbringt =)

    Doch was mag uns wohl in Band 3 erwarten? Darüber mache ich mir aber noch keine Gedanken. Aber ich freue mich definitiv auf den dritten Teil.

    Aber diese Zeit kann ich mir noch mit einigen Murakamis vertreiben, die hier noch ungelesen in meiner Vitrine stehen. Ich habe mir vorgenommen sie aufzusparen. Für einsame und kalte Tage. Ich denke jetzt könnte ich wieder einen beginnen. Ich bin mir nur noch nicht einig ob ich erst Naokos Lächeln oder Mister Aufziehvogel lesen soll.

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  4. klappentexterin Autor

    Sei gegrüßt Slaktus,

    hab vielen Dank für deinen Kommentar! Das Loslassen hat mir wirklich geholfen. Auf Band 3 bin ich ebenso gespannt wie du. Werden wir dann die „Little People“ mehr greifen können? Taucht Herr Ushikawa wieder auf? Und was wird mit Tengo und Aomame? Gibt es dann vielleicht drei Monde? Wir dürfen uns auf eine interessante Fortsetzung freuen! Wie schön, dass du bis dahin noch einige Murakamibücher lesen kannst. Mein Gefühl würde sich jetzt für „Naokos Lächeln“ entscheiden.

    Ich denke ernsthaft darüber nach, nochmal einzelne Murakami-Werke zu lesen, wobei ich eigentlich Bücher nur einmal lese. Ich bin gespannt, wie dir die beiden Bücher gefallen – in welcher Reihenfolge du sie auch lesen wirst.

    Mit besten murakamischen Grüßen

    Klappentexterin

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  5. Charlousie

    Ich las „Gefährliche Geliebte“, ein wirklich außergewöhnliches, packendes und mitreißendes Buch, wie ich fand.
    Ich wollte dir nur einmal sagen, dass es mich nicht wundern würde, wenn du bei LB die „Rezension des Monats“ werden wirst, weil deine Rezension wirklich sehr schön ist! Dann wäre ich auch nicht allzu traurig, dass meine es nicht wird, weil du es verdient hättest, bei diesen so schön zusammengefügten Worten.
    Du hast doch „Gefährliche Geliebte“ bestimmt auch gelesen, wie gefiel es dir denn? Liebe Grüße, Charlousie

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  6. Pingback: Das fremde Buch des vertrauten Herrn Murakami. | Klappentexterin

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