Literatur als Herausforderung.

Ich habe ein Déjà vu. Das ist als passionierte Leserin eigentlich nichts Neues. Trotzdem scheue ich mich davor, Bücher zu vergleichen oder sie gar in einen Topf zu werfen. Aber ich werde es in diesem Fall wohl tun.

»Und es schmilzt« von Lize Spit erinnert mich an andere Werke, die ähnliche Gedanken und Gefühle in mir hervorgerufen haben: Unbehagen, ein Grummeln im Bauch, Unruhe und zum Ende hin immer mehr den Wunsch nach Erlösung als auf Fortsetzung. Nach der letzten Seite folgte ein erleichtertes Aufatmen, das die Kraft hat, die Vorhänge im Schlafzimmer zu bewegen.

Die Erleichterung darüber, es geschafft zu haben war groß und gleichsam versetzte mich die Reaktion in ein wundersames Staunen. Darüber, was zwischen zwei Buchdeckeln alles möglich ist. Wie sehr uns Literatur bewegen und übers Lesen hinaus beschäftigen kann. Wie sehr sie uns aber auch herunterziehen kann, in ein dunkles tiefes Loch, wo kein Lichtschalter zu finden ist. Da sitze ich nun und frage mich in meiner Funktion als Buchverführerin: Wem kann ich dieses Buch empfehlen? Wem kann ich ein Bauchgrummeln und angespanntes Zittern ans Herz legen? Und natürlich: Warum tue ich mir selbst so etwas an, warum lese ich derart aufwühlende Bücher? Ist die Welt nicht grausam genug? Ganz einfach: Weil Literatur auch fordern soll. Mich und alle, die Bücher lieben.

Trotzdem ist dies ein Buch, das mich zweifeln lässt und irritiert. Lesen oder nicht lesen? Als künstlerisches Werk funktioniert die Geschichte ausgezeichnet, vor allem auf sprachlicher Ebene hat es mich tief beeindruckt. Die Erzählweise ist lebendig, erfrischend, sensibel, bisweilen weise und unglaublich anziehend. Dafür sorgt ein raffinierter Spannungsbogen, der – gerade im letzten Drittel – zulegt, wie der Wind vorm eintretenden Gewitter.

Als Empfehlungsbuch scheitert es, weil das Schild Herzensbuch von einem Tuch überdeckt wird. Hierin ist keinerlei Funken Hoffnung, nichts Tröstliches zu finden. Aber es entwickelt einen Sog, dem ich nicht entkomme. Das verstört mich. Wie kann man etwas mögen, obwohl man es im nächsten Moment abstoßend findet?

Was macht man also mit einem derart aufwühlenden Buch und seinen Zacken? Sobald ich es anblicke, grinst es mich an, als würde es sagen: »Los pack mich! Wirf mich gegen die Wand! Schrei mich an! Guck nicht, tu irgendwas!« Doch ich bin feige, unternehme nichts. Schaue stumm und tippe stattdessen in die Tasten, erst langsam, bald schneller.

Dieser Roman bewegt sich in einem kleinen Kosmos, beschäftigt sich dennoch mit aktuellen Themen, somit ist das Buch durchaus als Spiegel unserer Zeit anzusehen. Es gibt Gesellschaftsschichten, in denen es nichts Tröstliches gibt. In denen Kinder mit alkoholkranken Eltern aufwachsen und andere Menschen das durchaus wissen, aber keiner oder kaum jemand etwas unternimmt. Es gibt eine zunehmende Verrohung der Gesellschaft, man schaue sich nur die explosive Gewaltbereitschaft an. Oder denke an die Menschen, die an Unfallorten vorbeifahren, alles filmen, statt anzuhalten und zu helfen. Heranwachsende, die sich im Internet Sexvideos anschauen. Auch hundsgemeine Teenager wird es weiterhin geben. Sie gab es schon zu meiner Zeit, das Ausloten von Grenzen, das Ausspielen von Macht. Kinder können sehr grausam sein.

Also, werde ich das Buch empfehlen können? Nun, ich bin mir sicher: Es wird seine Leser finden, wie schon andere Leser derart aufwühlende Bücher gefunden haben. Allein schon die Covergestaltung und der grüne Seitenschnitt ziehen den neugierigen Leser magisch an. Ich weiß nicht, wie oft ich mit den Fingern über die Buchstaben gewandert bin und das kunstvolle Arrangement bewundert habe. Kunstvoll, da ist es wieder, das Wort, das ich mit dem Buch in Verbindung bringe.

Vielleicht kann ich das Buch auch in einer anderen Form in den Fokus rücken, in dem man darüber spricht? Und aus diesem Grund werde ich darüber mit zwei Kolleginnen reden. Hier. Ganz bald.

»Und es schmilzt« von Lize Spit erscheint am 24. August beim S. Fischer Verlag. Wer mehr über die Autorin erfahren möchte, kann sich auf ihrer Homepage umschauen oder wird beim mairisch Verlag fündig. Der unabhängige Hamburger Verlag war im vergangenen Jahr in Amsterdam. Dort hat der Verleger Daniel Beskos die junge Autorin getroffen und mit ihr ein interessantes Gespräch geführt.

11 Gedanken zu „Literatur als Herausforderung.

  1. Wissenstagebuch

    Ich lese das Buch auch gerade und kann den Sog, den zu beschreibst, nachvollziehen. Deine Besprechung verrät nicht zu viel und ich bin gespannt, was mich auf den nächsten Seiten noch erwartet.
    Viele Grüße, Jana

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    1. Klappentexterin Autor

      Liebe Jana,
      das ist schön, ich danke dir! Dann können wir demnächst hier gemeinsam über das Buch sprechen – sobald du in aller Ruhe zu Ende gelesen hast und das Gespräch online ist. Also weiterhin eindrucksvolle Lesestunden!

      Viele Grüße
      Klappentexterin

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  2. Elke Schneefuß

    Liebe Klappentexterin, du sprichst mir aus dem Herzen: auch kann dieses Buch nicht empfehlen. Ich will mich hier nicht allzu sehr aus dem Fenster lehnen, denn ich habe nur eine Leseprobe gesehen – aber die erzeugte sehr viel Abwehr in mir. Nicht, weil ich der Ansicht bin, das wir zuhause zur Entspannung nur leichte Lektüre lesen sollten – das tue ich nicht. Sondern weil mir das Buch ein Weltbild vermittelt, das ich jeden Tag bis zum Überdruss auch in sämtlichen Medien finde. Wozu also nochmal das Ganze? Purer Voyeurismus? Geschäftemacherei? Oder das gern bemühte Argument, wonach man die Leserschaft aufwecken wolle? Wenn das nach zahlreichen Geschichten dieser Art noch nicht gelungen ist, dann wird dieses Buch es auch nicht mehr ändern. Ich lasse solche Bücher inzwischen lieber links liegen und packe stattdessen dort mit an, wo ich es kann. Mein Garten ein bisschen bienenfreundlicher machen. Für die Kindertafel spenden. Fahrrad fahren statt Auto. Und Bücher lesen, die mir ein bisschen Hoffnung geben. Nicht viel, aber besser als nichts. Liebe Grüße!

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    1. Klappentexterin Autor

      Liebe Elke,

      ich danke dir für deinen ausführlichen und interessanten Kommentar. Ich habe oft genickt, denn ich finde mich in einigen deinen Gedanken sehr gut wieder. Eine Kollegin meinte, man müsse für das Buch stark sein. Und ich sage: Man sollte nicht allein sein, jemanden kennen, mit dem man darüber sprechen kann. Nun, bin ich gespannt, was andere LeserInnen dazu sagen werden.

      Bücher können fordern, einen aufwühlen, müssen es aber nicht, das stimmt. Den Garten bienenfreundlicher machen, klingt übrigens ganz wunderbar wie auch für die Kindertafel spenden. Schön!

      So wünsche ich dir glücklich machende Bücher! Davon gibt’s ja in der Tat nicht wenige. 😉

      Sei herzlich gegrüßt

      Klappentexterin

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  3. madameflamusse

    Viele deiner Gedanken hatte ich auch, aber ich muß sagen auch wenn es mich ebenso fasziniert hat wie es diesen Sog entwickelt – meiner Meinung nach für mich aus dem Grund einer Hoffnung, die sinnlos war – kann ich diese Buch wirklich nicht empfehlen und mir ist kein Grund eingefallen warum man es lesen sollte.

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    1. Klappentexterin Autor

      Liebe madameflamusse,

      danke auch dir für deine Rückmeldung! Das tut echt so gut. Nicht, dass mir eine Bestätigung wichtig ist, aber es beruhigt mich ungemein, zu wissen, dass ich mit meinen Gedanken nicht alleine dastehe. Was ja nicht der Fall ist, wenn ich die Reaktionen an anderen Stellen denke.

      Vielleicht sollte man es wegen der Sprache lesen? Die finde ich sehr eindrucksvoll. Oder wenn man ein Buch für einen Lesekreis sucht, könnte ich mir dieses dafür vorstellen. Trotzdem ist mir immer noch schleierhaft, dass das Buch einen derart großen Erfolg in Belgien hatte.

      Mal schauen, was hierzulande passieren wird. Darüber gesprochen wird ja schon. Und das finde ich wiederum schön.

      Liebe Grüße

      Klappentexterin

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      1. madameflamusse

        Ja, schauen wir mal, …mir läuft jedes mal ein Schauer über den Rücken wenn jemand postet das er/sie es gut findet…
        Meine Rezension folgt auch, dieser Tage.
        Lieben Gruß 🙂

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  4. Pingback: Lize Spit: Und es schmilzt (2017) – Wissenstagebuch

  5. Thomas Stiegler

    Liebe Klappentexterin.

    Das ist ja mal eine schöne Rezension. Und eine sehr interessante Frage. Wozu sollen wir eigentlich lesen?

    Sicher nicht zur Unterhaltung. Unser Leben ist doch schon so voll damit. Übervoll würde ich sagen. Und auch nicht um uns vom Leben abzuhalten. Oder abzulenken.

    Ich glaube Literatur soll uns innehalten lassen, uns aus der Bahn werfen, uns wieder zurück zu uns selbst bringen. Auf einer anderen Stufe.

    Auf jeden Fall sollen wir nach dem Lesen eines guten Buches nicht mehr derselbe sein wie zuvor.

    Ich werde mir das Buch jetzt auf jeden Fall zulegen und lesen. Danke dafür!

    Thomas.

    https://www.der-leiermann.com/

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  6. Jo

    Ich habe das Buch gelesen, und recherchiere gerade: Wo hatte ich etwas von Grummeln und Unbehagen gelesen? Es wird überwiegend als großes Werk der Literatur und daher lesenswert rezensiert.
    Mich hat es nicht verändernd berührt. Die geschilderten Grausamkeiten sind – oder scheinen zumindest mir – zu unrealistisch, als wirklich in der Form und Dichte passiert zu sein.
    Mitgefühl löst es nicht aus, daher auch keine Katharsis.
    Unterhaltender Grusel tritt ebenfalls nicht ein, dazu ist das Hauptthema sexuelle Gewalt zu schmerzhaft, die Vorfälle und Geschichte doch wieder zu nah an einer möglichen Realität.
    Literatur die herausfordert – für mich kein Aspekt.
    Das Buch erinnert mich an das Ende des Filmes „Dancer in the Dark“. Ein Schock, aber schlicht unnötig. Insofern bekommt es gegenwärtig zu viel Aufmerksamkeit.

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