Philippe Djian zu lesen, hat etwas von einer Cabriofahrt.

Die Haare flirten mit dem Wind und eine Übermütigkeit legt sich aufs Gesicht. Man fühlt sich ungemein frei, gut aufgehoben, aber irgendwie gefangen. Der Sicherheitsgurt verhindert große Bewegungen, einzig das Zappeln der Füße ist möglich. So sitzt man fest verankert im Auto, sieht die Landschaft vorbeirauschen, die Sonne tanzt auf der Nasenspitze. Schon hängt man ganz automatisch den eigenen Gedanken nach.

Nun muss ich gestehen, dass ich keine besonders erfahrene Philippe Djian-Leserin bin. Ich entdecke ihn erst nach und nach für mich. Seine große Zeit hatte er vor einigen Jahren. Erst mit „Betty Blue“, dann folgten andere bekannte Werke wie z.B. „Erogene Zone“ oder „Verraten und verkauft“ oder „Pas de deux“, um nur einige zu nennen. Zuletzt berichteten mir eingefleischte Fans, dass der Autor in seiner Qualität nachgelassen hätte. Doch spätestens nach dem neuen Roman „Die Leichtfertigen“ dürften solche Vermutungen ausgeräumt sein. Sein Roman setzt dort an, wo „Betty Blue“ einst für mich aufgehört hat. Einzig mit dem Unterschied, dass der Ich-Erzähler etwas in die Jahre gekommen ist und von der Wildheit eingebüßt hat. Es ist ruhiger geworden, aber immer noch genauso aufregend.

Der erfolgreiche Schriftsteller Francis ist der Hauptprotagonist und Ich-Erzähler in „Die Leichtfertigen“. Er will eigentlich in Ruhe seinen Lebensabend genießen. Dazu kommt es leider nicht. Seine Tochter Alice macht ihm einen Strich durch die Rechnung. Von einem Tag auf den anderen verschwindet sie und lässt alle sprachlos zurück. Die große Suche beginnt und zieht eine laute Ohnmacht nach sich. Roger, Alice’ Ehemann, flüchtet erst einmal mit den beiden Zwillingstöchtern zu Francis und seiner Frau. Die beiden leben in einem Haus am Meer direkt an der Grenze zu Spanien.

Das Verschwinden seiner Tochter verursacht in Francis Leben ein furchtbares Durcheinander. Plötzlich reißt eine bis dahin gut verpackte Wunde auf:

„Alice Abwesenheit ließ die Gespenster ihrer Mutter und ihrer Schwester wieder auftauchen – darauf hätte ich gern verzichtet. Und jetzt auch noch diese Hoffnung. Die verrückte Hoffnung – die auf nichts wirklich Greifbaren beruhte, mir die Eingeweide umdrehte und Rotzfetzen in den Wind schickte.“

Seine damalige Ehefrau Johanna und die älteste Tochter Olga sind bei einem Unfall ums Leben gekommen. Ein schreckliches Erlebnis, das Francis und Alice mit eigenen Augen ansehen mussten. Beide verbrannten im Auto. Die Ruhe ist also seit Alice’ Verschwinden passé und Francis hängt orientierungslos in der Luft. Er driftet oft in die Vergangenheit ab, sieht sich und sein damaliges Leben vor sich vorbeiziehen, erlebt das Horrorszenario erneut und seine Folgen. Damit nicht genug. In der Gegenwart plagt ihn auch noch seine Frau, eine tüchtige Immobilienmaklerin, die viel zu oft unterwegs ist. Francis beschleicht ein schrecklicher Verdacht, in dem er sich immer mehr verliert. Als Leser weiß man relativ schnell: Er ist ein Grübler par Excellence und zieht mich mitten hinein.

Philippe Djian beweist mit seinem neuesten Werk erneut, dass er ein beeindruckender Alltagspoet ist. In bekannter Manier schreibt er salopp und nachdenklich. Pointenreich und gedankenschwer mixt der Franzose eine Platte, bei der man mitschwingt und das trotz aller Dramatik. Ich konnte das Buch nicht zur Seite lesen. Es ist die feine Mischung, die seinen Stil auszeichnet: Aufbrausend wie eine Welle, die an den Strand spült und die Füße angenehm belebt. Etwas Leichtes krabbelt von da unten direkt nach oben. Leise lächelt man vor sich hin und spürt was Lebendiges in sich. Es sprudelt fontänenartig hervor und das Müde schlüpft aus den letzten Gehirnwindungen heraus. An Schlaf ist nicht zu denken, viel mehr möchte man tanzen. Philippe Djian hat einen ganz eigenen Stil – direkt, unkompliziert – und ist sehr, sehr lebensnah. Damals wie heute. Man liest seine Sätze und spürt einen vertrauten Stich im Herzen.

Wie gewohnt erzählt der Franzose auch aus dem Leben eines Schriftstellers:

„Ich wünschte mir, dass Schreiben so einfach wäre wie Nähen, ich wünschte mir, dass Schreiben so einfach wäre, wie es aussieht. Aber so ist es nun mal nicht. Ganz ehrlich. Das fällt nicht vom Himmel. Ich muss meine ganze Aufmerksamkeit darauf verwenden. Ich muss mich extrem konzentrieren. Ich kann es nicht zulassen, dass mich eine quälende Frage verfolgt. Wie das unerträgliche Kreisen einer Biene um das Blumenfeld.“

Wirklich leicht sind die Protagonisten in dem Roman nicht, ein bisschen überheblich vielleicht, leichtsinnig und selbstverliebt. So sitzen wir alle im Cabrio und fummeln aufgeregt an unseren Köpfen herum. Vieles verschwimmt und man lacht mitten hinein in ein Chaos, das mit Philippe Djian sehr unterhaltsam ist.

Philippe Djian.
Die Leichtfertigen.
Februar 2011, 224 Seiten, 20,90 €.
Diogenes Verlag.

8 Gedanken zu „Philippe Djian zu lesen, hat etwas von einer Cabriofahrt.

  1. CharleneO

    Ein herzliches „Welcome back“ an unsere Alltags-Blog-Poetin! Du überraschst mich immer wieder mit deinen schönen Rezensionen.
    Danke.

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    1. klappentexterin Autor

      Merci beaucoup, liebe Charlene! Für deinen Willkommensgruß und für deinen Kommentar! Ich freue mich, wieder hier zu sein und konnte nicht länger warten. Dieses Mal wurde mir die Zeit zu langsam.

      Liebe Grüße zum Wochenende,
      Klappentexterin

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      1. CharleneO

        Aber das ist doch ein gutes Zeichen! Es wäre doch sehr viel schlimmer gewesen, wenn du das Schreiben und uns nicht vermisst hättest 🙂

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  2. nantik

    Da ist sie also wieder, unsere geliebte Klappentexterin. Und sie kommt nicht einfach so aus der Frühlingsfrische zurück, sondern bringt uns eine wunderbare Rezension mit, die man fühlen, schmecken und riechen kann. Wie schön!
    Ist es eigentlich sehr tragisch, dass ich von Philippe Djian bis jetzt noch nichts gelesen habe? Ja, ist es! Das weiß ich seit eben. „Die Leichtfertigen“ reizt mich sehr, aber ich werde wohl zuerst „Betty Blue“ lesen. Herzlichen Dank, dass ich bei dir wieder etwas entdecken durfte, liebe Klappentexterin!

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    1. klappentexterin Autor

      Bedank dich bei Monsieur Djian. Der ist sozusagen die Initialzündung. Ich bin immer wieder erstaunt, was Bücher mit einem anstellen können, vor allem solche, die eigentlich scheinbar ruhig daher kommen und dich … na ja, siehe oben. Ich verneige mich und sage danke für deine wertschätzende Rückmeldung!

      Viel Spaß beim Entdecken! Djian ist wirklich einmalig. Weißt du eigentlich, dass es zu „Betty Blue“ auch einen Film gibt?

      Au revoir,
      Klappentexterin

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  3. Mariki

    Ich bin mit Philippe nicht recht warm geworden… Seine Schreibe ist mir irgendwie zu „männlich“, falls das eine akzeptable Kategorisierung ist 😉

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  4. klappentexterin Autor

    Hallo Mariki,
    ja, das ist eine akzeptable Kategorisierung, der ich so gar nichts mehr hinzuzufügen habe. Entweder es funkt oder nicht – wie im richtigen Leben.

    Liebe Grüße,
    Klappentexterin

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