Grüne Insel. Leuchtende Literatur.

Literatur aus Irland zieht mich magisch an. Und jedes Buch von der grünen Insel lässt mich stets ein wenig verzaubert zurück. Warum?

Vielleicht ist es dieser einzigartige Mix aus Melancholie, Tiefsinn und Humor, mitunter auch Absurdität. Nicht zu vergessen die unvergleichliche Landschaft, die sich stets vor meinem inneren Auge ausbreitet. So war es nur eine Frage der Zeit, bis ich meine Liebe zur irischen Literatur mit euch teile. Heute gibt’s eine Sammlung von Lieblingen, am Sonntag folgt ein Interview mit Hans-Christian Oeser, der viele irische Werke ins Deutsche übersetzt hat. Und der ja nicht zum ersten Mal Gast auf unserem Blog ist.

Maeve Brennan | © Foto: Karl Bissinger

Fangen wir mit dem Steidl Verlag an, der sich besonders um die Literatur aus Irland verdient gemacht hat und dem ich viele Entdeckungen zu verdanken habe. Nein, ich bekomme weder Geld noch Lorbeeren von dem unabhängigen Göttinger Verlag. Das Team dort hat einfach ein unglaublich feines Gespür für ausgezeichnete irische Literatur – auch die Übersetzerinnen und Übersetzer spielen hierbei eine wichtige Rolle. Der Steidl Verlag war´s auch, durch den ich auf eine Autorin gestoßen bin, die mich seit Jahren begleitet: Maeve Brennan.

Gefunden haben wir uns an einem kalten Wintertag im ocelot, einer kleinen, feinen Buchhandlung in der Mitte Berlins. „New York, New York“ ist ein Band mit Kolumnen über die Stadt, die niemals schläft. Ich war sofort verzaubert und absolut hingerissen. Brennans genaues Auge, ihre Sprache, die leuchtet, mich umgarnt und die Geschichten der einfachen Menschen und der Orte sind eine Wonne für alle, die die Sehnsucht nach dem Big Apple in sich tragen.

Wenig später lernte ich im Rahmen eines Abends bei Wagenbach den Übersetzer Hans-Christian Oeser kennen. Auch das war irgendwie magisch. Hat er mir doch einige Anekdoten aus dem Leben von Maeve Brennan beschert. Und er ist es auch, der uns deutschsprachigen Leserinnen und Lesern so großartige Autorinnen wie Claire Keegan oder Sebastian Barry zugänglich gemacht hat. Genügend Stoff für ein ausführliches Interview, das, wie gesagt, im zweiten Stepp folgt.

Ihr findet auf meinem Blog eine große Sammlung zu Maeve Brennan:

Hier meine Buchbesprechung zur Maeve Brennan-Biographie von Michaela Karl.
Hier findet ihr einen Einblick in Maeve Brennans Erzählungen.
Hier ein Gespräch über Maeve Brennan mit Hans-Christian Oeser.

Maeve Brennan: New York, New York, hier seht ihr die schöne Steidl Ausgabe für 18,- €. Es gibt auch eine Taschenbuchausgabe beim Unionsverlag für 15,- €.
Bluebell, 80 Seiten, gebunden, 16,- €, Steidl.
Sämtliche Erzählungen und Dubliner Geschichten, 1168 Seiten, Steidl, 45,- €.

Claire Keegan | © Foto: Murdo McLeod

Apropos Claire Keegan – die Autorin hat mich bisher mit all ihren Büchern begeistert. Ob nun mit der wundervollen wie berührenden Weihnachtsgeschichte „Kleine Dinge wie diese“, in der ein Kohlehändler durch seine Menschlichkeit gegen alle Widerstände aktiv wird, um ein Mädchen zu retten. Oder mit „Das dritte Licht“, einer sommerleichten wie befreienden Geschichte eines einfachen Mädchens, das bei einer fremden Familie die Zuneigung findet, die sie immer vermisst hat. Kürzlich ist die Erzählung „Reichlich spät“ erschienen. Darin geht es um einen misogynen Mann, der das Ende seiner Beziehung rekapituliert. Schnörkellos und doch berührend geschrieben, wie alle ihre Werke. Claire Keegans Erzählkunst ist herausragend. Das fand auch die Jury des Siegried Lenz Preises – den mit 50.000 € dotierten Preis erhält die Autorin in diesem Jahr in Hamburg. Ich werde versuchen, dabei zu sein und zu berichten!

Ebenso bewundernswert ist Liz Nugent, die mit ihren Thrillern das Genre ungemein bereichert. „Auf der Lauer“ hat mich seinerzeit extrem beeindruckt. Ein verstörendes, befremdliches und gleichermaßen faszinierendes Buch! Gleich zu Beginn bin ich Zeugin eines Mordes und kenne bereits die Täter: Lydia und ihr Mann Andrew bringen im Auto eine junge Frau um. Warum? Zunächst mutet die Geschichte wie ein klassischer Krimi an, doch er entwickelt sich mehr und mehr zu einem psychologischen Kammerspiel.

Liz Nugent | © Foto: Emilia Hesse / Steidl Verlag

Noch ganz frisch ist „Seltsame Sally Diamond“ – das bisher dunkelste Buch der Autorin. Aber es lässt immer Platz für Hoffnung, weil Liz Nugent mit einer raffinierten Waffe arbeitet: Humor. Dennoch macht diese Geschichte atemlos und erschüttert mich. So peitsche ich durch die Seiten, die aus zwei Perspektiven erzählt wird. Einmal Sally, 43 Jahre alt. Sie hat sozusagen ihren verstorbenen Vater verbrannt, weil er genau das mal gesagt hat: „Wenn ich sterbe, kannst du mich mit dem Müll entsorgen.“ Sally nimmt ihren Dad beim Wort. Warum sie dies tut, erfahre ich im Laufe des Lesens. Und es ist unglaublich! Peter ist die andere Stimme in diesem Roman. Wer Peter ist und was Sally und ihn verbindet, nun, das lasse ich jetzt mal offen. In jedem Fall erwartet euch der ganz eigene Stil von Liz Nugent, den uns Kahtrin Ruzum meisterlich ins Deutsche übertragen hat.

Liz Nugent, aus dem Englischen übersetzt von Kathrin Razum: Auf der Lauer liegen, Steidl, 345 Seiten, 28,- €, erscheint demnächst als Steidl Pocket für 18,- €.
Kleine Grausamkeiten, 400 Seiten, Steidl Pocket, 16,- €.
Seltsame Sally Diamond, 336 Seiten, 26,- €.

Paul Murray | © Foto: Chris Maddaloni

Weniger bizarr, aber genauso bewegend, menschlich und mitunter komisch liest sich „Der Stich der Biene“ von Paul Murray. Ein Schwergewicht von Buch – fast 700 Seiten stark. Fast hätte ich es deswegen nicht zur Hand genommen. Wäre da nicht meine wunderbare stories!-Kollegin Sarah O‘ Connor, die, ihr Name verrät es vielleicht schon, ein Faible für irische Literatur hat. Und meine Synchronleserin ist. Was bedeutet, dass ich mit ihre viele Lieblingsbücher teile.

Sarah und ich. Foto: TinaS

Sarah liest die Bücher stets im Original – die naturgemäß meist viel früher als die Übersetzungen vorliegen. Großer Vorteil für uns. Wir wissen heute schon, was morgen oder im nächsten Jahr ein Highlight werden wird. Denn Sarah irrt nie!

„The Bee Sting“ stand 2023 auf der Shortlist für den Booker Prize und zählte für die New York Times und die Washington Post zu einem der zehn besten Bücher des Jahres. Absolut verdient! Paul Murray erzählt in seinem Epos die Geschichte der Familie Barnes. Und dies aus der Sicht jedes Familienmitglieds: der 18jährigen Cass, ihrem 12jährigen Bruder, der wunderschönen Mutter Imelda und dem Vater Dickie. So sind wir sozusagen Gast in jedem Kopf der Familie, sprechen mit ihren Stimmen und erleben authentische wie packende Momente. Paul Murray erzählt eine universelle Geschichte, in die er auch sämtliche Herausforderungen unserer Gegenwart mit eingewoben hat. Alles beginnt mit dem Niedergang des familiären Autohauses…

Die Lektüre ist humorvoll wie tragisch, berührend wie überraschend. Denn hinter jedem Geheimnis steckt noch ein weiteres Geheimnis. Hier ist keine Seite zu viel, und das Finale ist wirklich fulminant. Lesen und staunen!

Paul Murray: Der Stich der Biene, 700 Seiten, 30,- Kunstmann Verlag. Aus dem Englischen übersetzt von Wolfgang Müller.

Paul Lynch | © Foto: Joel Saget

Staunen könnt ihr auch beim Booker Prize Träger 2023: „Das Lied des Propheten“ von Paul Lynch. Sarah schwärmte bereits bei unserem winterlichen stories!-Abendbrot 2023 von diesem beklemmenden wie beeindruckenden Buch. Und sie lag wieder goldrichtig. Wegen der Sperrfrist darf ich noch nichts über den Roman verraten. Aber bitte merkt euch den 13. Juli vor – dann erscheint das Buch beim Klett Cotta Verlag. Paul Lynch erzählt die Geschichte einer Familie, einer tapferen Frau, die kämpft wie eine Löwin, in einem Land, das von einer tyrannischen Regierung geführt wird.

Donal Ryan zählt für mich zu den Entdeckungen des Jahres. Zu verdanken habe ich den Autor der langjährigen Diogenes Lektorin Kati Hertzsch. Sie hat mich auf diesen herausragenden irischen Autor erst aufmerkam gemacht. Donal Ryan ist in vielerlei Hinsicht eine Besonderheit, er wird von Jonathan Franzen und vielen anderen bewundert. Sein Werk wurde ausgezeichnet und für namenhafte Preise wie den Man Booker Prize nominiert.

Seltsame Blüten ist sein fünftes Werk, das kongenial von Anna-Nina Kroll ins Deutsche übertragen wurde, und es ist sein Meisterwerk. Klein, fein, aber mit unglaublichen Klängen. Darin geht es um die Gladneys, die ihre Tochter verlieren. Moll verschwindet eines Morgens einfach spurlos. Keiner hat etwas gesehen oder gehört. Paddy und seine Frau Kit versuchen mit dieser Ungewissheit und den Schmerz zu leben. Wie Donal Ryan Worte für diesen Zustand findet, berührt mein Herz. Voller Einfühlungsvermögen, als würde er ihnen eine Hand in die aufgeregten Seelen legen.

Donal Ryan | © Foto: Anthony Woods

Fünf Jahre sind vergangen, als Moll plötzlich wieder auftaucht. Mittlerweile ist sie 25 Jahre. Sie erzählt nicht, was passiert ist. Die Eltern sind zu erleichtert, dass ihr geliebtes Kind zurückgekehrt ist, und stellen keine Fragen. Als kurze Zeit später der Pastor und der Detective bei ihnen anklopfen, dreht sich das Rad noch einmal neu. Und ich schnappe nach Luft.

Donal Ryan setzt unerwartete Cliffhanger, versetzt mich in großes Staunen und begeistert mich durch seine erstaunliche Erzählweise. Atmosphärisch dicht ist sie, herzenswarm, und derart lebensweise. The Guardian formuliert es treffend: „Er schreibt Sätze, die danach rufen, laut vorgelesen zu werden.“

Ebenfalls erwähnen, möchte ich Ryans Liebe zur Natur: So breitet sich die irische Landschaft vor meinem inneren Auge aus wie die Figuren, die er mit großer Empathie und Hingabe zeichnet. Was die Lektüre obendrein herausragend leuchten lässt, ist neben dem unvergleichlichen Sound die Vielfalt an Themen, die sich hierin finden: Es geht um Lebensentwürfe, Identität, Religion, Familie, Liebe in vielfältiger Weise sowie das Schweigen über Gefühle. So wissen wir bis zum Schluss nicht, durch welche tiefe Täler Moll läuft. Wir können es nur erahnen. Das ist große Kunst. Oder wie Joseph O’Connor sagt: „Ein Triumph von stiller, aber umwerfender Kraft, mit Abstand der beste Roman, den ich in diesem Jahr gelesen habe.“

Donal Ryan übersetzt von Anna-Nina Kroll.
Die Stille des Meeres, Taschenbuch, 274 Seiten, 14,- €
Die Sache mit Dezember, Taschenbuch, 272 Seiten, 12,- €.
Seltsame Blüten, gebunden, 264 Seiten, 24,- €.

„Die Sache mit Rachel“ von Caroline O‘ Donogue hat mich unlängst ebenfalls begeistert. Da das Buch erst am 4. Juli erscheint, auch hier noch nichts Genaues. Nur soviel: Außergewöhnlich. Unbedingte Leseempfehlung! Hörbuchfans empfehle ich übrigens die großartige Fassung, die Nora Schulte eingesprochen hat. Sprecherin und Story sind das perfekte Paar! Hier geht’s zur Hörprobe, in die bitte mal alle hier lesenden Buchhändler:innen und Verlagsleute hineinhören mögen. Ihr werdet den Anfang lieben!

Maggie O’Farrel: Hier muss es sein. Aus dem Englischen übersetzt von Kathrin Razum. Piper Verlag, 544 Seiten, 26,- €.
Caroline O’Donoghue: Die Sache mit Rachel. Erscheint am 4. Juli beim KiWi Verlag, 400 Seiten, 24,- €. Das Hörbuch hat Argon produziert und kostet 20,95 €.
Naoise Dolan: Das glückliche Paar. Aus dem Englischen übersetzt von Anke Caroline Burger. Rowohlt Hundert Augen, 304 Seiten, 24,- €.

Maggie O‘ Farrell zählt ebenfalls zu den stories!-Lieblingen. Welches Werk von ihr lesen? Alle! Wenn ihr Fragen habt, dann fragt uns am Straßenbahnring. Sally Rooney gehört ebenso auf die literarische irische Landkarte wie Naoise Dolan, die weniger bekannt, aber genauso gut ist wie Sally Rooney. Ihr Debüt „Aufregende Zeiten“ war schon lesenswert, aber ihr kürzlich erschienenes Buch „Das glückliche Paar“ ist noch viel, viel besser. Ein Liebespaar, das gleich zu Beginn verlobt ist. Celine und Luke leben in Dublin, in einer kleinen Wohnung mit einer Katze. Nur stellt sich schnell mir die Frage: Ist Luke wirklich der richtige Mann? Und Celine die richtige Frau? Beide sind queer, lieben Männer und Frauen, und beide werden vor ihrem großen Tag vor große Verführungen und Fragen gestellt.

Zwei Dinge hat mir dieses Buch gezeigt: Ich bin froh, ein Alter erreicht zu haben, in dem ich ein derartiges Beziehungsdurcheinander nicht mehr erleben muss. Und ich weiß, warum ich irische Literatur über alles liebe. Weil sie so ist, wie sie ist. Einzigartig und unglaublich belebend. Wie ein Frühlingstag auf der grünen Insel.

Und an dieser Stelle zeige ich eins der wichtigsten Bücher unserer Gegenwart. Die englische Ausgabe ist bereits erschienen und haben wir natürlich bei stories! vorrätig. Die deutsche Ausgabe erscheint – wie gesagt – am 13. Juli. Weitere Infos und eine Leseprobe zum Buch findet ihr hier. Schaut sie euch bitte unbedingt mal an.

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