Jenseits von Gut und Böse.

Manchmal ist er stark, ein anderes Mal ist er so leicht, dass man ihn fast nicht spürt. Ich spreche vom Schmerz, der das Buch durchzieht. Wie ein schüchterner Schatten sitzt er beim Leser auf der Schulter. Immer dann, wenn man ihn vergisst, sticht er erneut zu. Es zwickt im Auge und im Kopf sowieso, weil das, was dort hockt, weh tut. Einerseits. Andererseits ist es gut, dass es dort verweilt, denn es öffnet sich die Tür in eine Welt, die man so niemals freiwillig betreten hätte.

Das ist mir bei „Sibirische Erziehung“ passiert. Ein Absurdistan breitet sich immer noch vor mir aus, wenn ich an die Geschichte zurückdenke, die uns Nicolai Lilin aufgeschrieben hat. Sein großer Fürsprecher – Roberto Saviano – hat darüber folgende Worte verloren: „Wer dieses Buch lesen will, muss die Kategorien von Gut und Böse, wie wir sie kennen, vergessen… Einfach nichts tun: nur lesen.“ Ich habe erst nicht begriffen, was er damit meint. Nun weiß ich es. Das, liebe Leser, müsst ihr spüren. Das kann man nicht besprechen, das erlebt man leibhaftig.

Nicolai Lilin wächst in einem mafiaähnlichen Kriminellenclan in Transnistrien auf. Er ist ein Schüler der sogenannten Urki-Erziehung. Hier gibt es kein geschriebenes Gesetz, sondern nur das pure Überleben. Die Kinder lernen von den Großvätern, wie man sich am besten wehrt. Wobei Großväter nicht immer die Väter der eigenen Väter sein müssen. Oft sind es ältere Kriminelle, die ihr Wissen weitergeben. Nicolai ist vor allem von seinem Großvater Kusja angetan. Bei ihm sucht er oft Zuflucht. Hier bekommt er spannende Gangstergeschichten erzählt und auch weise Erkenntnisse in die Ohren geträufelt. Auf seine Frage beispielweise, warum Gott dem Menschen ein längeres Leben als den Tieren schenkt, entgegnet Kusja:

„Der Mensch lebt nach seinem Verstand, deshalb braucht er einen Teil seines Lebens, um Fehler zu machen, einen weiteren , um sie einzusehen, und einen dritten, um zu versuchen, keine Fehler mehr zu machen.“

Während ich die Antwort noch einmal lese, taucht dieses leichte Augenzwinkern auf, das einem als Leser sehr oft in dem Buch begegnet. Nicolai Lilin erzählt, wie ihm der Schnabel gewachsen ist. Ich hatte die ganze Zeit das Gefühl, als würden wir zusammen in einem Café sitzen, der Tee dampft und die Welt um einen herum verschwindet in der kleinen Dunstwolke. Es existiert keine Grenze zwischen dem Hier und dem Dort. Nicolai Lilin berichtet über Grausames und zuckt nicht zurück, weil er damit groß geworden ist. Für ihn ist es irgendwie normal, für uns hingegen fremd und auf eine bestimmte Art faszinierend. Ich wollte mich nicht lösen von seinen Geschichten über die verschiedenen Waffenarten und deren Namen. Oder der Bericht über die Tätowierer. Den Respekt untereinander und wie man sich gegenseitig hilft. Der Strudel hatte mich – wie sehr es auch schmerzte – gepackt und bis zum Schluss nicht mehr losgelassen. Die Augen zuckten so komisch und der Kopf hing leicht schräg – dennoch will ich keine Sekunde missen.

Zurück bleibt ein Muskelkater, der mich noch eine ganze Zeit daran erinnern wird. Und er macht mir deutlich, wie gut es mir geht. Auch das ist der Sinn, den solche klaren, aufrüttelnden Bücher nach sich ziehen. Sie klopfen bei dir an und sagen leise: Sei froh, was du hast und wo du bist.

Sibirische Erziehung.
Nicolai Lilin.
April 2010, 453 Seiten, 14,90 €.
Suhrkamp.

5 Gedanken zu „Jenseits von Gut und Böse.

  1. Petra

    Nach dieser Rezension kann ich es kaum abwarten, den nächsten Buchladen zu betreten! Bücher, die einem nachhaltig ans Gebein gehen und damit die Sicht weiten, einen vielleicht ein wenig verändern, sind so rar…

    Von der Konstellation her erinnert es mich an Eduard Kotschergins „Die Engelspuppe“ (Persona Verlag, Mannheim). Kotschergin, ein bekannter Theaterdirektor aus Petersburg, hat nach seinem Ausbruch aus einem stalinistischen Waisenhaus als Kind ebenfalls in der „Gesellschaft der Diebe“ überlebt.

    Es scheint mir, als sei beiden Büchern gemeinsam, dass jeder auf seine Weise in den unmenschlichsten Abgründen noch tiefe Menschlichkeit oder wenigstens die Sehnsucht danach entdeckt?
    (Rezension zu Kotschergin http://cronenburg.blogspot.com/2010/01/menschen-die-von-innen-leuchten.html )

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  2. klappentexterin Autor

    Liebe Ada,
    die erdrückende Stimmung wird vor allen durch Lilins Selbstironie abgefedert. Das macht es u.a. so bemerkenswert.

    Es ist ein Leseerlebnis der besonderen Art, das mich ein bisschen an Nieselregen erinnert. Der Regen durchweicht dich nicht sofort, doch er ist da und die Sonne ganz weit weg. So ungefähr.

    Liebe Grüße
    Klappentexterin

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  3. klappentexterin Autor

    Liebe Petra,

    ich danke für deinen ausführlichen Kommentar und habe deine Rezension – eine sehr schöne und vor allem ergreifende – zum besagten Buch bereits gelesen. Nun kann ich sagen: Ja, es stimmt. Die beiden sind sich ähnlich in dem Punkt, dass sie in unmenschlichen Abgründen ihre Menschlichkeit bewahrt haben. Der Leser bleibt vom ersteren allerdings nicht verschont, wird aber in der Menschlichkeit der anderen wieder aufgefangen. Bei Nicolai Lilin kommt – wie oben bereits erwähnt – die besondere Selbstironie immer zum richtigen Zeitpunkt.

    Dein Buch werde ich mir jedenfalls notieren, da ich mich für solche Bücher interessiere.

    Liebe Grüße
    Klappentexterin

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  4. Mondenkind

    Ich habe ein Faible für düstere Bücher.
    Durch sie lernt man, das Leben zu lieben.
    Dieses hier könnte also durchaus in meinem Regal einziehen.
    Liebe Grüße

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