Ein geheimnisvoller Garten.

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„Was das Leben lebenswert macht, ist doch gerade die Tatsache, dass wir alle vollkommen verschieden sind und dann – und es ist so wunderbar, wenn das geschieht – plötzlich kleine Ähnlichkeiten entdecken; eine Reaktion spüren, ein Echo, eine Übereinstimmung.“ Manchmal ist es ein Buch, das einem auf diese Weise ganz nahe kommt. Genauso ist es mir mit Versteckspiel von Elizabeth Taylor ergangen, aus dem dieses wunderschöne Zitat stammt.

Ich habe einen literarischen Juwel gefunden. Unter zahlreichen Neuerscheinungen in diesem Jahr sticht der Roman für mich glänzend hervor. Sowohl der liebevoll gestaltete Buchumschlag, als auch der Inhalt konnten mich in ihren Bann ziehen. Sie haben mich beide gleichsam verzaubert. Der Roman ist 1951 erschienen, der Dörlemann Verlag hat dieses Werk von Bettina Abarbanell übersetzen lassen und erstmals in deutscher Sprache herausgebracht.

Langsam öffnet sich der Roman, wie eine Blume, die am Morgen erwacht und mit jedem Sonnenstrahl ihre Blüten weiter ausstreckt. Harriet und Vesey spielen mit den beiden Geschwistern, Joseph und Deirdre, Verstecken. Vor allem der Heuboden, auf dem sich Harriet und Vesey vor den Kindern verstecken, zieht die beiden Großen magisch an. Hier ist es still, hier lauschen sie ihrem Atem und dem rasenden Herzschlag, hier entdecken sie die Liebe. Vesey ist der Neffe des Hausherrn, Harriet die Tochter von Lilian, der engsten Freundin seiner Frau Caroline. Der junge Mann verbringt seine Sommerferien auf dem Gut, während Harriet ihren Pflichten nachkommt, indem sie die Kinder unterrichtet und die Hausherrin bei der Ausschussarbeit unterstützt. Harriet ist eine kleine Träumerin, der es widerstrebt, Ärztin oder Rechtsanwältin zu werden. Durch ihre Tagträume vermasselt sie sämtliche Klausuren in der Schule. Caroline fühlt sich mit Lilian innig verbunden und unterstützt sie. Beide waren ein Teil der Frauenbewegung und wurden sogar verhaftet. Auch wenn sie nie mehr über dieses Erlebnis sprachen, hatten die beiden es nie vergessen „und waren sich deshalb stets näher, als sie es sonst gewesen wären.“ Die mittlerweile erwachsene Caroline nimmt sich jetzt der ziellosen Harriet an.

Ist es die lockere Lebensansicht Harriets und Veseys, die sie verbindet? Vesey ist alles andere als ehrgeizig. Zu Hause in London aalt er sich in Langeweile und Rastlosigkeit, bei seinem Onkel lümmelt er faul auf der Couch. Dieses Benehmen missbilligt sein Onkel Hugo Macmillian zutiefst, ist sein Neffe doch das totale Gegenteil von ihm. „Caroline, Lilian, Veseys Vater waren sich in der alle Missbilligung einig. Selbst Harriet, bemerkte Hugo, wandte den Kopf ab, wenn Vesey hereinkam, und tat so, als läse sie in ihrem Buch.“ Doch der letzte Teil des Satzes stimmt nicht ganz, denn Harriet versteckt sich hinter ihrer Verlegenheit, hat sie in diesem Sommer, als sie achtzehn ist, erstmals Gefühle für Vesey entwickelt. Auch Vesey selbst spürt, dass mit den beiden etwas passiert. Schon auf den ersten Seiten verrät die Autorin dieses bittersüße Liebesgeheimnis: „Beider Herz pochte, als schwinge ein Pendel in einem hohlen Kasten hin und her – sie waren sicher, der andere könne es hören. Was für sie der Himmel war, würde in ihrem späteren Leben wie die Hölle erscheinen.“

Es ist ein geheimnisvoller Garten, in den mich die Autorin mitnimmt. Die junge Liebe, zart wie ein kleines Pflänzchen, erzeugt ein leichtes Zittern im Herzen und atmet laut die Sehnsucht aus, wie wir sie alle kennen, als wir uns in jungen Jahren zum ersten Mal unsterblich verliebt haben. Dieses Gefühl weckt die Erinnerung und zündet mich wie eine Kerze an. Eine melancholische Stimmung schwebt sanft liebkosend durch die Seiten und verrät, dass die Liebe zwischen Harriet und Vesey ein schwieriges Unterfangen ist, denn sie wird von allen Seiten abgelehnt. Vesey wird frühzeitig vom Hof nach London zurückgeschickt, Harriet bleibt zurück, voller Trauer und Hoffnung, dass sich Vesey bei ihr meldet, aber er tut es nicht. Die Zeit läuft weiter, Harriet wird Verkäuferin, bis sie irgendwann den älteren Charles heiratet, sich in die Abhängigkeit des Ehemannes begibt, Hausfrau und Mutter wird. Vergessen konnte sie ihre Jugendliebe dennoch nie: „Es gab keine langen Sommer mehr. Der letzte war der gewesen, in dem sie mit Vesey und den Kindern Verstecken gespielt hatte. Seitdem waren die Jahre verflogen, eines kürzer als das vorangegangene. Es kam ihr nicht sehr lang vor, ihr Eheleben. Sommer und Winter waren ineinandergeflossen.“

Ein Strudel aus Gefühlen erfasst Harriet, als sie zwanzig Jahre später Vesey wiedertrifft und dem Zauber vergangener Jahre erliegt. Was soll sie tun? Ihre Ehe aufs Spiel setzen? Die zweite Chance nutzen? Und wer hat den versteckten Brief von Vesey geöffnet? Der eifersüchtige Ehemann? Nein, es war die Tochter. Das erfährt indes nur der Leser, der stets zum allwissenden Zuschauer dieses großartigen Schauspiels wird. Betsy ist eine weitere von Taylors Nebenfiguren, die ein vibrierendes Spannungsfeld erzeugen. Das Mädchen schwärmt für ihre Lehrerin und isoliert sich immer mehr von ihren Freundinnen. In ihrer Brust liegt eine Schwermut, der sie sich nicht entziehen kann: „Immer lebte sie in dem Gefühl, dem Untergang geweiht zu sein, konnte sich nicht erklären, wie sie ohne Katastrophen das Alter von fünfzehn erreicht hatte oder warum sie als Kleinkind nicht entführt worden war.“

Elizabeth Taylor durchleuchtet alle Figuren in ihrem Roman und verleiht dem Werk dadurch eine faszinierende Vielschichtigkeit. Jede Person bekommt ihren Platz, entfaltet sich mit ihren Gedanken und Gefühlen. Blickwinkel verschieben sich; als Leserin schaue ich in die Köpfe verschiedenster Personen, die sich um Harriet bewegen. Ein großes Universum blitzt auf, umgeben von vielen Planeten, auf denen Vulkane brodeln. Stimmen steigen nach draußen; nervöse, zynische, ängstliche, sehnsuchtsvolle. Das Feld ist riesig und die Geschichten zwischen den Menschen darin sind enorm spannungsgeladen. Erstaunlicherweise bleibt es ruhig, nicht zuletzt auch durch die stille, poetische Sprache, die unglaublich feine Bilder heraufbeschwört. Der Sommer in Harriets Jugend flirrt, summt wie eine Biene und macht übermütig. Der graue Winter, viele Jahre später, legt sich schwer aufs Gemüt – ein mitreißendes Wechselspiel der Perspektiven hält mich bis zum Schluss fest. Einerseits überzeugt der Roman durch bezaubernde Poesie, andererseits durch seine klare und moderne Sprache. Während einige Textpassagen sich fast nüchtern lesen, erfassen mich andere Stellen mit ihrer Weisheit. Sie hüllen mich in einen Mantel der Geborgenheit. Der Roman enthält zahlreiche Sätze, in denen die Erfahrungen des Lebens auf eindringliche Weise aufleuchten: „Wenn wir uns nicht mit den Zeiten ändern, dann ändern die Zeiten uns.“ “Ein neuer Tag ist eine neue Welt. Der Unterschied zwischen zwei Ländern ist nicht so groß wie der Unterschied zwischen Nacht und Tag.“

Genauso wie man die langen Sommernächte nicht gehen lassen möchte, genauso wollte ich mich von diesem wundervollen Roman nicht trennen. Bettina Abarbanell hat dieses Werk bravourös aus dem Englischen übersetzt. So schenkt uns der Dörlemann Verlag ein literarisches Juwel, das in die Zeit des vergangenen Jahrhunderts führt, sich trotzdem modern liest, ungemein berührt und das Lesen besonders lebenswert macht.

Elizabeth Taylor: Versteckspiel. Aus dem Englischen übersetzt von Bettina Abarbanell. Dörlemann Verlag, 2012, 384 Seiten, 23,90 €.

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8 Gedanken zu „Ein geheimnisvoller Garten.

  1. buechermaniac

    Um Romane von Elizabeth Taylor kreise ich schon längere Zeit. Ich muss wohl endlich etwas von ihr lesen.

    Vielen Dank für diese schöne Besprechung.

    LG buechermaniac

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    1. Klappentexterin

      Du wirst viel Freude mit dieser Autorin haben, liebe buechermaniac. Da ich dich schon einige Zeit kenne und mir dein Lesegeschmack vertraut ist, stelle ich einfach die These auf. Es freut mich sehr, dass dir meine Besprechung gefallen und dich angeschubst hat.

      Ganz liebe Grüße,
      Klappentexterin

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