Eine alte Lady, die noch brennt.

Diese alte Dame hat es wirklich in sich! Sie ist explosiv wie die Handgranate, die sie nach vielen Jahren noch immer bei sich hat und wie einen wertvollen Schatz hütet. Ihre Art ist eigenwillig und ich könnte mir gut vorstellen, dass nicht alle Leser diese Dame genauso ins Herz schließen werden wie ich, hat sie einen ganz eigenen Humor, der aus der Feder des isländischen Schriftstellers Hallgrímur Helgason entsprungen ist. „Eine Frau bei 1000°“ kann man in jeder Hinsicht als ungewöhnliches Buch bezeichnen, das mehr in sich verbirgt als man zunächst glaubt. Es schießt Schamesröte ins Gesicht, bewegt bis ins innerste Mark und zieht düstere Momente der Sprachlosigkeit nach sich.

Als ich am Anfang die Dame auf den ersten Seiten begegne, kriecht das Ungewöhnliche an mir hoch. Herbjörg María Björnsson berichtet, dass sie in einer Garage lebt und sich mit ihrer Situation bestmöglich eingerichtet hat:
„Ich habe sicherlich nur noch ein paar Wochen zu leben, zwei Stangen »Pall Mall«, einen Computer und eine Handgranate, und doch habe ich es nie besser gehabt im Leben.“ Nein, ich kann es nicht verleugnen, bei solchen Schilderungen schlottern mir ein bisschen die Knie. Was ist das für eine komische Zeitgenossin? So eine, bei der ich grinsen und neugierig weiterlesen muss. Schlückchenweise erzählt mir also die alte Dame aus ihrem Leben.

Wie der Name schon verrät, wurde die alte Dame in Island geboren, Herbjörg María Björnsson erblickte in einem Ísafjorder Blechschuppen im Herbst 1929 das Licht der Welt. Schon ihr Name zog innerhalb der Familie ersten Zwist nach sich. Die Mutter wollte ihr den Namen der Mutter Verbjörg geben, das wiederum missbilligte die Großmutter, so „war das Leben in den Verbúð genannten Fischerhütten ein elendes Hundeleben in Nässe und Kälte, und sie verwünschte ihre eigene Mutter dafür, sie nach einer solchen Schande benannt zu haben.“ Die Rettung folgte dann von Herbjörgs Vater, der vorschlug „aus Verbjörg Herbjörg zu machen“. Als eines Tages das Hausmädchen bei den Großeltern in Kopenhagen Schwierigkeiten hatte, den Spitznamen »Hera« auszusprechen, wurde aus einem Mädchen ein Junge, das fortan »Herre« oder »der kleine Herr« genannt wurde.

Herbjörg liegt jetzt, viele Jahre später, mutterseelenallein in der Garage, hat bei Facebook gleich mehrere Profile, betreibt mit großem Eifer Computerkriminalität und übt Rache an ihren Söhnen, die haben ihr gesamtes Vermögen an sich gerissen. So hackt sich Herbjörg bei ihrer Schwiegertochter ein und treibt böse Sachen. Ein Schmunzeln bleibt bei solchen Aktionen selbst bei mir als Leserin nicht aus. Ja, die durchtriebene Dame hat mich relativ schnell auf ihrer Seite. Sie verblüfft und schockiert mich an vielen Stellen wie bei der Passage, als sie im Krematorium anruft, ihren Brennofen schon mal vorab reserviert und sich absichert, dass er ordentlich fackelt. Das Mädchen an der anderen Leitung versichert ihr, dass die Temperatur bei 1000° liege. Selbstverständlich könnten sie auch gut vorglühen, denn Herbjörg betont: „Aber ich möchte, dass der Ofen auch wirklich gut vorgeheizt ist, ich habe nämlich keine Lust, auf kleiner Flamme vor mich hin zu köcheln.“

Einzig der Pflegedienst kümmert sich um die alte kranke 80-Jährige, die schon seit 18 Jahren mit „Krebsi Björnsson“ zusammen ist. Damals eröffneten ihr die Ärzte, dass sie mit dem Krebs nur noch wenige Monate zu leben hat. Herbjörg ist ein zähes Gemüt und ganz will sich der Körper noch nicht geschlagen geben, vielleicht auch deshalb, weil sie ihr Leben noch einmal Revue passieren lassen möchte. Das macht sie und plaudert ausführlich aus dem Nähkästchen, wechselt zwischen der Gegenwart, dem Jahr 2009 und der eigenen Vergangenheit.

Relativ schnell stoße ich durch den harten Kern der eisernen Lady und erlebe Grausames, das mich überrennt. Sie nimmt mich mit auf eine Odyssee durch ein ganzes Jahrhundert, das vor allem geprägt ist durch die schreckliche Fratze des Krieges. Wie eine scharfe Säge zerteilt der Krieg schmerzvoll Herbjörgs Leben und reißt die Familie auseinander. Der Vater fühlt arisches Blut in sich fließen, zieht für Hitler in den Krieg. Herbjörg verlässt Island, erlebt mit der Mutter bei den Großeltern ungemütliche Monate in den von Deutschen besetzten Kopenhagen. Dort fühlt sie sich immer fremd, nie ganz zugehörig wird sie von anderen Kindern gehänselt. Sie ist nichts Halbes und nichts Ganzes, den einen zu deutsch, den anderen dänisch. „Ich passte nirgends hin und eckte überall an.“ Weil die Mutter keinen Job findet, eilt der Vater zur Hilfe und vermittelt seiner Frau eine Anstellung als Haushälterin bei einem Ärzteehepaar in Lübeck. Damit endet das dänische Lebenskapitel, das deutsche beginnt und Herbjörg ahnt noch nicht, was alles auf sie zu kommen wird.

Das Blatt wendet sich im Buch eher als ich dachte. War es in erster Linie die außergewöhnliche Dame, die sich selbst als „sabbernde Hexe“ bezeichnet und mich brennend interessierte. Schließlich treffe ich nicht alle Tage auf eine Frau mit einer Handgranate in der Hand. Hallgrímur Helgason ist mit seinem Roman eine eindrucksvolle Lebensgeschichte gelungen. Es sind feuerspuckende Memoiren, bei denen jede Feuerwehr zu spät kommt. Vor allem die Kriegspassagen sind ein düsteres Unterfangen, dort holt der Autor die Brutalität direkt aufs Papier und verwischt alle Grenzen. Plötzlich stehe ich als Leserin da, fröstele vor Verzweiflung, weiß weder ein, noch aus und verliere den Mut, sinke wie eine vertrocknete Blume in mir zusammen. An anderen Stellen wiederum kriecht ein Glucksen aus meiner Kehle nach oben, dem selbst ironischen Blick Herbjörgs sei dank. Und dann tauchen weise Sätze auf, an denen ich mich festkrallen möchte. Zahlreiche imposante Metaphern runden die Sprachgewalt des Isländers ab.

Auch wenn die unregelmäßigen Zeitsprünge einem wilden Intermezzo ähneln, bleibt eine gerade Linie erhalten, die mich nicht aus der Bahn geworfen hat. Manchmal waren mir die Sprünge zu schnell, wie Hagelkörner, die unerwartet im Sommer vom Himmel fallen. Fragezeichen tauchten aus dem Nichts auf, doch die wurden relativ zügig beseitigt. Dieses Buch ist ein Mix aus Witz, Melancholie, Hoffnungslosigkeit, das viele kleine Explosionen parat hat, die erschüttern und dem Atem die Luft abschnüren. Furchtbar lebendig habe ich mich trotz allem gefühlt, und war am Ende selbst explosiv wie eine Handgranate.

Hallgrímur Helgason.
Eine Frau bei 1000°.
September 2011, 400 Seiten, 19,95 €.
Tropen bei Klett-Cotta.

5 Gedanken zu „Eine alte Lady, die noch brennt.

  1. Mariki

    Das klingt gut! Zumindest originell. Und zwecks Übersättigungsbekämpfung ist originell mit gut gleichzusetzen 😉 Danke für die super Rezension!

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