Schlagwort-Archive: Philosophie

Die Welt in die Luft jagen.

Was kann Literatur? Was darf Literatur? Zwei Fragen, die nach der Lektüre der beiden aktuellen Romane von Cormac McCarthy unmittelbar auftauchen. Denn Der Passagier und Stella Maris sprengen den üblichen Rahmen zeitgenössischer Literatur, wie wir sie aus den heutigen Feuilletons und Bestsellerlisten kennen.

Ein Protagonist, dessen Schicksal es zu sein scheint, Flugzeugwracks zu entdecken, in denen sich noch die Leichen der Passagiere befinden. Eine junge, hochbegabte Frau, die seit Kindheitstagen weiß, dass sie anders ist als alle anderen. Sehr anders.

Nicht zu vergessen: Es sind Geschwister, die sich – im wahrsten Sinne des Wortes – unsterblich ineinander verliebt haben.

Und dann wäre da noch dieser Zwerg, der eine nicht unwichtige Rolle spielt. Meistens taucht er zusammen mit einer Showtruppe auf, die unter anderem Minstrel Shows aufführen. Ja, da sind die mit dem Black Facing.

Sagen wir´s so: Sowas würde heutzutage jeder Agent, jeder Lektor und jeder Verlag empört ablehnen. Außer, du bist Cormac McCarthy, der diesen Wahnsinn mit fast neunzig Jahren geschrieben hat. Wofür wir ihm nicht dankbar genug sein können.

Weiterlesen

Ethik und Poesie. Zur Zukunft unseres Blogs.

Bild von ELLE RITTER auf Pixabay

Die Zeiten, sie werden härter, unübersichtiger und instabiler. Wo wir gerade in die 20er des nicht mehr ganz so neuen Jahrhunderts gestartet sind, werden allerorten Parallelen zu den sogenannten wilden 20ern des letzten Jahrhunderts gezogen, ebenso zur Weimarer Republik. Und wohin das alles geführt hat, wissen wir nur zu gut.

Was also tun? Alles sehen und Gefahren frühzeitig erkennen lautet eine alte Indianerweisheit. Alles zu sehen erfordert Aufmerksamkeit, einen wachen Geist, gern auch Achtsamkeit genannt. Großes, ganz großes Thema. Gut so. Sollte aber auch mit Leben gefüllt werden, weil den hehren Vorsätzen ansonsten schnell die Puste zwischen tollem Gedanken und gedankenloser Ausführung ausgeht.

Ein Phänomen, das wir an uns selbst beobachten konnten, seitdem wir uns intensiver mit Ethik, Philosophie, Buddhismus und Yoga beschäftigen. Immer noch haben wir zu oft bewertet, zu ichzentriert gehandelt und auf den öffentlichen Netzwerken nach möglichst viel Applaus gegiert. Schluss damit! Weiterlesen

Denken, denken, denken.

Wenn Literatur und Wissenschaft zusammentreffen, passiert etwas Gewaltiges. Es knallt, es knackt und kommt einem Hexenkessel gleich. An Ruhe und Ankommen ist gar nicht erst zu denken. Ans Denken schon eher.

Der Kopf schaltet in 36 Argumente für die Existenz Gottes keine Sekunde ab. In den 560 Seiten starken Werk fordert die Autorin, Rebecca Goldstein, ihre Leser die ganze Zeit. Wehe dem, der einmal nicht aufmerksam ist. Der bekommt was auf den Kopf und darf zur Strafe die Seite nochmals lesen, muss er auch, um nicht den Faden zu verlieren. Häufig findet man sich in einer Vorlesung wieder – so scheint es, weil es teilweise nur von Fremdwörter hagelt, die sich später zwar aufklären, vorher aber Unruhe in den Lesefluss bringen.

Rebecca Goldstein erzählt die Geschichte vom Religionspsychologen Cass Seltzer, der es mit seinem Buch Die Vielfalt religiöser Illussion in die amerikanische Bestsellerliste geschafft hat. Vor allem wegen des Anhanges, in dem er Argumente für die Existenz Gottes auseinandernimmt, gerät er in den Mittelpunkt. Plötzlich passieren auch Dinge mit ihm, die er sich nicht erklären kann, warum sich beispielsweise die schöne Lucinda Mandelbaum ihm zuwendet oder weshalb jetzt seine interessante Ex-Freundin Roz auftaucht.

Das Buch teilt sich in mehrere Handlungsstränge auf, eine Rückblende und das Jetzt. Dies ist eine sehr geschickte Erzählweise, da man als Leser erfährt, wie Cass Seltzer zu dem geworden ist, wer er heute ist. Doch die Handlungsstränge unterscheiden sich erheblich. Während die Gegenwart mehr einer Beschreibung ähnelt, kommt es in der Vergangenheit zu wissenschaftlichen Abhandlungen höchsten Grades. Hier geht es um Religion, Literatur und Psychologie. Am Ende des Buch erwartet den Leser die 36 Argumente, die die Existenz Gottes klug und raffiniert diskutieren.

Die Sprache ist sehr kühl, fast nüchtern, hat jedoch hier und da kleine Kurven mit denen man nicht rechnet und über die man schmunzelt. Mir persönlich fehlte einfach die Wärme zwischen den Buchstaben, um mich zu berühren. Wahrscheinlich funktioniert das einfach nicht, wenn sich die Literatur mit der Wissenschaft so nah ist wie hier. Der Roman ist qualitativ hochwertig, eine Wohltat für alle hungrigen Köpfe, die sich mit den Themen Philosophie, Psychologie und Religion intensiv wissenschaftlich auseinandersetzen und nebenbei literarisch unterhalten werden wollen.

36 Argumente für die Existenz Gottes.
Rebecca Goldstein.
März 2010, 560 Seiten, 21,95 €.
Karl Blessing.

Übermut tut manchmal richtig gut.

Mathilda möchte man adoptieren. Sofort! Auf der Stelle! Obwohl sie als Kind nicht einfach ist. Jemand, der sich vornimmt, gemein zu sein und sich auch so nennt, kann nicht pflegeleicht sein. Neimeg. Diesen Namen gibt sie sich eines Tages in Anwesenheit ihrer schönen Freundin, die natürlich nicht merkt, was das Wort bedeutet. Das ist Mathilda, ein Mädchen, das andere gern austrickst. Sie fordert ihre Mitmenschen auf eine geschickte Art, dass man froh ist, nicht selbst einer von ihnen zu sein. Und doch geht davon eine Faszination aus, von der man sich nicht losreißen möchte.

Victor Ladato lässt in seinem Roman Mathilda Savitch die 13-Jährige Mathilda zu Wort gekommen. Das ist eine gute Idee gewesen, eine sehr gute sogar. Mathilda hat ihre Schwester Helena verloren. Irgendjemand hat sie vom Gleis geschubst, als der Zug einfuhr. Den Täter hat man bis heute nicht gefunden. Und so versucht Mathilda, ein Jahr danach, den Tod aufzuklären. Sie taucht ein in Helenas Leben, schreibt über deren Email-Account die Jungs an, mit denen Helena Kontakt hatte. Ehe sie sich versieht, steckt Mathilda mittendrin im geheimnisvollen Leben ihrer verstorbenen Schwester. Man ahnt schon, dass diese Aktion und auch ihre Gemeinheiten einen Sinn haben: Von sich abzulenken. Mathilda hat zu kämpfen mit sich und dem Verlust ihrer Schwester. In stillen Momenten kommt sie aus ihrer stolzen Fassade herausgekrochen und bewegt den Leser um so mehr. Sie ist ganz allein mit ihrem Schmerz. Eltern hat sie keine mehr, denn die hüllen sich seit dem Tod ihrer älteren Tochter in einen Mantel der Sprachlosigkeit.

Der Roman lebt vor allem durch die Gedanken. Man möchte gar nicht aufhören, Mathilda zuzuhören. So herrlich erfrischend ist ihr Wesen. Sie ist jemand, den man sich in eine Vitrine stellen will, weil sie einem trotz der schrecklichen Geschichte, die sie da erzählt, glücklich macht. Dieses Überhebliche, dieses Neumalkluge, dieses Philosophische – all das schwingt in fast jedem Satz mit und macht süchtig.

Victor Ladato hat Mathilda ihre eigene Stimme gegeben, ist dabei sehr authentisch vorgegangen, dass man als Leser denkt, Mathilda selbst hätte das Buch geschrieben, dieses Mädchen, das mit der Geburt die Weisheit mit den Löffeln gegessen haben muss.
Diese Lektüre ist so vieles: Erschütternd, traurig, unterhaltsam, mutig, frech, philosophisch. In all der Frische wird man leicht übermütig und vergisst jegliche Regeln, die einen die eigenen Eltern damals beigebracht haben. Bevor man sich versieht, sitzt man neben Mathilda und schmiedet zusammen mit ihr Pläne.

Mathilda Savitch.
Victor Ladato.
Juli 2009, 299 Seiten, 17,90 €.
C.H. Beck.