Es geschah vollkommen unerwartet – wie eine Windböe, die hinter der Hausecke lauert. Ich öffnete „Sydney Bridge Upside Down“ von David Ballantyne und freute mich auf eine gute Lektüre. Doch der Roman war nicht nur gut, ich habe mich plötzlich wie eine Goldgräberin gefühlt, die ein Goldnugget in den Händen hielt. Dieses Buch wird nicht umsonst als neuseeländischer Klassiker bezeichnet. Ein Werk, das alles hat, um dieser Bezeichnung gerecht zu werden. 1968 ist es erschienen und jetzt liegt es erstmalig auf Deutsch vor. Der Hoffmann und Campe Verlag hat dem Autor damit ein würdiges Denkmal verliehen.
Es beginnt wie eine harmlose Jungsgeschichte, die in den sechziger Jahren an der neuseeländischen Küste spielt. Der Ich-Erzähler rauft sich mit dem jüngeren Bruder und macht mit seinem Freund Cal Schabernack. In ihrer Höhle rauchen sie heimlich Zigaretten, bis ihnen schwindelig wird. Von dort haben sie einen guten Ausblick auf den Hafen, um Leute beobachten zu können. Die neugierigen Jungs treiben sich genauso gern in einer stillgelegten Fleischfabrik herum.
Von Beginn an umgibt dieses Buch eine unheimliche, düstere Stimmung, eine dunkle Gewitterwolke, die über der Geschichte schwebt. Man erahnt es schon nach Sätzen wie diesen: „Es gibt im ganzen Land, auf der ganzen Welt, keinen abgeschiedeneren Ort. Und wenn die Menschen weit weg sind, wenn sie einsam sind, fangen sie oft an, sich merkwürdig zu verhalten, das ist bekannt.“ Nein, dies ist hier nicht nur eine Lausbubengeschichte, das ist viel mehr.
Um die Jungs herum scharren sich recht merkwürdige Gestalten wie der schweigsame Sam Phelps mit seinem alten Pferd, das den Namen Sydney Bridge Upside Down trägt. Statt sich ein jüngeres Pferd anzuschaffen, hält der Mann an dem alten Gaul fest und lässt seine Lore vom Fluss bis zum Hafen ziehen. Früher wohnte er „in einem ordentlichen Haus“ und hatte eine schöne Tochter, doch seit ihrem Verschwinden strahlt Sam Phelps etwas Geheimnisvolles aus. Genauso komisch scheint der Fleischer Mr Wiggins, der sich für junge Damen interessiert wie Caroline, Harrys Cousine, die seine Familie besucht. Sie wirbelt das Leben des Ich-Erzählers mächtig auf, nicht nur ihn, die Geschichte beginnt mit ihrem Eintreffen zu flirren. Es knistert, die Spannung steigt mit jeder Seite und bald merke ich: Hier ist keiner so lieb wie er auf den ersten Blick scheint. Harry und Caroline haben es faustdick hinter den Ohren. So überrascht mich das erste Unglück nur halb, wenngleich ich fassungslos auf das Geschriebene blicke, vor allem deshalb, wie es von Harry erzählt wird.
Permanent bin ich gebannt, habe ein klopfendes Herz und einen schnellen Atem. Ich bin wie ein geladenes Teilchen, das ständig vibriert, weil sich in dem ruhigen Erzählfluss bösartige Wellen mischen. David Ballantyne hat eine düstere Geschichte geschrieben, die zunehmend die verwinkelte Innenwelt von Harry an die Öffentlichkeit trägt, dass es mich gruselt, die Angst in mir nach oben krabbelt und ich mich vor diesem scheinbar netten Jungen verstecken möchte. Einerseits bin ich im Laufe der Geschichte eine gute Freundin geworden, der er seine Gedanken und Gefühle anvertraut. So verliebt sich Harry zum ersten Mal, muss aber gleichzeitig ein großes Stück Verantwortung für seinen Bruder übernehmen und den Großteil der Hausarbeit schmeißen, weil die Mutter auf unbestimmte Zeit in die Stadt gezogen ist und seine Cousine wie eine Drohne im Feriendomizil thront. Andererseits werde ich Zeugin seiner Taten, die eher verschwommen durchsickern, seine List, die mich an einen Fuchs denken lassen. Ich bewege mich auch aus Harrys Universum hinaus und stoße auf die seltsamen Eigenheiten des Dorfes, in dem nicht alles so friedlich ist wie zunächst angenommen. Die Menschen und das, was um sie herum passiert, sind äußerst merkwürdig. Schiefe Fensterläden, die sich nicht richtig schließen lassen. Stimmt das Erzählte oder hat sich Harry das alles nur ausgedacht? Eine Frage, die sich mit einem Fingerzeig dazwischen schiebt. Berechtigt, sehr berechtigt.
Hier haben wir es wirklich mit einem eindrucksvollen Klassiker zu tun. Er ist von vorn bis hinten stimmig: klug durchdacht, sehr raffiniert und gut geschrieben, dicht, spannend und äußerst packend. Besonders großartig empfand ich die faszinierende Sogwirkung, die von ihm ausgeht, bei der man alles liegen lässt und nur eins macht: lesen. Ich tauchte komplett ab, befand mich in einer anderen düsteren Welt und wurde Teil eines bösartigen Schauspiels, das sich vor meinen lesenden Augen offenbarte. Dämonisch und erschreckend zugleich. Selten habe ich ein Buch so schnell verschlungen und es am Ende atemlos zugeschlagen wie dieses. Unerwartet. Mehr als gut und wertvoll, wie ein richtiger Goldnugget.
David Ballantyne.
Sydney Bridge Upside Down.
Aus dem neuseeländischen Englisch übersetzt von Gregor Hens.
August 2012, 333 Seiten, 19,99 €.
Hoffmann und Campe.