Stellt euch vor, ihr wacht eines Tages auf und erkennt die linke Seite nicht mehr, ohne dass euch das bewusst ist. Es braucht nur jemand links von euch zu stehen, der redet und ihr seht ihn einfach nicht. Oder ihr wollt euch schminken und lasst das linke Auge aus, weil es euch nicht mehr bewusst ist. Dieser Defekt hat einen Namen: Linksseitiger Neglect. Lisa Genova hat mir das Krankheitsbild in ihrem Roman „Mehr als nur ein halbes Leben“ näher gebracht.
Sarah passiert genau das, als sie eines Tages aus dem Koma erwacht. Nach einem Verkehrsunfall dreht sich ihr Leben um 180 Grad, aus einer erfolgreichen Businessfrau und liebevollen Mutter wird ein Mensch, der von vorn beginnen und sich dem linksseitigen Neglect stellen muss. Sarahs Welt spielt sich von nun an rechtsseitig ab, folglich sieht und spürt sie nur Dinge, die sich rechts befinden. Dabei hat sie etwas von einem zweigeteilten Menschen, den man durchgeschnitten hat, bis auf den Kopf, der denkt und fühlt wie vor dem Unfall. Und das macht Sarah ihr Leben schwer. Sie möchte sich wie früher bewegen, kann aber nicht und gerät so an Grenzen, die ihr der Körper auferlegt.
Lisa Genova erzählt ein bewegendes Schicksal, das sich zunächst sehr schmerzvoll anhört, was es aber nicht immer ist. Die Geschichte hat einen lockeren Stil und enthält Passagen, in denen mir ein Lächeln entschlüpft. Sie erinnern mich an kurze Sonnenstrahlen, die durch graue Wolken schlüpfen. Es sind Sarahs eigenwillige Gedanken, die oft etwas Kraftvolles haben, so als würde ich in einen Granny Smith beißen: „Denn auch wenn ich noch immer auf eine vollständige Genesung hoffe, so habe ich doch gelernt, dass ich mein Leben trotz aller Einschränkungen in vollen Zügen genießen kann.“ So öffnet sich der anfangs versperrte Weg für Hoffnung und Zuversicht.
Lisa Genova.
Mehr als nur ein halbes Leben.
2011, 384 Seiten, 16,99 €.
Bastei Lübbe.