Schlagwort-Archive: Leben

Fiebertraum im Fahrstuhl.

Today open: Club der toten Dichter. Und wir begrüßen nur einen Gast: John Dos Passos. Mit Manhattan Transfer hat der amerikanische Autor 1925 ein Jahrhundertwerk vorgelegt, Die Geburtsstunde des Großstadtromans. Erneuter Siegeszug des Bewusstseinsstroms, bereits drei Jahre zuvor im Ulysses erprobt. Nochmal vier Jahre später Döblin mit Berlin, Alexanderplatz. Kanon der literarischen Kolosse.

Punch! Manhattan Transfer hat eine Wucht, eine Kraft, die dich als Leser bereits mit den ersten Sätzen packt und über fünfhundert Seiten lang nicht loslässt.

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Eine Weile still sein.

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Der Toten zu gedenken, heißt auch stets, sich der eigenen Vergänglichkeit bewusst zu werden. Es ist bekannt, dass morgen alles vorbei sein kann. Eine Unachtsamkeit, eine üble Laune des Schicksals, schon haben wir die Grenze von einem Reich zum anderen überschritten.
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Becks zweiter Sommer.

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Eigentlich wollte ich ins Kino gehen und mir die Verfilmung von Benedict Wells Debüt »Becks letzter Sommer« anschauen. Aber wie das so ist im Sommer – oft hat man einfach was Anderes vor. Allerdings hab ich die Verfilmung zum Anlass genommen, das Buch noch einmal zu lesen. Und sofort war es wieder um mich geschehen. Ein Glanz legte sich auf meine Augen und ich genoss die Freude des erneuten Lesens. Becks zweiter Sommer sozusagen.

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Vom Echo der Erinnerungen.

Dieses Hörbuch ist wie ein langer Seufzer, der die Kraft einer Sturmböe hat. Melancholische und nachdenkliche Gedanken fallen aus dem iPod. Anfangs rieseln sie ruhig nieder wie kleine Schneeflocken, die in den Wimpern hängenbleiben, sich ausruhen und das schnelle Echo der Zeit auffangen wollen. Später schreitet eine Unruhe in den Schauplatz und pustet das Langsame aus dem Kopf. Manfred Zapatka ist der derjenige, der dies auf sehr einnehmende Weise macht, indem er mir Julian Barnes‘ aktuellen Roman „Vom Ende einer Geschichte“ vorliest.

Die Geschichte schwebt zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart wie reife Äpfel, die uns anlachen und sich doch nicht greifen lassen. Ebenen verschieben sich in dem Roman, verlieren an Gleichgewicht und setzen ein großes Entsetzen in Bewegung. So geht es Tony Webster, dem Ich-Erzähler. Er hat sich in seinem Ruhestand eingerichtet und ist ein gewöhnlicher älterer Mann, der sich selbst als Mittelmaß bezeichnet, von der Schulzeit bis heute. Als ihn ein Brief erreicht, gerät er ins Wanken, die Vergangenheit ereilt ihn, eine schmerzhafte Ohrfeige, dessen Abdruck er noch spürt. Sie rührt die Erinnerungen in einem Topf durcheinander und erstickt das ruhige Leben. In dem Brief findet Tony eine Erbschaft, mit der er so nicht gerechnet hat und die still gelegten Ecken in seinem Kopf wieder aufweckt.

Julian Barnes erhielt für diesen Roman den Booker Prize und darf sich zu Recht mit dieser Auszeichnung schmücken. „Vom Ende einer Geschichte“ ist ein Roman, der auf engem Raum viel erzählt und beeindruckend im Gedächtnis zurückbleibt. Ein großer, dichter Wald, in dem hinter jedem Baum eine Überraschung wartet. Barnes erzählt von Freundschaft, Liebe, Erinnerungen, Eifersucht, dem Erwachsenwerden und der Reue, vom verletzten Stolz und dem Selbsthass. Im Mittelpunkt setzt er eine Freundschaft zwischen drei Jungen, die sich für etwas Besonderes halten. In jungen Jahren lesen sie viel, tragen ihre Armbanduhren mit dem Ziffernblatt zur Innenseite des Arms. „Natürlich war das eine affektierte Marotte, aber vielleicht auch mehr. Sie ließ die Zeit wie etwas Persönliches, ja Geheimes erscheinen.“ Irgendwann stößt Adrian zum Dreiergespann dazu. Er ist anders, eine Gerade, die das Viereck nicht ganz schließen kann und doch gehört er bald zum Kern dazu. Erst beim Fortschreiten der Geschichte zeigt sich die tragische Rolle, die der Autor dieser Figur zuschreibt.

Julian Barnes schickt seine Leser auf eine philosophische Reise. Er öffnet Türen und zieht uns auf Stühle, die mit Fragezeichen belegt sind. Wie sehr dürfen wir unseren eigenen Erinnerungen vertrauen? Verdecken wir das Unschöne mit schönen Dingen? Müssen wir uns für vergangene Taten schämen oder sind sie nur Ausdruck eines Gefühls, das hinauswollte? Er präsentiert uns einen scheinbar zufriedenen Mann, der plötzlich von Reue eingeholt wird und sich für das schämt, was er einst getan hat.

Genauso beeindruckend ist die raffinierte Entwicklung der Geschichte, wie sie mit jedem Satz an gefühlter Geschwindigkeit zunimmt, obwohl sich an der Erzählweise nichts ändert. Viel mehr sind es die Ereignisse, die sich vor mir aufrollen und gerade zum Schluss ein erstauntes Raunen aus dem Hals zieht.

Manfred Zapatka fügt sich hervorragend in die Rolle des Ich-Erzählers. Ich denke dabei an ein gefülltes Weinglas. Julian Barnes‘ Roman ist ein schwerer Wein und Zapatka das Glas, der mir auf diese Weise das Getränk in den Gaumen fließen lässt. Sein dunkles Timbre spiegelt die nachdenkliche Stimmung wieder und trägt sie an die Oberfläche. Zapatka ist sich der Tiefe des Romans bewusst und liest die Sätze langsam vor. So fühle ich jede Regung, jeden Gemütszustand des Protagonisten wie den eigenen Herzschlag. Damit dürfte es nicht verwundern, dass selbst nach dem Ende dieses Hörbuchs Julian Barnes Sätze wie ein Echo in meinen Ohren hallt, wie die Erinnerungen selbst.

Julian Barnes.
Vom Ende einer Geschichte.
Vorgelesen von Manfred Zapatka.
06 Std. 04 Min. (ungekürzt), 15,95 €.
audible.de

So gar nicht mittelmäßig.

Ich bin verzaubert, ja, so richtig verzaubert! Nicht etwa vom großen Herrn Copperfield, sondern vom kleinen Alexander. Wie hat er das nur angestellt?

Alexander ist der Held aus dem Kinderbuch „Supermittelmäßig“, das Susie Morgenstern geschrieben hat und von Claude K. Dubois illustriert wurde. Der kleine Junge hat es nicht gerade leicht, denn er ist „weder groß noch klein. Er ist einfach nur mittelmäßig, supermittelmäßig“, das behauptet er von sich und kann sich damit nicht anfreunden. Alexanders Kopf ist stets woanders, nur nicht da wo er sein sollte. So schaut er viel lieber aus dem Fenster, als dem Unterricht zu folgen. Nie hat er eine Antwort parat, wenn ihn die Lehrerin fragt. Immer kriecht ein „Weiß ich nicht“ aus seinem Mund, weil er nicht aufpasst. Beim Sport geht es ihm nicht besser, ständig verwechselt Alexander den rechten mit dem linken Fuß. Eigentlich ist Alexander gar nicht schlecht beim Sport, aber ich habe eins vergessen, zu erwähnen: „Er ist einfach nur mittelmäßig, supermittelmäßig.“ Nein, nicht ich wiederhole mich, sondern Alexander. Er beharrt auf sein „supermittelmäßig“, trägt es wie ein Schild mit sich herum und gibt dieses Wort einfach nicht her. Trotzdem – oder gerade deshalb – hat Alexander nur einen großen Wunsch: „Wie gern wäre er ab und an ein bisschen besser als der Durchschnitt.“

Ihr ahnt es sicherlich, ja, mein Mitgefühl wächst mit jeder Seite: Ich möchte Alexander in die Arme nehmen und ihm dieses Wort entreißen. Doch das brauche ich gar nicht, weiß er es doch eines Tages selbst: „Er beschließt, sich mehr anzustrengen! Er will versuchen, die Grenze der Mittelmäßigkeit zu überschreiten – und sei es nur ein winziges bisschen.“ Ein Gedanke hat ihn dazu gebracht, nämlich der, dass er nur ein Leben hat. Ganz schön weise der Kleine. Wie er das anstellt, ist so hinreißend, dass ich mit jeder Seite diesen Jungen noch mehr in mein Herz schließe und am Ende verzaubert bin. Gut, man muss an dieser Stelle auch seinem Patenonkel danken, der ihm eines Tages etwas nach Hause liefert, was sein Leben verändert und zeigt, was für ein Wunderknabe in Alexander steckt. Und auch Alexanders Lehrerin leistet einen großen Beitrag, indem sie ihren Schülern interessante Aufsatzthemen aufgibt, die zum Nachdenken anregen.

Susie Morgenstern und Claude K. Dubois haben ein großartiges Kinderbuch kreiert, das den großen Tiger weckt, den Mut anschubst und einfach sehr glücklich macht. Die Sätze und Illustrationen gehen Hand in Hand und wickeln mich um den kleinen Finger. Die Zeichnungen sind zart und ein wenig verwaschen, sie haben etwas Verträumtes und zeigen mit so viel Charme unseren kleinen Helden in verschiedenen Situationen. Ich weiß nicht, wie oft ich gelächelt habe, aber es waren viele entzückende Momente. Alexander über die Schulter zu schauen, erinnerte mich an das Auspacken von Geschenken. Eine kleine Überraschung reiht sich an die nächste und in alldem steckt ein Topf mit Weisheit, aus dem ich geschöpft habe.

Susie Morgenstern schreibt, wie es Kindern gefällt, ein bisschen frech, gerade heraus und auf eine Weise liebenswert. Hier und da streut sie philosophische Gedanken ein, die zum Nachdenken anregen und einen gewissen Aha-Moment schenken. „Supermittelmäßig“ verscheucht Schlechtwettertage und zeigt, dass in jedem von uns etwas Großes steckt, wenn man nur… Nein, das werde ich natürlich nicht verraten, das ist deine Aufgabe, lieber Alexander!

Susie Morgenstern, Claude K. Dubois.
Supermittelmäßig.
Februar 2012, 64 Seiten, 10,- €.
Altersempfehlung: 8 bis 10 Jahre.
Boje Verlag.

Was bedeutet es? Das Leben zum Beispiel…


Was würdest du mir geben? Etwas, was dir total wichtig ist. Etwas, das für dich eine so große Bedeutung hat, das du dich davon eigentlich nicht trennen möchtest. Niemals! Viel lieber willst du es festhalten, in einen Tresor einschließen wie einen Schatz. Und was würde ich dir geben? Ich habe lange darüber nachgedacht. Irgendwie bin ich immer wieder bei meinen Büchern gelandet. Aber nein, die gebe ich nicht her. Jetzt erst recht nicht. Bedeutsame Dinge gibt man nicht weg. Die behält man und schenkt ihnen die Ehre, die sie verdient haben. Allein das zählt. Für mich. Du hast da vielleicht eine ganze andere Meinung. Über die Bedeutung und den Sinn, die das Leben füllen.

Während ich das hier schreibe, wandert mein Blick wieder zum Buch, aus dem ich die Frage herausgezogen habe. „Nichts. Was im Leben wichtig ist.“ Geschrieben hat es die dänische Autorin Janne Teller. Sie erzählt die Geschichte von Schülern einer siebten Klasse, die in einem kleinen Vorort leben. Eines Tages steht der Mitschüler Pierre Anthon auf und verlässt das Klassenzimmer, weil „nichts etwas bedeutete und es sich deshalb nicht lohnte, etwas zu tun.“ Seitdem hockt er auf dem Pflaumenbaum und macht sich über seine Mitschüler lustig. Also schmieden die Schüler einen Plan. Sie wollen Pierre Anthon beweisen, dass es Dinge gibt, für die es sich zu leben lohnt. In einem alten, stillgelegten Sägewerk entsteht bald der Berg der Bedeutung. Von nun an muss jeder etwas dazu beitragen. Doch nicht aus einer Selbstbestimmung heraus. Es geht der Reihe nach. Jeder, der was geopfert hat, darf den Nächsten bestimmen. Das Projekt beginnt zunächst relativ harmlos, steigert sich aber im Verlauf der Geschichte zu einem Gipfel des Wahnsinns aus dem man selbst als Leser nicht mehr herauskommt. Man ist gefangen im Berg der Bedeutung. Selbst, wenn das Buch geschlossen in der Tasche liegt, hängt man noch drin. Es ist als wäre da so ein Faden, der sich an den Kopf festgebunden hat. Es zieht den Leser hinein, penetrant, kleinen Fußtritten gleich.

Ich konnte nicht glauben, was ich da las. Noch jetzt bin ich irgendwie fassungslos, wozu Menschen fähig sein können. Sicherlich ist das nur eine Geschichte, aber abwegig ist sie keineswegs. Schnell denkt man an ähnliche aufrüttelnde Bücher wie „Die Welle.“ Das sind Geschichten, die erfunden sind, sich aber sehr echt anfühlen. Sie haben den Touch des Tatsächlichen.

Das Buch hat nur 139 Seiten und doch kam es mir viel gewaltiger vor. Das, was dort drin stand, hat mich teilweise sehr schockiert, so sehr, dass mein Kopf aussah wie ein Shaker, in dem die Gedanken hin- und hergeschüttelt werden. Neben den einzelnen Opfergaben der Schüler, waren es vor allen die Fragen, welche die Autorin aufwirft. Was ist der Sinn des Lebens? Das Festhalten an Dingen? Sollte man vielleicht doch öfter mal loslassen? Es ist eine Lektüre, die man nicht nur allein lesen sollte, weil man am Ende nur eins möchte: Reden, reden und reden. Die Fragen im Kopf ein wenig entwirren.

Die Geschichte passt perfekt in die heutige Gesellschaft. Eine Gesellschaft, die vom Konsum durchzogen wird. Eine Welt, in der schon Schulkinder Handys besitzen. Eine Welt, in der sie sich in ihren Markenklamotten frönen und durch materielle Dinge definieren. Besser, hübscher, schneller. Das sind alles Dinge, die jedoch vergehen wie der Tag und die Nacht. Was habe ich am Ende von einem tollen Handy? Was hinterlässt es bei mir? Nichts. Nichts. Was habe ich hingegen von einem Buch? Eine Geschichte, die mich berührt, dass ich Gänsehaut spüre, manchmal Tränen fließen lasse, ich fühle und das Leben auf den Augen leibhaftig einatme. Was hinterlässt das bei mir? Viel. Viel. Bedeutung. Und Bedeutung gebe ich nicht her. Für keinen Ruhm und kein Geld der Welt.

Janne Teller.
Nichts. Was im Leben wichtig ist.
Altersempfehlung: 14 – 15 Jahre.
Juli 2010, 139 Seiten, 12,90 €.
Hanser Verlag.