Schlagwort-Archive: Kunst

Weihnachtsspezial 2022 – Auf der Suche nach Glück.

Glück ist in diesen Tagen ein besonders wertvolles Gut, es kennt viele Gesichter und kann uns einige Geschichten erzählen. Zum Beispiel von einer wärmenden Hand, die sich auf dein klopfendes, unruhiges Herz legt und wie Balsam wirkt. So möchte ich das Glück zum Motto für mein Weihnachtsspezial wählen und folge Herrn Klappentexter als Glücksbotin.

Für mich war dieses Jahr in vielerlei Hinsicht aufwühlend, beunruhigend und gleichzeitig kreativ wie beglückend. Alte Pfade wurden durchleuchtet und hinterfragt, große Fragen gestellt und neue Weichen gestellt. Und jetzt? Ist noch einiges offen, aber ich habe einen treffenden Satz geschenkt bekommen: „Das Glück ist mit den Mutigen.“ Möge es uns 2023 begleiten!

Und noch etwas ist in diesem Jahr passiert: Ich habe erneut jenseits der Rezensionen angefangen zu schreiben. Bereits vor meiner Zeit als Klappentexterin hatte ich einen Blog mit Kurzgeschichten, Gedichten und Reflexionen gefüllt. Nun wieder Gedichte. Ich teile sie unter dem Hashtag #klappentexterinschreibtmalnichtüberbücher auf Instagram und bei Facebook. Welche Autorin mich inspiriert hat, lest ihr weiter unten.

Also, liebe Bücherfreunde, bleibt achtsam und offen, das Glück ist überall zu finden, selbst zwischen den kleinsten Ritzen lugt es hervor. Schaut ihm freundlich entgegen, dann schaut es zurück. Lasst uns trotz der schweren Zeiten zuversichtlich nach vorn blicken. Und wenn sich das Glück doch mal hartnäckig verweigert, greift zu einem guten Buch. Hier kommen ein paar Anregungen.

Weiterlesen

Bis an die Schmerzgrenze.

Rachel Cusk zählt zu den stärksten weiblichen Stimmen unserer Zeit. Und es lohnt sich wirklich, ihr Werk zu entdecken. Viele ihrer Bücher kreisen um das Thema Mutterschaft, aber man muss nicht unbedingt Mutter sein, um sich mit ihren Romanen anzufreunden. Auch politisch hat sie ihre eigene Meinung und lebt mittlerweile aus Protest gegen den Brexit nicht mehr in England.

Obendrein hat ihr ihre offene und bisweilen radikale Art, über das Muttersein zu schreiben, in ihrem Heimatland viel Kritik eingebracht. Mittlerweile lebt die Autorin in Paris, lernt die neue Sprache und schreibt nach wie vor Bücher mit ihrem ganz eigenen Sound.

Weiterlesen

Die Macht des Schicksals.

Foto: Eva Tind | © Les Kaner

»Wenn wir nur einen kleinen Teil des Lebens leben, was passiert dann mit dem Rest?« Gute Frage, und ganz ehrlich? Ich weiß es nicht. Was ich aber mit Sicherheit sagen kann ist, dass ich den kleinen Teil meiner Lebenszeit, die ich mit der Lektüre dieses Buches verbracht habe, durch und durch genossen hab. So empfinde ich »Ursprung« von Eva Tind als eine echte Bereicherung. Ist es doch eine der ungewöhnlichsten Familiengeschichten, die ich je gelesen habe. Und zugleich die Geschichte über drei Menschen, die ihren Platz in dieser Welt noch suchen.

Weiterlesen

Schenken verbindet.

Schwierige Zeiten gerade. Denke mir, da sind wir uns alle einig. Aber was ist schon leicht zwischen Himmel und Hölle? Es hilft allerdings, seine Seele nicht in die Fänge derjenigen zu geben, die Schwieriges gern mit leichten Rezepten angehen wollen. Verlorene Seelen finden selten ihren Frieden. Behalten wir also die Nerven und tun uns gegenseitig Gutes. Bücher schenken zum Beispiel. Das verbindet selbst Menschen, die sich gerade nicht treffen können oder dürfen. Heute nun unsere ersten Empfehlungen:

Weiterlesen

Das Leben ist eine Reise.

Ein Blick aufs Meer verursacht ja oft Fernweh, und auch der Roman „Offene See“ ist eine Einladung zu einer Reise. Der Autor Benjamin Myers nimmt uns mit ins England der späten Vierziger Jahre, der Zweite Weltkrieg ist endlich vorbei, alle atmen auf, doch die Narben sind noch spürbar. Genauso wie beim Protagonisten dieses vielfach gelobten Romans – Robert ging als Kind in den Krieg und kehrt als junger Mann zurück.

In seinem Rucksack trägt er nach den aufregenden Erlebnissen eine unbändige Sehnsucht nach Natur und – vor allem – dem Meer. So macht sich Robert auf den Weg, eine Wanderung mit offenem Ausgang, der wir uns nur zu gern anschließen. Das Buch wurde schon vor Erscheinen überschwänglich gelobt, und das nicht nur wegen seiner wundervoll anmutenden äußeren Erscheinung. Wir Buchhändler sind ja so etwas wie Goldgräber: Aufmerksam und neugierig forschen wir bei den zahlreichen Neuerscheinungen nach herausragenden Titeln. Weiterlesen

Optimismus in Zeiten des Virus.

Bild von Chickenonline auf Pixabay

Es gibt Bücher, bei deren Lektüre ganz viel mit einem passiert. „Die Optimisten“ von Rebecca Makkai ist so eines: Unzählige Gedanken und Gefühle krabbeln wie Ameisen durch Geist und Körper, während man atemlos und zutiefst berührt Seite um Seite umblättert. Eine wahrlich bewegende Geschichte. Beginnen wir mit einem nachdenklichen und gleichsam optimistisch stimmenden Zitat: »Optimisten wie wir haben schon etwas durchgemacht und stehen trotzdem jeden Tag auf, weil wir glauben, wir könnten verhindern, dass es noch einmal passiert. Oder wir tricksen uns einfach aus, um das zu glauben.« Aus diesen Zeilen spricht nichts weniger als ein unerschütterlicher, starker Überlebenswille. Und so einen Willen braucht, denke ich, jeder hin und wieder in Momenten, wo das Leben finster und bedrohlich erscheint. Weiterlesen

Man kann nicht immer gewinnen.

© George Steinmetz, Über den Dächern von New York, DUMONT Kalenderverlag

Wenn etwas Großes zu Ende geht, ist nichts mehr wie es war. So auch bei 1200 Seiten Literatur, die ich gerade beendet habe. Auf der einen Seite ein Seufzer der Erleichterung, der aus den Tiefen des Bauches nach draußen strömt. Auf der anderen eine Träne, die über ein erhitztes Gesicht läuft und kurz für Abkühlung sorgt. Der Blick schweift durch das Fenster nach draußen, die Augen halten sich fest am frischen Grün der Bäume, am friedvollen Blau des Himmels. Das Jahr ist noch nicht einmal halb rum, aber ich habe das Gefühl, schon jetzt das wohl umfangreichste und erstaunlichste Buch dieses Literaturjahres gelesen zu haben. Weiterlesen

Ein Regenbogen von Buch.

meg_wolitzer_die_interessanten

Fast hätte ich „Die Interessanten“ von Meg Wolitzer verpasst. Und das wäre ein großer Verlust gewesen. Denn dieser Roman schlägt zwar nicht kometenartig ein, aber er entfaltet sich mit jeder Seite, bis er im Kopf sitzt und dort auf angenehme Weise kitzelt. „Die Interessanten“ ist wie ein guter Wein, der Luft braucht, um sein volles Aroma zu verströmen. Wenn man dem Roman mit Geduld entgegentritt, erlebt man ein großes Wunder der aktuellen zeitgenössischen Literatur.

Weiterlesen

Die Menschen in Zeiten des Krieges.

pat_barker_tobys_zimmer

Kann ein Roman trotz der Grausamkeit des Krieges schön sein? Das kann er, wenn er aus der Feder von Pat Barker stammt. Hierzulande war die 1943 geborene Autorin bislang eher unbekannt, doch das hat sich jetzt geändert. Dem Dörlemann Verlag sei Dank, hat er uns doch mit Tobys Zimmer ein einzigartiges Leseerlebnis geschenkt.

Weiterlesen

Ein Zauber. In Extraklasse!

Mit Tauben fängt alles an, mit einer Krone hört dieses brillante Buch auf. Genauso schräg, wie es sich anhört ist es auch. Als Russell H. Greenan „In Boston?“ geschrieben hat, gab es mich noch gar nicht. Trotzdem glaube ich, er hat es auch für mich verfasst. Der Amerikaner wusste genau, dass es 44 Jahre nach Erscheinen immer noch jemanden auf der Welt gibt, der diesen Roman mit Begeisterung verschlingen wird. Das Buch wurde 1968 unter dem Titel „It Happened in Boston?“ von Random House herausgebracht und hat mich vollkommen begeistert. Es ist unwahrscheinlich erfrischend, facettenreich und bleibt für mich unvergesslich.

Nun, kehren wir zu den Tauben zurück. Der Ich-Erzähler glaubt, „dass die Tauben mich ausspionieren.“ Sie hocken auf dem Fenstersims und glotzen in seine Wohnung. Im gegenüberliegenden Park betrachtet Alfred das Haus genauer, zählt sechsundvierzig Fenster, „aber nur eins – meins – war mit diesen böse dreinblickenden Vögeln garniert. Fünfundvierzig ohne, eins mit. Das kann kein Zufall sein.“ Alfred probiert alles, um sie zu verjagen, hat vergiftete Brotkrumen verstreut und hofft so, dass er sie endlich loswird. Alfred sitzt gern im Bostoner Public Garden, dort kann er sich den Tagträumen hingeben. Seine Bewusstseinsverschiebung führt ihn an „verschiedene Orte in Zeit und Raum“. So findet er sich mal auf dem Bord eines Schiffes wieder, ein anderes Mal in Sibirien, auf einem einsamen Berg oder auf einem anderen Planeten. Er hüpft zwischen den Epochen hin und her. Ich frage verwundert, wo will der Autor mit mir hin? Will er mich auf den Arm nehmen? Es bleibt bei den Reisen wie Alfred sie selbst nennt, sie sind ganz normal wie der morgendliche Kaffee, den er zum Frühstück trinkt. Wenn Alfred nicht verreist, unterhält er sich mit einem altklugen Jungen. Randolph ist sieben oder acht Jahre alt und trägt als besten Freund eine Frosch-Handpuppe mit sich herum. Ausflüge ins Café und in die Bibliothek gehören genauso in Alfreds Tagesablauf wie die Platten, die er abends hört. Ein ruhiges Leben, das trotzdem auf eine bestimmte Weise aufregend ist und mich sofort an Haruki Murakami denken lässt. Denn es hat was von den Alltagshelden aus der Welt des Japaners, in der sich eigentlich nichts ereignet und doch so viel passiert. Die Wolken am Himmel brauen sich zusammen und verschlucken allmählich die Sonne, so ungefähr. Sei auf der Hut, lieber Leser, und ruh dich nicht aus, denn der Wolkenbruch naht…

Aus dem Buch strömen zunächst entspannte Melodien, die mir öfter bei den amüsanten Dialogen und den Gedanken des Ich-Erzählers ein Schmunzeln entlocken. Ich mag Alfred sofort. Der Kerl ist mir sehr sympathisch, ein bisschen eigen vielleicht, aber bemerkenswert. Ich mag seine Art durchs Leben zu laufen und die Lebensweisheiten, die er mir vor die Augen streut: „Unglück ist ein Zufall, der nichts kostet.“ Herrlich komisch! Das ist Alfred. Er malt auch Bilder, keine modernen, sondern die der Alten Meister, die ihm ein exzentrischer italienischer Maestro in den jungen Jahren beigebracht hat. Daran hält er bis heute fest, nur hat Alfred damit in der modernen Welt wenig Erfolg, bis er eines Tages auf den Kunsthändler Victor Darius trifft.

Jonathan Lethem spricht in dem Nachwort von einem „Zauberbuch“. Ja, das ist es, aus dem Bereich der Extraklasse wohlbemerkt! Es berührt die Sinne und offenbart Geheimnisse, von denen du nicht ansatzweise geahnt hast. Gerade zum Ende hin wird es äußerst rasant und skurril. Der Wahnsinn kriecht wie eine Maus aus dem Loch und hängt sich dem Protagonisten ans Hosenbein. Erst jetzt weiß ich, was mit dem Ausspruch gemeint ist: „Ich weiß nicht, warum ich das alles aufschreibe. Wen interessiert es schon? Es gibt keine Action, die dem Leser wacklige Knie machen oder einen Schauer über den Rücken jagen, nichts Nervenaufreibendes, Blutrünstiges, Zähneklapperndes, Haarsträubendes oder Herzergreifendes, um ihn bei der Stange zu halten. Zumindest noch nicht. Aber ich bin auf der Hälfte mit meinem Bericht – wenn überhaupt. Was noch kommt, ist interessant; zumindest glaube ich es.“ Hiermit streiche ich einfach mal das „glaube“, denn es knallt gewaltig. Der Ich-Erzähler schleudert mich aus dem Sitz, später erst, wenn ich nicht damit rechne und noch die Wolken betrachte. Plötzlich weht ein Orkan durch die Seiten, der messerscharf alle Sinne ergreift.

Überraschende Wendungen bringen mich vom Weg ab und jagen meinen Puls in die Höhe. „In Boston?“ ist ein Spaziergang durch alle Genres der Literatur und Jahreszeiten. Es ist verheißungsvoll wie der Frühling, erhitzend wie der Sommer, melancholisch wie der Herbst und fröstelnd wie kalte Wintertage. Russell H. Greenan entführt mich in die Kunstwelt, bringt mich zu den Kunst-Revoluzzern Benjamin Littleboy und Alfred. Jeder hält an seinem Stil fest, hungert lieber, anstatt sich zu verbiegen. Littleboy sucht irgendwann Geld auf der Straße, um seine Familie zu ernähren. Leo Faber, der Dritte im Bunde, vertritt eher das konservative Glied in der Kette, die von tiefer Freundschaft geprägt ist.
Ich sehe jedes Kunstwerk vor mir, so exakt beschreibt der Autor die Bilder und die Ansichten des Künstlers: „Es ist traurig, aber wahr, dass gute Gesichter in der heutigen Zeit eine Seltenheit sind, denn der Wert eines Gesichts hängt von seinem Ausdruck ab, und moderne Züge haben entweder keinen Charakter oder sind von Aspekten geprägt, die dem Auge unangenehm sind.“

Das Buch wird bei mir bleiben, im Regal und im Kopf gleichermaßen. Unsere Begegnung war schicksalhaft. Ich habe den Roman 2007 das erste Mal im Vorbeigehen als gebundene Ausgabe irgendwo liegen sehen. Jetzt fiel es mir durch Zufall wieder ein, wie ein Staubfusel tauchte es unerwartet auf. Es war nur eine logische Schlussfolgerung, dass ich es mir dieses Mal anschaffen und endlich lesen sollte. Welch gute Entscheidung, welch Genuss, welch Glück! Eben ein Zauber.

Russell H. Greenan.
In Boston?
Februar 2010, 400 Seiten, 9,90 €.
Diogenes Verlag.