Demenz ist für mich weit weg. Berührungspunkte gibt es kaum. Sicherlich habe ich mich damit schon beschäftigt, aber das Thema ist so weit entfernt wie Neuseeland von Deutschland. Warum sollte man sich großen Entfernungen nicht annähern? Eben. Also setzte ich mir das Hörbuch „Der alte König in seinem Exil“ in die Ohren. Matthias Brandt liest die Geschichte von Arno Geiger vor. Er schafft sofort eine Nähe, dass man glaubt, den Autor direkt vor sich zu haben und mit ihm zusammen seinen kranken Vater.
Immer noch versuche ich die Geschichte einzuordnen. Ein Durcheinander an Gefühlen wirft meine Gedanken in eine Schale. Dort liegen sie gut. Kurz ausruhen und durchatmen. Das habe ich oft bei dem Stück. Ich konnte es nicht in einem fort durchhören, weil es mich bewegt hat, auf eine bestimmte Art. Von tiefer Trauer jedoch ist hier keine Rede, dafür zeichnet Arno Geiger ein zu liebevolles Bild, das von unterhaltsamen Nuancen getragen wird. Das Lachen blieb mir jedoch im Halse stecken, sobald ich den Vater sagen hörte: „Ich gehe jetzt nach Hause“. Dort war er aber und erkannte sein eigenes Heim nicht mehr. Und was macht Arno Geiger? Er tut so als wäre es fast das Normalste von der Welt und umgeht die Tatsache. Kurze Zeit später schließt er sich seinen Vater an und sagt: „Ich habe es mir überlegt, ich komme mit.“ Dies ist eine beeindruckende Geste, die Spuren hinterlässt. Er zieht seinen Vater nicht rechthaberisch auf seine Seite, viel mehr tritt er auf die des Vaters. Plötzlich wächst eine Nähe zwischen beiden, die es vor der Krankheit so nicht gegeben hat.
Auch ich habe mich dem Vater genähert und war erstaunt, wie klar er in manchen Situationen denkt und spricht. Es sprudeln wahre Weisheiten aus ihm heraus, die man festhalten möchte. Sie drücken die Krankheit in eine dunkle Ecke. Im nächsten Moment jedoch klafft eine Lücke in seinem Gedächtnis, die er nicht flicken kann. Genau dann verschwindet mein Lächeln und ich spüre eine Feuchtigkeit in den Augen. Zum Regenschauer kommt es jedoch nicht, weil Arno Geiger mit seiner feinfühligen Art rechtzeitig einschreitet.
Matthias Brandt verdient einen großen Applaus für die brillante Leistung. Trotz zahlreicher bewegender Szenen, liest er kontinuierlich die Geschichte vor. Er spendet dabei eine besondere Ruhe, die ich beim Lesen nicht immer gefunden hätte. Gleichzeitig lässt er den Schalk raus, wenn er mit den Füßen vorsichtig die Tür anstößt. Unterhaltsame Stellen stolzieren hier gerne nach draußen und machen bewusst: Beides gehört zum Leben. Das Lachen und das Weinen. Das Gesunde und das Kranke. Arno Geiger hat eine Brücke geschaffen über die man mit einer besonderen Stärke läuft und die Angst dabei vergisst.
Arno Geiger.
Der alte König in seinem Exil.
Gelesen von Matthias Brandt.
Ungekürzte Lesung: 4 CD, 255 Minuten, 19,95 €.
Februar 2011.
Hörbuch Hamburg.
Drei weitere, bemerkenswerte und sehr ausführliche Rezensionen zum Buch findet ihr bei: caterinaseneva, Flattersatz und Syn-ästhetisch.