Schlagwort-Archive: Frauen

Schicksale in der Schwebe. 

Foto: Kristine Bilkau | © Thorsten Kirves

»Nebenan« von Kristine Bilkau ist ein stilles Buch. Der Sound ist eher eine zarte Melodie, in der ich von Beginn an versinke, jedes Wort trinke. Dem Buch wohnt gewissermaßen ein Zauber inne, eine besondere Magie. Die Geschichte umarmt mich derartig liebevoll, dass ich nicht genug bekommen kann. 

Die Hamburger Autorin erzählt in ihrem neuen Roman über zwei Frauen, die in einem beschaulichen Ort am Nord-Ostsee-Kanal leben. Und dann passieren ein paar unvorhergesehene Dinge.  

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Scharfe Krallen und laute Beats.

jaguare

Das kann nicht sein! Nach jeder Erzählung in „Techno der Jaguare“ kam ich aus dem Staunen nicht heraus. Hatte ich bei diesem Titel etwas anderes erwartet? Sanft schnurrende Katzen etwa? Wohl kaum. Scharfe Krallen und laute Beats schon eher, dazu unerhörte Plots, die wie Kometen einschlugen. Diese Anthologie hinterlässt sichtbare Spuren und macht dem Titelnamen alle Ehre. Weiterlesen

Große Literatur, menschliches Drama.

                                           Foto: Olwyn Hughes.

Zu manchen Autoren und Autorinnen haben wir eine ganz besondere Beziehung. Wir wissen meist nicht, wo dieses vertraute Gefühl herrührt. Es ist einfach da wie der Wind, der unser Gesicht streift. Ich habe aufgehört, zu hinterfragen, warum das so ist, freue mich lieber über dieses exklusive Geschenk des Himmels und schreibe über Sylvia Plath, die heute 80 Jahre alt geworden wäre. Eine Autorin, die viel zu früh selbstbestimmt aus dem Leben gegangen ist und eindrucksvolle Literatur hinterlassen hat.

Unsere erste Begegnung ist viele Jahre her. Damals, in einer Zeit eines persönlichen Umbruchs, hat mich Sylvia Plath mit ihrem autobiographischen Roman „Die Glasglocke“ aufgefangen. Ich fühlte mich verloren in der Welt, wie die Ich-Erzählerin Esther Greenwood. Eine erfolgsverwöhnte 20-Jährige fällt durch die Absage für einen Schriftstellerkurs in ein tiefes Loch und leidet zunehmend an einer schweren Depression. Ich steckte in einer ähnlichen Situation, erfolgsverwöhnt wie ich war, schlitterte ich orientierungslos durchs Leben, weil plötzlich nichts mehr so lief, wie ich es mir vorgestellt hatte. Sylvia Plath traf eine Ader in mir, nicht zuletzt auch durch ihre eindrucksvolle Sprache. Sie reichte mir ihre Hand und zog mich vom Boden nach oben. Dieses Buch blieb wohl auch aus diesem Grund bis heute in meinem Herzen. Riesengroß war demnach die Freude, als ich entdeckte, dass die Frankfurter Verlagsanstalt dieses Jahr zwei Erzählbände neu aufgelegt hat, die ich bis dato nicht gelesen hatte. „Die Bibel der Träume“ heißt das eine, das andere „Zungen aus Stein“ und über letzteres möchte ich euch heute berichten.

„Zungen aus Stein“ enthält 16 Erzählungen, bei denen überwiegend junge Frauen im Mittelpunkt stehen. Die Geschichten sind melancholisch und wiegen schwer im Herzen. Oft sah ich das Bild einer kalten Mondnacht vor mir aufblitzen. Ich lief allein durch die Plath-Welt, einzig meine Atemwölkchen begleiteten mich durch die Dunkelheit.
Sylvia Plath erzählt von jungen Frauen, die im Amerika der vierziger Jahre umherirren. Ja, sie irren umher, viele von ihnen sind vom Weg abgekommen. Sie sind verletzte Wesen, denen das Leben schmerzhafte Wunden zugefügt hat. Da ist das Mädchen aus der Titelgeschichte. Eindringlich und beklemmend lesen sich die Seiten von dem Mädchen, das sich in einer Nervenheilanstalt befindet. Ihr Drama macht Plath bereits auf der zweiten Seite deutlich: „Zwei Monate lang hatte sie weder geweint noch geschlafen, und jetzt schlief sie immer noch nicht, aber es kamen immer mehr Tränen, den ganzen Tag.“ Jegliches Gefühl ist aus ihrem Körper gewichen, er fühlt sich an wie „eine dumpfe Marionette aus Haut und Knochen, die Tag für Tag für Tag gewaschen und gefüttert werden mußte.“ Sylvia Plath beschreibt das Bild einer depressiven Frau, ein Bild, das ihr vertraut war und hier so authentisch wirkt, beißend echt, dass ich die schwere Last der Seele in meiner Brust spüre.

In „Superman und Paula Browns neuer Schneeanzug“ macht Sylvia Plath deutlich, wie hässlich und gemein Kinder sein können. Das Schicksal spielt dem Ich-Erzähler einen bösen Streich. Wobei man nach dem Ende nicht mehr an Schicksal denken möchte, sondern die bloße, erschütternde Absicht sieht, jemanden die Schuld zu geben. Genau das macht die Geschichte noch tragischer als sie ohnehin schon ist. Raffiniert verarbeitet Plath etwas, dass wir allzu kennen, nämlich die eigene Schuld auf andere abzuladen. Hier ist es Paula Brown, die nicht eingestehen will, dass sie auf einer Ölpfütze ausgerutscht ist und ihren neuen Schneeanzug beschmutzt hat. In einer blitzschnellen Reaktion zeigt sie auf den Ich-Erzähler und ruft laut aus, dass er es war, der sie geschubst hat. Von da an ist er der Geächtete, der Ausgegrenzte, der an der Ungerechtigkeit beinah zerbricht. Als sei das nicht schon genug, untermalt die Autorin das Drama mit einer weiteren brutalen Komponente, denn dieser Vorfall ereignet sich in dem Jahr, als der Krieg begann.

Im „Tag des Erfolgs“ konfrontiert mich Sylvia Plath mit dem damaligen Frauenbild und dann seinen Folgen. Als Ellen davon erfährt, dass das Theaterstück ihres Mannes Jacob mit Begeisterung aufgenommen wurde, überrollt sie eine Welle der Zweifel und drückt sie nieder. Die Überbringerin dieser Nachricht versetzt Ellen in Angst und Schrecken, ist es doch jene brillante junge Fernsehredakteurin, mit der sich Jacob kürzlich getroffen hat. Die Eifersucht keimt in Ellen auf, die Stacheln verletzten ihr Herz, erschüttert ihr Kopf mit vielen Gedanken. Eigentlich sollte sie sich über diesen Erfolg ihres Mannes freuen. Hatten sie harte Zeiten hinter sich, doch über das Glück stülpt sich eine betäubende luftdichte Maske, die sie einfach nicht absetzen kann und sich spinnenartig in ihren eigenen Gedanken verwebt. Plötzlich fängt sie an, sich kritisch zu betrachten: „Ich passe schon jetzt nicht mehr. Ich bin hausbacken, unmodern wie die Rocklänge vom letzten Jahr.“ Ellen wird bewusst, wie sehr sie ihre anziehende Weiblichkeit als Hausfrau und Mutter verloren hat. Angst macht sich breit, ihrem Mann nicht mehr zu gefallen und ihn damit in die Arme von attraktiven Frauen zu werfen.

Das Spektrum der Erzählungen ist reichhaltig, und ich habe nur einen Bruchteil angerissen. So vielfältig sie auch sind, eins vereint sie alle: der Verlust. Über allem schwebt dieses tragende Element, ein Gefühl, mit dem die Autorin seit frühen Kindheitstagen selbst konfrontiert wurde. Sie war 8 Jahre, als ihr Vater starb. Vielleicht führte dieses tragische Ereignis dazu, dass dieses Thema so häufig auftaucht. Ob es sich um einen besonderen Tag handelt, der nie wiederkehrt, oder um einen Ort der Kindheit, der nicht mehr so ist, wie er einst mal war oder um einen verlorenen Menschen oder eine sich verändernde Beziehung. All das hält mir die Autorin mit ihren Geschichten vor Augen, diese ständige Bewegung des Lebens, die die Dinge und Menschen ändert, ob wir es wollen oder nicht. Aus vielen Seiten vernehme ich Rufe nach mehr selbstbestimmtem Leben. Einige Mädchen rufen nicht nur, sie handeln, brechen aus, befreien sich von den Handschnellen, die man ihnen angelegt hat und treffen mutige Entscheidungen. Für wenige Augenblicke verblasst die Schwermütigkeit, und wird von leichten Wolken überdeckt. Übermut macht sich dort bemerkbar, wo sonst nur lähmende Ohnmacht saß. Ein Lächeln fährt über das sonst so ernste Gesicht und übertüncht den angespannten Ausdruck mit einem beruhigenden Frieden und hoffnungsfroher Zuversicht.

Der Erzählband enthält Plaths nachdenkliche Handschrift. Sie war eine sehr reflektierende und empfindsame Person, dies entfalten ihre persönlichen Aufzeichnungen, die ich euch als ergänzende Lektüre empfehlen möchte. Sie lassen uns in ihre Seele blicken und manch einer findet dort vielleicht eine Antwort, warum diese talentierte Schriftstellerin und Lyrikerin so früh aus dem Leben gegangen ist. „Briefe nach Hause 1950-1963“ und „Die Tagebücher“ geben einen Einblick und sind auf besondere Weise eine literarische Bereicherung. Einmal aufgeschlagen, wollte ich nicht wieder hinaussteigen. Sie führen hinein in das Leben einer jungen Frau, die vor Leben und Schreiblust brennt, die hochfliegt, so viel vom Universum möchte, dabei oft tief fällt und von schwermütigen Phasen niedergedrückt wird. Ich erlebe sie als kreischende, juchzende Biene und als sentimentale, nachdenkliche junge Frau, die ihre Schmerzen ihren Tagebüchern und ihren Briefen anvertraut. 1953 unternahm sie mit 20 Jahren den ersten Selbstmordversuch. Der Brief an E. gibt Aufschluss darüber, was Sylvia Plath zu diesem Schritt geführt hat. In ihren Erklärungen berichtet sie von der Absage für einen Schreibkurs, auf den sie so sehr gehofft und mit dem sie fest gerechnet hatte. Dieses einschneidende Erlebnis greift sie später in ihrem Roman „Die Glasglocke“ auf. Das Zerfallen und Verlieren in dem kalten See der Enttäuschung entfaltet sie hier in diesem Brief und gibt Antworten auf Fragen nach dem Wieso und Warum. Sylvia Plath vergleicht sich mit ihren Freundinnen, die in Europa Romane schreiben, bald heiraten oder Medizin studieren. Sie zerfällt in ihren Sorgen, kann nicht mehr schlafen, weil sie gegen Schlaftabletten immun wird und erlebt traumatische Erfahrungen mit Elektroschockbehandlungen. Als einzigen Ausweg sieht sie am Ende nur noch den Selbstmord, um der Irrenanstalt – wie sie die psychiatrische Klinik selbst bezeichnet – zu entkommen.

Die persönlichen Aufzeichnungen sind eine Reise durch Sylvia Plaths Seele. Ihr Innenleben fließt nach draußen direkt auf das Papier und in den Kopf des Lesers. Sylvia Plath erzählt von den hohen Anforderungen der Gesellschaft, denen sie sich beugt und die sie trotzdem kritisch hinterfragt: „Doch, genaugenommen, wieviel davon war eigentlich freier Wille? Wieviel davon war Denkfähigkeit, die ich von meinen Eltern mitbekommen habe, wieviel elterlicher Druck, zu lernen und gute Noten nach Hause zu bringen, die Notwendigkeit, eine Alternative zur gesellschaftlichen Welt der Jungs und Mädchen zu finden, zu der ich nicht zugelassen war? Und stammt der Wunsch zu schreiben nicht aus einer Neigung mich nach innen zu orientieren, die sich bei mir schon als Kind zeigte, als ich in der Märchenwelt lebte, mit Mary Poppins und Winnie-the-Pooh?“

Sie ist eine strebsame Studentin, die nach dem abgeschlossen College sogar ein Stipendium für Cambridge erhält. Sie arbeitet als Gastredakteurin bei der „Mademoiselle“ und bietet ihre literarischen Werke Zeitungen an, wartet auf Zusagen für Veröffentlichungen, hadert mit Absagen und nimmt die Ratschläge der Redakteure für Verbesserungen der Texte an. Ich komme manchmal als Leserin kaum zum Luftholen, so viel passiert in dem Leben dieser bemerkenswerten Frau. Ich schätze die offene und reflektierende Art, die eine eigene Welt und die der anderen zu betrachten. An einer Stelle analysiert sie ein Gedicht, das sie verfasst hat, betrachtet es, legt es geradezu unters Mikroskop – so fühlt sich die Analyse für mich an und erklärt, warum sie so schreibt wie sie schreibt: „Da meine weibliche Welt stark durch Gefühle und Sinne wahrgenommen wird, behandle ich sie auch dementsprechend in meinem Schreiben, und das ist dann oft überladen mit langweiligen Beschreibungen und einem Kaleidoskop von Vergleichen“. Zwischen den zahlreichen Betrachtungen und Reflexionen stoßen aber weise Gedanken an die Oberfläche, sie legen sich wie Balsam auf die Seele: „Ob man in einem Streit gewinnt oder verliert, ob man eine Zu- oder Absage erhält, sagt noch nichts über Gültigkeit und Wert der persönlichen Identität. Man kann sich irren, einen Fehler machen, handwerklich schlecht oder bloß unwissend sein – das alles entspricht in keinster Weise dem wahren Wert der gesamten eigenen Identität als Mensch: weder der früheren, noch der gegenwärtigen, noch der zukünftigen!“

Die privaten Aufzeichnungen sind literarisch und menschlich gesehen einmalig und äußerst beeindruckend. Es ist die poetische und kraftvolle Sprache, die aus den vielen Briefen und Tagebucheinträgen hervorsticht. Kleine glitzernde Wortdiamanten, von denen ich nie genug kriegen konnte. Sie sind brillant und für mich unvergesslich. Mögen einige Täler in Sylvia Plaths Seele bisweilen finster sein und jedes Tageslicht schlucken, enthalten die Seiten auch so unendlich viele kraftvolle Passagen, die stark machen. Während ich dies schreibe, überlege ich: Gehört das auch nicht alles dazu? Das Fallen und das Sich-Suchen und das Sich-Finden? Die kritische Auseinandersetzung mit dem eigenen Leben und den persönlichen Befindlichkeiten? Nur tragisch, dass die Autorin am Ende für sich keinen anderen Ausweg mehr sah, als sich umzubringen. Da war sie gerade mal 31 Jahre jung. Ein Jahr jünger als ich. Dies macht mich unendlich traurig, aber ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass sie mir von da oben zuschaut und jetzt in dem Augenblick lächelt, in dem ich über das literarische Erbe lächle, das sie uns zurückgelassen hat.

Sylvia Plath.
Zungen aus Stein. Erzählungen.
September 2012, 300 Seiten, 14,90 €.
Frankfurter Verlagsanstalt.

Und hier sind noch weiterführende Links zu Sylvia Plath:
http://cms.frankfurter-verlagsanstalt.de/fva.php?page&p=DE,2416,,,,
http://www.suhrkamp.de/autoren/sylvia_plath_3747.html?d_view=veroeffentlichungen
http://www.sylviaplath.de/
http://www.facebook.com/SylviaPlathAuthor

Alice Munro schubst uns an. Damals wie heute.

Zeitweise hängen sie schüchtern in unseren Köpfen. Zaghaft und leise sind sie, wollen keinen Lärm machen, weil ihnen noch etwas fehlt. Ein Schubs etwa oder ein Klaps. Manchmal finden wir sie im Gesicht eines anderen, versteckt zwischen einem Lächeln oder einer bestimmten Mimik. Sie haben viele Formen. Schön ist es, wenn es dann jemanden gibt, der den Sehnsüchten den Anstoß gibt wie Alice Munro. Jemand, der unsere Gedanken mit Mut auffüllt.

Unzählige Erzählungen hat die kanadische Schriftstellerin bereits geschrieben. Im Februar diesen Jahres ist ihr erster Erzählband mit 15 Geschichten erschienen. Der Dörlemann Verlag hat das Buch herausgegeben und dies auf eine würdevolle Art getan. Das Buch trägt einen wunderschönen Leineneinband. Je nach Lichteinfall schimmert er dunkelblau oder weinrot. Ein zurückhaltendes Farbspiel ist das, was beglückt und dem Buch etwas Geheimnisvolles verleiht, etwas Wertvolles über das man immer wieder mit den Fingern streift.

Im Mittelpunkt stehen junge Frauen und Mädchen, die in Kleindstädten wohnen. Das Leben dort ist meist begrenzt und bewegt sich in einem Mikrokosmos. Die Protagonistinnen hingegen verharren nicht regungslos. Sie wollen hinaus aus ihren Schneckenhäusern, sie wollen hinter den eigenen Horizont steigen. Die Rede ist nicht vom Fernweh, sondern vom Wunsch, den eigenen Vorstellungen zu folgen, Ängste hinter sich zu lassen, Sehnsüchte zu stillen, gerecht zu sein – mit sich und den anderen. Wir lesen uns durch ihren Alltag, ihren Begegnungen und Ereignissen. Meist sind die Frauen stille Beobachterinnnen, die präzise registrieren, was vor ihren Augen passiert. Sie gehen dabei sehr feinfühlig vor und hinterfragen vieles. Einfach Dinge hinnehmen, weil es andere schon getan haben? Nein, das wollen sie nicht.

Da ist Mary in der Erzählung „Die leuchtenden Häuser“. Sie ist Mutter von einem Sohn, Danny, und lebt in einer Kleinstadt, die sich verwandelt. Aus Alt mach Neu – so lautet das Motto. Am liebsten wollen die neuen Bewohner, in ihren weißen, hellen Häusern, das alte, Verwesene abreißen und die Menschen gleich mit. Wie Mrs. Fullerton. Sie lebt allein in ihrem alten, heruntergekommenen Haus, das den jungen Frauen und Männern ein Dorn im Auge ist. Es muss weg. Während sich alle beim Kindergeburtstag den Kopf darüber zerbrechen, sitzt Mary da und überlegt, wie sie Mrs. Fullerton retten kann. Sie erhebt ihre Stimme gegen die Pläne der anderen. Aber die wollen sie nicht hören. Mary, so schlau und einsichtig wie sie ist, belässt es dabei, zieht ihren Mantel an und denkt zum Schluss: „Es gibt nichts, was du im Augenblick tun kannst, außer die Hände in die Taschen zu stecken und dir dein unvoreingenommenes Herz zu bewahren.“
Ein Raunen geht selbst jetzt noch durch mein Herz, wenn ich diese Worte streife. Eine kleine Träne sammelt sich ganz vorsichtig hinter meinen Augen. Plötzlich habe ich da so einen Schleier zwischen der Welt in mir drinnen und der da draußen. Ich bin berührt, atme, schlucke und lächle die Träne weg, denn mit einem Mal spüre ich einen Klaps auf der Schulter. Nach der Einsicht folgt die Zuversicht. Ja, so ist es oft, wenn man am Ende einer Munro Erzählung aus dem Werk angekommen ist.

Alice Munro zeigt sich in den früheren Jahren auch als Kämpferin der Frau. Wie bei der Protagonistin aus „Das Büro“. Die Ich-Erzählerin möchte schreiben. Es fällt ihr schwer zu sagen, dass sie Schriftstellerin ist. „Zu anmaßend“ klingt das für sie. Trotzdem oder gerade deswegen braucht sie ein Büro. Warum? Weil ein Mann in einem Haus arbeiten kann, eine Frau hingegen nicht. Eine Frau hat Pflichten zu erledigen: Den Haushalt, das Essen, die Kinder, den Mann. Eine Frau, die nur da sitzt, in die Weite schaut und einfach nur schreibt, ist undenkbar. Sie hat immer da zu sein, für jeden. Abtauchen in ferne Welten ist eine Utopie. Also muss ein Büro her. Ein Ort, der Raum für eigene Gedanken und Ideen schenkt.

Alice Munro setzt sich besonders hier dafür ein, dass man die Frauen als eigenständige, selbstdenkende Wesen sehen sollte. Dass sie nicht nur bügeln, sondern auch schreiben oder malen können. Munro belehrt nicht, nein, sie spricht es auf eine sehr clevere Art an. Sie erhebt keinen Zeigefinger. Das wäre keine echte Munro. Sie schreibt schnörkellos, setzt dabei ihren leichten ironischen Blick hinzu und lässt die großen Gefühle draußen. Emotionen bleiben eher im Miniformat. Sie sind sehr zart und schmal, dass sie gerade so durch einen Briefkastenschlitz passen. Wer nun denkt, dass sich das kühl anfühlen muss, irrt sich. Es bleibt warm und bemerkenswert, denn Munro zu lesen, bedeutet jedes Mal, bewegt zu werden und das auf vielfältige Weise.

Die frühen Geschichten unterscheiden sich von den Erzählungen, die danach folgten. Sie sind kürzer. Auch die Sätze, die sie beschreiben. An einigen Stellen hat Alice Munro auf nähere Einzelheiten verzichtet. Damit schafft die Autorin Raum für uns, in dem wir uns ausbreiten können. Ich hätte nie geglaubt, dass sich Distanz auch nah anfühlen kann. Es ist als wäre eine Fensterscheibe durchlässig wie eine Membran, die die Innen- und Außenwelt mühelos verbindet. Genau so ist es mir ergangen. Als ich die Erzählungen mit ihren späteren Werken verglich – das tut man automatisch als Munro-Leserin – tat sich vor mir folgendes Bild auf: Eine Knospe, der man ansieht, dass sie ganz bald zu einer schönen Blume gedeihen wird. Man ahnt schon jetzt, dass hier eine besondere Schriftstellerin am Werk ist. Hier reift etwas Wunderbares, etwas, das uns an unsere eigenen reichhaltigen Ressourcen erinnert, die wir alle haben. Alice Munro zu lesen, bedeutet auch Mut zu atmen und Kraft zu spüren. Sie schubst uns an. Damals wie heute.

Alice Munro.
Tanz der seligen Geister.
Februar 2010, 380 Seiten, 23,90 €.
Dörlemann Verlag.

Ein poetisches Karussell an Gedanken.

In manche Bücher plumpst man sofort hinein wie in ein weiches Bett. Der Bauch wird warm und schon nach den ersten Sätzen ahnen wir, dass etwas Großes auf uns zurollt. Genauso ist es mir bei Accabadora von Michela Murgia ergangen.

Die italienische Autorin erzählt in ihrem Debüt über Menschen und deren Schicksale und über eine Insel mit deren Vergangenheit. Im Vordergrund stehen Maria und die Schneiderin Bonaria Urrai. Die beiden leben zusammen wie Mutter und Tochter, obwohl sie es nicht sind. Maria ist das vierte Kind einer armen Witwe, die ein weiteres Kind nicht auch noch durchbringen kann. Bonaria ist es seit jeher vergönnt gewesen, ein eigenes Kind zu bekommen. Also nimmt sie Maria auf. Das Mädchen entkommt auf diese Weise einem Leben in Armut. Schon bald merkt sie jedoch, dass ihre Ziehmutter ein düsteres Geheimnis mit sich herumträgt, das sie eines Tages lüftet. Das zieht einen großen Konflikt nach sich, der einen unüberwindbaren Spalt zwischen den beiden Frauen schafft.

Der andere Erzählstrang berichtet von den Menschen auf der Insel, von ihren Nöten, ihren Sehnsüchten und Gefühlen. Es wird geliebt, gehasst und natürlich viel erzählt, mal tuschelnd, mal offen. Die Autorin erzählt so detailgenau und geht dabei sehr einfühlsam vor, dass man mitfühlt und mitdenkt. Ein kleiner Stachel setzt sich in den Kopf und bleibt dort stecken. Man denkt, denkt und denkt. Und denkt und denkt.

Dieses Buch hat mich sofort gefangen. Vor allem die poetische und sensible Sprache Murgia habe ich dies zu verdanken. Auf fast jeder Seite entdeckte ich Sätze, die ich mir liebend gern auf meine Wäscheleine aufhängen möchte. Hier ist einer von vielen:

„Es gibt Gedanken, die wie eine Eule das Tageslicht scheuen.“

Gedanken tauchen in dem Buch einige auf, an denen man nicht spurlos vorbeilesen kann. Die Gedanken drehen sich um zu viele Fragen mit denen ich konfrontiert wurde. Was bedeutet Familie? Tradition brechen oder weiterleben lassen? Was ist Gerechtigkeit? Darf ich Böses mit meinem eigenen Anspruch zunichte machen? Was ist ein gutes Leben? Darf man kranke Menschen, die keine Hoffnung mehr auf Besserung haben, erlösen, wenn sie es sich wünschen?

Wir tauchen auch ein in Traditionen und uraltem Wissen auf Sardinien. Eine Insel, die eine Welt für sich ist. Die Sonne glüht, der Mund ist trocken und überall schwebt öfter ein kalter Schatten, der haften bleibt – egal wie sonnig es ist. Dieses Buch hat zurecht kurz nach seinem Erscheinen bei uns viele begeistert. Es ist ein Werk über starke Frauen für starke Frauen, aber auch ein Werk für Männer, die solchen Frauen gern ins Gesicht schauen.

Michela Murgia.
Accabadora.
Februar 2010, 176 Seiten, 17,90 €,
Klaus Wagenbach.

Nur einen Seufzer lang.

Eine Minute. Vielleicht auch eineinhalb. So lange spüren sie einen elektrischen Schlag, etwas Dunkles im Herzen flattern, etwas Vergangenes, von dem sie dachten, es vergessen zu haben, aber es lebt noch ein bisschen, nur einen Seufzer lang. Eigentlich hatten sie es vergraben, ein Ereignis vielleicht oder eine Begegnung, die das alte Ich dazu bewogen, sich schlafen zu legen, für immer. Doch auch die Vergangengeit gehört zu ihnen, macht sie zu dem, was sie heute sind.

Ich spreche von Nurhayat, Emine, Sengül, Esme und den anderen in Städte aus Frauen. Der türkische Schriftsteller Murathan Mungan hat ein kleines, großartiges Sammelsurium zusammengestellt und den mutigen, eigenständigen Frauen eine Stimme geschenkt. Es sind viel mehr einzelne Erzählungen, die zum Schluss am Istanbuler Busbahnhof münden. Dazwischen lesen wir über Sehnsüchte, die ehemalige Revolution in dem Land und existenzielle Themen, die die Türkinnen neu geformt oder zu dem gemacht haben, was sie eigentlich schon immer gewesen sind. Die Frauen sind gefallen und wieder aufgestanden. Einige von ihnen haben sich von einem traditionellen Gesellschaftsbild gelöst und beispielsweise eines Tages eingesehen, dass ihre Ehe sie nicht mehr glücklich macht oder dass sie nur ihre wahre Erfüllung im Beruf finden.

Mungan hat Esme und den anderen in einen Raum gelassen, in dem sie ganz sie selbst sein können, in dem sie stark sind auch mit ihren Schwächen, die sie sich zwar eingestehen, aber die sie geheimnisvoll in sich tragen, abgeschlossen in einer Schatulle, irgendwo neben dem Herzen. Zufälle und Ereignisse holen dieses Vergessene jetzt ans Tageslicht und plötzlich fühlen sie sich ertappt. Sie atmen, schnappen nach Luft wie kleine Fische, die für eine Sekunde, nur einen Seufzer lang, vergessen haben, ihre Kiemen zu bewegen.

Dieses Buch macht Mut und erfrischt den Geist. Es wirft einem etwas in den Bauch, das fast die ganze Zeit angenehm kribbelt und den Wunsch auslöst, zu laufen, dem Horizont entgegen. Alles Böse vergessen und nur an das Gute denken. An dich und das was du kannst. Man liest das Buch langsam, weil die Sätze und Worte so kraftvoll sind, dass man sich noch lange nach dem Lesen darin aufhält.
Obwohl ich überhaupt keine Verbindung zur Türkei habe, konnte ich mich dennoch in dem Buch einfinden und ein Stück von mir wiedererkennen. Mut kennt eben keine Grenzen – weder zwischen dem Gestern und dem Heute noch zwischen Deutschland und der Türkei.

Städte aus Frauen.
Murathan Mungan.
März 2010, 21,90 €.
Blumenbar.