Hier ist eine Spezialistin am Werk. Als erfahrene Drehbuchschreiberin und Regisseurin weiß Hélène Grémillon, wie wichtig ein gut durchdachter Spannungsbogen ist. Genau dieses Wissen hat sie eindrucksvoll in ihrem Debüt „Das geheime Prinzip der Liebe“ umgesetzt.
Der Roman teilt sich in mehrere Erzählebenen auf. Die Rahmenhandlung wird aus der Perspektive einer jungen Pariser Verlegerin erzählt, die im Jahre 1975 – noch vollkommen betäubt vom Tod ihrer Mutter – Kondolenzschreiben durchsieht. Bei einem Brief verspürt Camille sofort eine Neugier: „Der Umschlag hatte meine Aufmerksamkeit geweckt, noch bevor ich ihn öffnete.“ Auf der nächsten Seite wechselt nicht nur die Schrift, sondern auch die Perspektive. Der unbekannte Briefschreiber heißt Louis und erzählt von Annie, einem Mädchen, das „zwei Jahre minus einige Tage“ jünger war als er und das ihm viel bedeutet hat. „Ich habe sie geliebt, wie ein Kind liebt, das heißt, im Beisein der anderen. Ich kam gar nicht auf den Gedanken, mit ihr allein zu sein, ich war noch nicht im Alter für die Zweisamkeit. Ich liebte sie, um zu lieben, nicht um geliebt zu werden. Es genügte, Annie zu treffen, um mich froh zu machen.“ So oft es geht, sucht er ihre Nähe, informiert sich sogar über die Malerei, da Annie leidenschaftlich gern malt. Auf diese Weise möchte er ihr nah sein und Zeit mit ihr verbringen. Was weder Louis noch Annie zum Zeitpunkt ahnen: Ausgerechnet dieses Hobby wird der Ausgangspunkt eines Dramas. Louis beschreibt es so: „Wenn Annie nicht so gern gemalt hätte, wäre das alles nicht geschehen.“
Camille verliert sich zunehmend in dieser Geschichte. Voller Ungeduld wartet sie auf die weiteren Briefe, die stets an einem Dienstag eintreffen. Sie glaubt, dass sich hinter dem Verfasser ein Autor verbirgt, der ihr sein Manuskript auf diesem Wege anbieten will: „Das Schreiben hatte eindeutig was Literarisches.“ Aber ist es wirklich so? Hat die Geschichte nichts mit ihr zu tun? Und was hat es mit der Madame M. auf sich, die plötzlich in Louis Erzählungen auftaucht? Sie ist es, die wie Annie die Malerei liebt und sie eines Tages zum Tee bei sich einlädt. Madame M. ist eine junge wohlhabende Frau, die mit ihrem Mann in das L’Escalier, ein schönes altes Herrenhaus zieht und für Unruhe sorgt: „Als das Ehepaar dort einzog, war es wie ein Gewaltakt. Alle fühlten sich durch das Eindringen dieser Fremden beraubt. Alle außer Annie, die sich über die Gelegenheit freute, neue Bilder zu schaffen.“ Zwischen Madame M. und Annie kommt es zu einer zaghaften Annäherung, aus der sich eine Freundschaft entwickelt. Alles wäre so schön, wäre da nicht der Kummer, der Madame M. bedrückt. Eines Morgens blickt Annie hinter die dunkle Fassade der Madame M. Ich höre ein Glas zerspringen, so eindringlich schlägt sich das Ereignis nieder. Die eine Frau offenbart der anderen ihren Schmerz und entzündet damit eine wahnsinnige Idee, die mir jetzt noch eine Gänsehaut beschert.
Hélène Grémillon webt ein Spinnennetz, in dem ich festhänge. Ich bin ihre Beute und ihr vollkommen ausgeliefert. Zu ergreifend ist das Abkommen zwischen Annie und Madame M., das zunehmend alles vergiftet. Aus Freundinnen werden Feindinnen. Zu mitreißend empfinde ich die Liebesgeschichten, die sich mir offenbaren. Hier zeigt sich die Kunstfertigkeit der Autorin, die mit unerwarteten Wendungen so sehr überrascht, dass der Atem stockt.
Hélène Grémillon erzählt mit einer sehr eleganten Feder eine unglaublich klug ausgefeilte Geschichte, die vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkrieges spielt. In den Wirren des Krieges, in dem die Not und das Elend am größten ist, verlieren sich Grémillons Protagonisten in ihrer eigenen Welt. Sie sind Gefangene ihres Schicksals, vor allem Annie, die die größte Last zu tragen hat. So grausam das Geschehen ist, so schön ist die Sprache der Autorin, wundervoll poetisch. Manche Sätze sind wie Seide, die die raue Fläche mit einer Feinheit überziehen. Zwischen all dem Zerbrechlichen wütet das Drama bis zum Schluss. Es bleibt kaum Zeit, Luft zu holen und sich zu entspannen. Immer dann, wenn ich glaube, die Antwort in den Händen zu halten, schnappt Hélène Grémillon zu. Sie ist wie eine Spinne – grausam und wichtig zugleich.
Hélène Grémillon.
Das geheime Prinzip der Liebe.
Februar 2012, 255 Seiten, 19,99 €.
Hoffmann und Campe.