Fortan denke ich beim Kaffeetrinken auch immer ein wenig an die mutigen Frauen von Sarajevo. Sie werden mich daran erinnern, wie gut er schmecken kann, wenn man seinen Geist in die Gegenwärtigkeit taucht. »Die Gedanken stehen still, ruhen sich aus, gönnen dem Kaffeetrinker einen tieferen Atem. Es ist die Versenkung in den Augenblick, die sie diese Erfahrung machen lässt. Ob das der Grund ist, warum der Kaffee in Sarajevo so gut schmeckt?« – Ich habe lange überlegt, wie ich meine Besprechung zu »Mein weißer Frieden« von Marica Bodrožić beginnen soll und mich für die Frauen von Sarajevo entschieden, weil sie mich berührt und zutiefst beeindruckt haben. Ich habe geweint, später die Tränen weggelacht und diesen besonderen Moment mit jeder Fingerspitze gespürt. Frauen von Sarajevo – euch gebührt der Anfang meiner Rezension wie auch die Widmung der Autorin.
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Mehr als nur ein Krimi.
Oliver Bottini hat sich mit seinem neuen Krimi „Der kalte Traum“ was Großes vorgenommen. Einerseits taucht dieses Mal nicht seine beliebte Kommissarin Louise Bonì auf. Andererseits widmet er sich einem jüngeren Teil europäischer Geschichte und verknüpft dabei verschiedene Menschenschicksale miteinander.
Idyllisch und poetisch beginnt das Geschehen, ganz vertraut im Bottini Stil. Von „rotgoldenen Wäldern“ und einem „sanftmütigen Tal“ ist die Rede. Nur wenige Atemzüge und ich lehne mich entspannt zurück, bis ein kalter Wind durch die Seiten fegt, der mich aufhorchen lässt und die Ruhe zur Seite schiebt. Es ist der Fremde, der die Landschaft beobachtet. Da gehen meine Alarmantennen ganz automatisch an, so wie er das Tal bei Rottweil in Augenschein nimmt. Saša Jordan sucht Thomas Ćavar.
Mehrere Kilometer nordöstlich bittet Richard Ehringer seinen Neffen, ein Berliner Kommissar, nach Thomas Ćavar in den Datenbanken zu suchen. Und in Zagreb stößt die engagierte Journalistin Yvonne Ahrens auf ein Kriegsbild vom Kapetan. Hinter dem Namen soll sich kein anderer als Thomas Ćavar verbergen, ihr Jagdinstinkt ist geweckt. Woher kommt plötzlich das Interesse an einem Mann, der vor 15 Jahren im Bosnienkrieg gestorben sein soll? Eine Frage, die über allem schwebt und eine Hetzjagd nach sich zieht.
In verschiedenen Handlungssträngen verfolge ich die Suche und bewege mich zwischen dem Gestern und dem Heute. So begegne ich im Jahre 1990 dem jungen Thomas. Damals, als alles noch in Ordnung war. Glücklich umschleicht er wie ein Hund seinen neuen Ford Granada 2.0. und kann es kaum erwarten loszufahren. Hat er sich doch „ein Jahr und sieben Tage“ darauf gefreut. Unbeschwert genießt Thomas mit seiner Freundin Jelena die Autofahrt: „Der warme Fahrtwind, die Musik, Jelenas Hand auf seinem Schenkel, so konnte das Leben bleiben.“ Doch das wird es nicht. Wenige Stunden später brodelt es im heimischen Wohnzimmer, der Vater bringt es auf den Punkt: „Sie stehlen uns die Heimat!“ Der Blick wandert nach Kroatien, wo einige Tage zuvor „Serben Straßen- und Schienensperren errichtet und eine kroatische Polizeistation geplündert“ wurde. Zu diesem Zeitpunkt nimmt Thomas den Konflikt mit jugendlichem Leichtsinn hin, träumt mehr von einer romantischen Nacht mit seiner Liebsten, interessiert er sich nicht für Politik und Heimat. Noch nicht. Nur wenige Monate später sollte sich das ändern, als er der persönliche Chauffeur von Josip Vrdoljak, dem Mitbegründer der Kroatischen Demokratischen Gemeinschaft (HDZ) wird.
Im Oktober 2010 erfährt unterdessen der Kommissar Lorenz Adamek bei seinen Recherchen, dass sich auch andere nach Thomas Ćavar erkundigen, wie Ivica Markoić, ein Vertrauter Tuđmans. Das verrät ihm sein Onkel, ein ehemaliger hochrangiger Politiker. Er ist es auch, der den Kommissar nicht nur die Hintergründe über den Krieg in Osteuropa näher erläutert, sondern ihn auf eine zweite Möglichkeit bringt, die da lautet: „Keine Leiche. Kein Grab.“ Denn wer interessiert sich schon für einen Toten?
Die Lektüre setzt mehr Wissen über den Balkankonflikt heraus, als ich angenommen habe. Oliver Bottini fordert mich. Er schickt mich durch den jüngeren Teil europäischer Geschichte, der mir durchaus bekannt, aber nicht immer hundert Prozent vertraut ist. Es tauchen Namen und Abkürzungen wie Tuđman, Operation „Sturm“, ICTY sowie politische Hintergründe auf. Einige Lücken stoppen meinen Lesefluss, aber ich bin da nicht die Einzige, wenn ich zu Adamek schaue: „Er wusste nicht viel über Kroatien und diesen dummen, grauenhaften Krieg.“ Gott sei Dank gibt es ein umfassendes Glossar, in dem ich wichtige Namen nachlesen und aufkommende Fragezeichen wegwischen kann. Der Autor hat viel Zeit in sein Werk investiert und gewissenhaft recherchiert, das merke ich mit jeder Seite mehr. Dabei zieht er den Vorhang auf und öffnet mir den Blick hinter die Kulissen. Ich erspähe die politischen Machenschaften und die Konflikte zwischen den Volksgruppen, den Hass aufeinander und das Blutvergießen. Oliver Bottini verdeutlicht in seinem Krimi genauso das Schicksal der unabhängigen kroatischen Journalisten, die Licht in das Dunkel bringen wollen und immer wieder zum Schweigen gebracht werden, nicht selten sogar ihr Leben verlieren müssen. „Wer kroatische Kriegsverbrechen recherchiere, begebe sich in Gefahr.“ Den Journalisten hat er seinen Krimi gewidmet und damit ein Denkmal gesetzt.
Oliver Bottini ist ein großer Roman gelungen, wenngleich ich natürlich gestehen muss, dass mir Louise Bonì ein bisschen gefehlt hat. Ich bin eine sporadische Krimileserin, die vor allem ein Herz für eigenwillige und etwas entrückte Ermittler und Kommissarinnen hat. Der Autor konnte meine Sehnsucht trotzdem ein wenig stillen, indem er jedem seiner Protagonisten charakterstark gezeichnet und mir nahe gebracht hat wie den hin- und gerissenen Berliner Kommissar oder die engagierte Journalistin Yvonne Ahrens. Für mich ist dies kein typischer Krimi, in dem nur die Aufklärung eines Mordes im Vordergrund steht. „Der kalte Traum“ ist viel mehr ein packender und wissensreicher Politthriller in einer gut erzählten Sprache, die manchmal poetisch und manchmal unwahrscheinlich klar heraussticht. Man sollte in jedem Fall Zeit für dieses anspruchsvolle Buch mitbringen. Wer dies beherzigt, wird eindrucksvolle und spannende Lesemomente erleben.
Oliver Bottini.
Der kalte Traum.
Februar 2012, 448 Seiten, 18,99 €.
DuMont Buchverlag.
Der Blick der Eule.
Vorsicht! Téa Obreht ist eine Verführerin. Die junge Autorin nimmt dich an die Hand und zieht dich mitten hinein in ihren Roman „Die Tigerfrau“. Du kannst ihr nicht entkommen, zu faszinierend ist die Geschichte, zu vibrierend der Ton. Noch kannst du hier aufhören, weiter zu lesen, noch steht dir alles frei. Doch wenn du den Worten folgst, kann ich für nichts garantieren.
Den Roman umgibt von Anfang etwas Mystisches, als wenn mir eine Eule mit ihren großen Augen ins Gesicht blicken würde. Dieser geheimnisvolle Schein verwundert nicht, denn die Autorin baut gerade auf einer zweiten Ebene nebulöse Erzählungen ein. Schnell begreife ich: Téa Obreht ist nicht nur eine Verführerin, sondern auch eine Meisterin des Fabulierens.
Die Autorin verknüpft in ihrem Debüt zwei Geschichten miteinander, die der Ich-Erzählerin, Natalia, und die ihres Großvaters. Mit einer Freundin ist die junge Ärztin auf dem Weg zu einem Waisenhaus, das dringend Impfstoff benötigt. Da erfährt sie von der Großmutter, dass ihr Großvater verstorben ist. Nicht zu Hause, sondern in der Ferne, in Zdrevkov. Eine Stadt, die keiner kennt und selbst seine engvertraute Enkelin, weiß nicht, was ihn dort hintrieb. Hatte er sie doch stets in so vieles eingeweiht, wie in seine Erkrankung.
Es sind vor allem die Erzählungen des Großvaters, die dem Roman eine Sogwirkung verleihen. Sie sind die Quintessenz, die goldenen Mitte, die schillernd hervorschimmert. Aus dem Mund der Ich-Erzählerin klingt das dann so: „Alles, was nötig ist, um meinen Großvater zu verstehen, liegt zwischen zwei Geschichten: die von der Tigerfrau und die von dem Mann, der nicht sterben konnte.“
Genau dorthin entführt mich die Ich-Erzählerin, indem sie die Lebenslinie ihres Großvaters entlangläuft, von der Kindheit bis zur Gegenwart. Ich folge dem Tiger, der in den Wirren des Kriegs 1941 aus der Zitadelle flieht, bis er schließlich etliche Kilometer von der Hauptstadt entfernt im Dorf des Großvaters ankommt. Als der Hirte ihn „während eines Schneesturms Ende Dezember auf dem Galina-Kamm oberhalb des Dorfes“ entdeckt, glauben ihn die anderen nicht, so sehr er auch mit den Armen rudert und vom Teufel spricht, der nach Galina gekommen ist. Der Großvater sieht im Teufel mit dem orangefarbenen Fell und Streifen Shir Khan, dem Tiger aus dem Dschungelbuch.
Alle fürchten sich vor dem wilden Tier, bis auf ein taubstummes Mädchen. Die Fremde, mit der Luka nach Galina zurückkehrte. Bald wird sie die Tigerfrau genannt, wobei es im Original The Tiger’s Wife lautet. Ein Titel, der treffender ist. Das Mädchen hat zum Tiger eine besondere Beziehung, sie ist es, die ihn in der Räucherkammer mit einem Stück Fleisch erwartet. Als der Großvater eines Abends von der Neugier angetrieben in der gleichen Kammer auf den Tiger trifft, versteckt er sich unter einer Plane und entkommt dem Tier. Das taubstumme Mädchen eilt zu ihm, befreit ihn von der Plane, als er bemerkt: „Ihre Hände, mit denen sie ihm über das Gesicht strich, rochen stark nach Tiger, nach Schnee, Kiefern und Blut“. Hier wie auch an anderen Passagen schiebt sich sanft eine Ahnung in das Bild, der Blick wandert zur Autorin, doch sie schweigt und lässt mir Raum, meine eigenen Vermutungen auszumalen.
Besonders nah tastet sich die Autorin an die Menschen heran, durchleuchtet ihre Wesen und erzählt lebensnahe bewegende Geschichten. Sie gräbt sich bis in die tiefsten Schichten und bleibt in alldem so menschlich, nicht verurteilend. Viel mehr möchte sie sagen: Alles hat seinen Ursprung. Schaut auch hinter die Fassaden eines Hauses, bevor ihr über den Schmutz schimpft. Während ich noch die Menschenschicksale und das gestreifte Fell des Tigers vor den Augen spüre, erscheint der Mann, der nicht sterben konnte. Er ist der Neffe des Todes und trifft in verschiedenen Situationen auf den Großvater. In den Dialogen der beiden tobt sich der Schalk richtig aus, der Ernst verdrückt sich in die Ecke, auch wenn es eigentlich wenig zu lachen gibt, geht es doch um den Tod. Anfangs sind die Stellen mit dem Mann, der nicht sterben konnte, schon leicht befremdlich, aber im Laufe der Zeit gehören sie genauso dazu wie der unbesiegbare Tiger, der wie eine Legende weiterlebt und sich durch die Geschichte fortbewegt.
Téa Obreht wurde 1985 in Belgrad geboren und lebt seit ihrem zwölften Lebensjahr in den USA. Mit ihrem Roman kehrt sie zurück in ihre Heimat. Sie hält sich bedeckt, hat die Orte mit anderen Namen versehen, aber Schauplatz ist das ehemalige Jugoslawien, das ahne ich schnell. Der Krieg ist allgegenwärtig, damals beim Großvater und Natalia erlebt ihn selbst. „Der Krieg begann leise, fast unmerklich, nachdem wir ein Jahrzehnt lang am Abgrund gelebt und darauf gewartet hatten, dass er anfing.“ Die junge Autorin hat ein eindrucksvolles Buch geschrieben und wurde zu Recht im vergangenen Jahr mit dem „Orange Prize for Fiction“ ausgezeichnet. Es glänzt nur so vor Leben und Menschen, ist reich an unzähligen Geschichten. Ich wollte nicht aufhören, zu lesen und habe mich verloren zwischen dem umher streifenden Tiger und dem Mann, der nicht sterben konnte. Dazwischen eine junge Frau, die sich auf die Spuren des Großvaters begibt und mich mitgenommen hat auf eine Reise, die ich nicht beenden wollte.
Téa Obreht.
Die Tigerfrau.
März 2012, 416 Seiten, 19,95 €.
Rowohlt Berlin Verlag.