Ob Baba Dunja und Lucia Binar gute Freundinnen wären? Ganz bestimmt! Verbindet sie doch, dass sie beide starke Frauen und beeindruckende Romanheldinnen sind, die zwischen den Buchdeckeln ein selbstbestimmtes Leben führen. Alina Bronskys »Baba Dunjas letzte Liebe« und Vladimir Vertlibs »Lucia Binar und die russische Seele« sind äußerst mitreißende, herrlich unterhaltende Bücher mit viel Witz zwischen den Zeilen. Beide Bücher haben es auf die diesjährige Longlist des Deutschen Buchpreises geschafft, leider blieb die Tür der Shortlist für sie verschlossen. Aber natürlich ist Vladimir Vertlibs Roman trotzdem eine Rezension wert. Oder besser: gerade deswegen!
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Ein Klassiker, neu ins Bild gesetzt.
Was passiert, wenn man einen Klassiker in ein neues Gewand steckt? Im Fall von Stark wie der Tod von Guy de Maupassant etwas ganz Besonderes. Der Berliner Künstler Jim Avignon hat ein Buch aus dem vorletzten Jahrhundert im Stile des 21. Jahrhunderts kongenial in Szene gesetzt. Herausgekommen ist ein literarisches Kunstwerk, das in der Edition Büchergilde anlässlich des 120. Todestages von Guy de Maupassant in vergangenen Jahr erschienen ist.
Heiter bis wolkig.
Ich habe mich verliebt. Wieder einmal hat mich David Foenkinos verzaubert und mir mit seinem neuen Roman „Souvenirs“ besondere Lesestunden geschenkt, in denen ich das Gefühl hatte, zu fliegen und die Sonne im Herzen zu tragen, (auch wenn zum Schluss ein unerwarteter Regenschauer auf mich niederging).
Wie bereits in „Nathalie küsst“ konfrontiert mich der französische Autor auch dieses Mal mit den Schattenseiten des Lebens. Gleich zu Beginn berichtet der Ich-Erzähler vom Tod seines Großvaters. Zunächst nimmt ihn der Tod sehr mit, bald hingegen löst sich die dunkle Wolke auf und das Leid verschwindet, bis er seine trauernde Großmutter besucht. Er spürt ihre Leere und Hoffnungslosigkeit: „Ihre Welt war mit dem Tod meines Großvaters zusammengebrochen. Was konnte ihr einen Anreiz geben, sie wieder aufzubauen?“ Von diesen nachdenklichen Worten gibt es zahlreiche. Seine Art durchs Leben zu laufen, aufmerksam denkend und träumerisch wandelnd, setzt in mir einiges in Bewegung. Ich möchte mit ihm im Hotel sitzen, in dem er als Nachtportier arbeitet. Ich möchte ihm auf die Schulter klopfen und sagen, dass er seinen Weg schon finden wird. Jetzt schwimmt er noch im Ungewissen, findet dafür im Schreiben Halt und wünscht sich, Schriftsteller zu sein. Eine konkrete Romanidee hat er allerdings noch nicht, die schlummert in den Tiefen seiner Seele. Wird er sie aufspüren?
Eine weitere große Rolle in dem Roman spielt das Alter, ein Lebensabschnitt, in dem die Zukunft zu einem kleinen Punkt zusammenschrumpft und die Vergangenheit die Größe eines Fußballfeldes hat. So ergeht es der Großmutter, sie ist gefangen, im Nichtmehrganzkönnen und dem Nochwollen. Nachdem sie in der Wohnung hingefallen ist und sich verletzt hat, kommt sie widerwillig in ein Altenheim, in das sie aber eigentlich nicht hingehört, lauscht man den Worten ihres Enkels: „Entweder sah meine Großmutter noch so jung aus, oder die Leute hier gingen schon auf die hundert zu. Das war kein Altenheim in dem Sinne, dass sich Menschen im Alter aus dem Berufsleben zurückzogen und zur Ruhe zu setzen, das war ein Sterbeheim.“ Nicht nur seine Großmutter beschäftigt den Ich-Erzähler. Seine Eltern sind Verlorene, die sich jetzt im Ruhestand zunächst wiederfinden müssen. Während der Vater mit einer inneren Leere kämpft, zieht es die Mutter in die Ferne.
David Foenkinos trägt mich erneut mit seiner leichten Art durch die Geschichte, die an einigen Stellen mit schweren Steinen besetzt ist. So fühlt sich das Ausmaß der Dramen nur halb so schlimm an, nicht wie ein Orkan, eher wie ein Windstoß, der kurz das halbgeöffnete Fenster aufspringen lässt. Er überrascht mich wieder mit kleinen Nebensächlichkeiten wie seinen unaufdringlichen Fußnoten und den Erinnerungen bedeutender und ganz normaler Menschen. Die schieben sich in kursiver Schrift zwischen die einzelnen Kapitel und zeigen auf diese Weise nicht nur Lebensstücke von allen Beteiligten des Romans – selbst von den Nebenfiguren -, sondern auch von Persönlichkeiten wie Patrick Modiano, Francis Scott Fitzgerald oder Serge Gainsbourg. Doch letztlich überwiegt für mich eine tiefe Verbundenheit mit dem Ich-Erzähler, den ich ins Herz geschlossen habe. David Foenkinos hat einen sehr symphatischen und liebenswerten Helden erschaffen, den ich nur lieben kann. Mit anderen Worten: Foenkinos löst die Distanz zwischen dem Protagonisten und mir auf. Wir reichen uns die Hände, spüren eine vertraute Nähe und in mir geht die Sonne auf.
„Souvenirs“ wäre perfekt, wenn er sich für mich auf den letzten Metern nicht drehen würde. Zum Ende hin zieht Foenkinos seinen Roman wie einen Reißverschluss auf und vor meinen Augen schlüpft das Unerwartete heraus und schleicht davon. Der Geschichte wird jede Überraschung entzogen, wobei der Plot für mich an Kraft verliert, weil alles vorhersehbar wird, viel anders als auf den Seiten zuvor. Regen prasselt auf mich nieder und ich rutsche nach meinen Luftsprüngen aus. Plötzlich fällt das Funkeln aus meinen Augen und die ganze Szenerie schmeckt wie abgestandener Kaffee. Mein Puls verläuft wieder in ganz normalen Bahnen und ich sehne mich nach der Sonne. Aber vielleicht sind das nur meine eigenen Erwartungen, die nicht erfüllt worden sind und euch ergeht es da anders. Und ehrlich gesagt, mag ich den Roman immer noch sehr, zu besonders waren die vorangegangen Seiten, die überwiegen. Ich werde die schönen Erinnerungen weiterhin in meinem Herzen tragen und lächelnd an die Momente zurückdenken, in denen die Sonne in mir aufging, trotz des Regenschauers.
David Foenkinos.
Souvenirs.
Juli 2012, 332 Seiten, 17,95 €.
C.H. Beck.
Die langsame Reise des Alterns.
So ist es wohl, wenn sich das Alter zwischen die Zeilen setzt und mit der Langsamkeit eine warme Tasse Tee trinkt. Die Zeit verliert an Tempo und kriecht wie ein Wurm voran. Da kann das Schnelle noch so laut an die Tür klopfen, es passt einfach nicht in diese gesellige Runde. Ob sich das Gabriele Weingartner beim Schreiben ihres Romanes „Villa Klestiel“ gedacht hat? Selten habe ich ein Buch so langsam gelesen, nicht etwa, weil es mich nicht packen konnte. Nein, es war die besondere Eigenart, die der Geschichte innewohnt.
Die Rahmenhandlung spielt in einer Berliner Villa. Ihre Bewohner haben sie nach dem Eigentümer benannt, dem sie das Haus abgekauft haben. Samuel Klestiel hatte das Gebäude zwischen 1906 und 1908 erbauen lassen. Es ist kein besonderes Meisterwerk geworden, „aber immerhin nah am See gelegen und mit einem Türmchen versehen, in dem jetzt Mäuse und Spinnen hausten, weil zur Renovierung das Geld gefehlt hatte.“ Nun beherbergt die Villa Klestiel eine Handvoll Menschen, die nicht allein alt werden wollen. Bunt ist die Mischung: Lehrer, Juristen, Schauspieler, Kritikerinnen und Witwen. Vielfältig sind die Charaktere – und genau hier liegt der Spannungsbogen der Geschichte, eine pulsierende Ader. Die verschiedenen Lebensschicksale, denen die Autorin Raum bietet und mich als Leserin direkt daran teilhaben lässt. Ich stehe nicht draußen, sondern hocke in ihren Köpfen, sammle die Gedanken und Gefühle ein, bin bewegt und amüsiere mich bisweilen. Bei einigen runzle ich zunächst die Stirn, weil sie mir auf dem ersten Blick etwas unsympathisch sind. Bei anderen fällt mir ein Lächeln aus dem Mund. Ich denke an die eigensinnige Kritikerin Leonor Zierer, die ständig friert und sich aus einer Trotzhaltung keine warmen Hauspantoffeln bestellt hat, dafür aber zwei herumstreuende Jugendliche in ihre Wohnung hineinlässt, Tim und Struppi nennt sie die Hausgemeinschaft schon bald. Mit Hinblick auf den Lebenslauf der Autorin, Kulturjournalistin und Literaturkritikerin, macht sich gerade bei der Person eine besondere Nähe bemerkbar.
Schwer hingegen wiegt das Schicksal von dem Ehepaar Lichtblau, dem ich an der Stelle nicht vorgreifen möchte. Wie in jeder Gemeinschaft gibt es mindestens einen Außenseiter, einen Querdenker, der Unruhe stiftet. Xaver Brandis, ehemaliger Diplomingenieur, fühlt sich unter den Intellektuellen – wie er sie selbst nennt – unwohl, meidet sie und hält sie unbewusst mit seiner Leidenschaft für würzige Käsesorten auf Abstand. So suspekt ihn die Zeitung lesenden Mitbewohner auch sind, insgeheim gehört er mehr zu ihnen als er selbst glauben mag. Brandis entdeckt auf seine alten Tage selbst die Kunst des Fotografierens. Er verliert sich in seinen Motiven, jagt ihnen hinterher, sein Herz erwacht und atmet Gedanken aus, die für ihn früher undenkbar gewesen waren. Im weiten Feld der Natur begegnet er der Melancholie, schaut ihr in der einsamen Schneelandschaft ins Gesicht und spürt eine Tiefe wie er sie früher nie erlebt hat: „Ja doch, anfänglich freute es ihn, dass er traurig war und lange nicht wusste, warum.“ Solche Momente lassen mich für einige Sekunden stehen. Und in dem unruhigen Strudel der mitmenschlichen Begebenheiten ist die Schreibkraft Frederika eine Konstante, an der sich einige gern festhalten. Der gute Geist des Hauses kümmert sich um die Steuererklärungen ihrer Schützlinge oder gibt praktische Tipps. Doch auch Frederika ist nicht gefeit vor eigenen Träumen und Problemen.
„Villa Klestiel“ gehört mit 238 Seiten nicht zu den üppigsten Büchern, doch es hat das Gewicht von einem Wälzer. Was auch daran liegen mag, dass die Autorin einen eigenwilligen Schreibstil hat. Nicht so einer, den man eben schnell auf dem Weg zur Arbeit in der Bahn weg liest. Viel mehr erdet das Buch, verscheucht das Schnelle und ist angenehmes Futter für ein anspruchsvolles Leseerlebnis. Gabriele Weingartner fordert die Konzentration ihrer Leser, wer die nicht mitbringt, verliert den Faden, doch diesen sollte man hüten wie ein Geheimnis. Es wäre zu schade, die Puzzleteile zu übersehen, die sich zwischen den einzelnen Wörtern verstecken. Dem Buch wohnt eine versteckte Dynamik inne, nicht auch zuletzt durch die Wendungen und Bewegungen zwischen den Bewohnern, der ich gern langsamen Schrittes gefolgt bin.
Neben den Menschen schiebt sich das Alter immer wieder in den Vordergrund. Vorsichtig hupend fährt es an mir vorbei, zeigt Leiden und Sorgen genauso wie Erfahrungen und lang gehegte Sehnsüchte, denen noch nicht nach Schlafen zumute ist. Manche Dinge lassen sich eben nicht ganz ersticken. Die Einsamkeit gehört ebenfalls dazu. Selbst eine Gemeinschaft kann sie nicht vertreiben, das wird an den Protagonisten klar sichtbar. So strampeln die Bewohner der Villa Klestiel im Netz, jeder sucht für sich den eigenen Ausweg und das stille Glück des Alters, was darauf wartet, entdeckt zu werden. Das Buch ist ein kluger Wegweiser durch diese Phase, selbst für so junge Geister wie mich, die auch mal einen Schritt langsamer lesen können.
Gabriele Weingartner.
Villa Klestiel.
September 2011, 238 Seiten, 19,80 €.
Limbus Verlag.
Der feine Charme der Franzosen.
Keiner beherrscht das Genre der Komödie besser als die Franzosen. Sie unterhalten auf besondere Weise, weil sie melancholisch und komisch zugleich sind. Man kräuselt die Nase, streicht mit dem Finger über die juckende Stelle und bleibt kurz stehen, um nur wenige Minuten später zu lächeln. Ich mag den feinen französischen Charme. Wie schön ist es für eine Leseratte, wenn man so ein Ereignis auch in einem Buch findet. Caroline Vermalle ist das gelungen. Sie hat meinen Fernseher ausgeschaltet und gesagt: „Komm mit, ich erzähle dir eine Geschichte, bei der du all das erleben wirst.“
Als ich „Denn das Glück ist eine Reise“ in den Händen hielt, war ich voller Vorfreude auf das kleine, lilafarbene Buch. Auf dem Cover fährt ein Auto an einem Feld vorbei und sieht dabei einfach liebenswert aus, dass ich sehr neugierig anklopfte. Charles und Georges haben mir die Tür geöffnet und ich bin dazu gestoßen. Die älteren Herren brechen zur Tour de France auf, eine außergewöhnliche Reise. Die beiden sind große Fans dieses sportlichen Ereignisses und wollen die Strecke mit dem Auto abfahren, weil man im hohen Alter eben nicht mehr über die Fitness verfügt, die solch eine Tour mit dem Rad fordert. Während Charles das Okay seiner Frau hat, hadert Georges, als eines Tages seine Enkelin anruft. Er freut sich und spürt neue Lebensgeister in sich, denn Adèle hat sich lange Zeit nicht bei ihm gemeldet. Ungünstig ist nur, dass Georges nun nicht weiß, wie er die geheime Reise unternehmen soll. Seine Tochter ist für zwei Monate weit weg im Urlaub und würde davon nichts mitbekommen, da sie dort kein Telefon hat. Doch eine Lösung ist ganz bald in Sicht: Das Handy. Da kann man nicht nur Anrufe umleiten, sondern auch Kurzmitteilungen schreiben. Die neue Welt rettet die Reise der älteren Herren.
Ehe ich mich also versah, saß ich im Auto und bin die Tour de France mitgefahren. Es war eine bemerkenswerte Reise, bei der ich viel geschmunzelt habe, aber auch nachdenklich war, weil der jugendliche Abenteuergeist manchmal auf das Gewicht des Alters trifft. Beide haben Päckchen zu tragen, an denen man nicht schnell vorbei liest. Viel mehr bewegte sich etwas im Herzen, ich war berührt und blieb stehen. Plötzlich lag dort ein großer Stein, der sich seinen eigenen Weg gesucht und gefunden hatte, doch bevor der alles erdrückte, kehrte eine Leichtigkeit zurück, die mich vor dem Stolpern bewahrte.
Caroline Vermalle schreibt sensibel und mit einer humorvollen Note, die auf ihre Weise berührt. Das Buch liest sich schnell weg, hat aber genug Gewicht, um am Ende eindrucksvoll im Kopf zu bleiben. Dies ist eine Geschichte über Liebe, Glück, Alter, Krankheit und all die anderen Dinge, die nur Franzosen gut dosiert in eine Handlung packen können, ohne dass es zu viel ist. Sollte ich jemals die Strecke abfahren, werde ich an Georges und Charles denken.
Caroline Vermalle.
Denn das Glück ist eine Reise.
April 2011, 224 Seiten, 10,- €.
Bastei Lübbe.