
Was kann Literatur? Was darf Literatur? Zwei Fragen, die nach der Lektüre der beiden aktuellen Romane von Cormac McCarthy unmittelbar auftauchen. Denn Der Passagier und Stella Maris sprengen den üblichen Rahmen zeitgenössischer Literatur, wie wir sie aus den heutigen Feuilletons und Bestsellerlisten kennen.
Ein Protagonist, dessen Schicksal es zu sein scheint, Flugzeugwracks zu entdecken, in denen sich noch die Leichen der Passagiere befinden. Eine junge, hochbegabte Frau, die seit Kindheitstagen weiß, dass sie anders ist als alle anderen. Sehr anders.
Nicht zu vergessen: Es sind Geschwister, die sich – im wahrsten Sinne des Wortes – unsterblich ineinander verliebt haben.
Und dann wäre da noch dieser Zwerg, der eine nicht unwichtige Rolle spielt. Meistens taucht er zusammen mit einer Showtruppe auf, die unter anderem Minstrel Shows aufführen. Ja, da sind die mit dem Black Facing.
Sagen wir´s so: Sowas würde heutzutage jeder Agent, jeder Lektor und jeder Verlag empört ablehnen. Außer, du bist Cormac McCarthy, der diesen Wahnsinn mit fast neunzig Jahren geschrieben hat. Wofür wir ihm nicht dankbar genug sein können.
Der Wahnsinn unseres Daseins.
Es ist nicht nur der Wahnsinn, der dieses Mädchen mit zwölf Jahren befallen hat, es ist der ganze Wahnsinn unseres Daseins, diese Vergeblichkeit auf der ewigen Suche nach Glück, dieser unbedingte Wille, es zu Etwas zu bringen, den ja bereits Schopenhauer als große Tragik des Menschen beschrieben hat. Was immer dieses Etwas auch sein mag. Von Aristoteles bis Habermas haben sich die schlauesten Köpfe dieser Welt an dieser Frage versucht und uns Schriften hinterlassen, die das Nachdenken über das Leben befeuern. Aber es ist, wie es ist: Du wirst nicht gefragt, ob du auf diese Welt kommen möchtest und hast auch selten Mitspracherecht, wenn´s um dein Ende geht. Außer, in dir wächst eine fulminante Todessehnsucht heran. Wie bei Alicia.
Fragt die Tante das zwölfjährige Mädchen: Was möchtest du mal sein, wenn du groß bist? Alicia antwortet präzise: Tot. Vielleicht verständlich, wenn Schizophrenie, Synästhesie und Hochsensibilität in einem einzelnen Menschen aufeinandertreffen.
Bleiben wir erstmal bei den großen Namen. Neben Schopenhauer, Platon und Freud tauchen auch Jung, Einstein und Oppenheimer auf. Dazu bekannte Mathematiker wie Whitehead, Russell (der später zu den Philosophen wechselte) und Gödel. Alicia Western lässt die Namen von hochrangigen Wissenschaftlern wie andere die Namen von Schulfreunden aus ihrem Mund perlen. Wobei sie nie Freunde hatte. Und auch eher nicht haben wollte.
Die Liebe zu den Zahlen.
Fast genauso intensiv wie sie ihren Bruder liebt, liebt sie Zahlen. Und deren Schönheit, ihre Geheimnisse und die Herausforderungen, diese zu lösen. Wobei es bis zu einem gewissen Punkt, und der ist sehr, sehr hoch angebracht, ihr spielend gelingt. Sie überspringt in der Schule mehrere Klassen, kommt frühreif auf die High School und kann sich danach vor Stipendien kaum retten. Natürlich nur bei den berühmtesten Gelehrten – die seinerzeit zu 99 % Männer waren – und gern gleich in Übersee.
Die Intelligenz lag in der Familie, vererbt sozusagen. Mutter und – vor allem – der Vater waren am Manhattan-Projekt beteiligt. Die Atombombe. Little Boy und Fat Man. Hunderttausende Tote. Nicht nur in Japan. Auch die Eltern sterben an Krebs.
Und beide Kinder kommen damit nicht klar. Weder mit ihrem Tod, noch, was die Eltern zu Lebzeiten getan haben. Die Welt in die Luft jagen. Beide eint diese Bürde, dass die Eltern an der Entstehung der übelsten Massenvernichtungswaffe beteiligt waren.
Also Übersee – Frankreich, Italien! Da, wo Bobby Western, der es als Mathematiker nicht über eine gewisse Mittelmäßigkeit hinausschaffte und Physiker wurde, denen man einen Hang zu gefährlichen Hobbys nachsagt, sich einen Rennwagen bei Colin Chapman kauft, um in der Formel-2 zu starten.
Colin Chapman? Weder Mathematiker, noch Philosoph, trotzdem ein Genie als Konstrukteur von superschnellen Rennwagen, die allerdings auch immer supergefährlich waren, weil er, um sie superschnell zu machen, gern ein paar – in seinen Augen unwichtige – Teile wegließ oder nur rudimentär konstruierte. Nebenbei entstanden legendäre Straßensportwagen wie der Europa oder der Esprit. Letzterer konnte sogar unter Wasser fahren. Zumindest bei James Bond.
Hochphilosophisch und schräg zugleich.
Es ist dieses beiläufige Nebeneinander von Hoch- und Populärkultur, von hochphilosophischen Gesprächen und schrägen Bardialogen, das dieses Werk auszeichnet. Auch, wenn es sich um zwei Romane handelt, sollten sie beide als ein Werk gesehen werden. Sie gehören zusammen wie Alicia und Bobby.

Eine stringente Erzählweise braucht McCarthy jedoch nicht, um Spannung zu erzeugen. Ja, Der Passagier mag noch als narrative Geschichte durchgehen, wobei sie mit dem Ende von Stella Maris beginnt. Was wiederum kein Roman im herkömmlichen Sinn ist, sondern eine Abfolge von Therapiegesprächen, die Alicia Western in einem psychiatrischen Krankenhaus, der Klapsmühle, mit Therapeuten führt. Ihrer letzten Station mit dem poetischen Namen Stella Maris. Mutter Gottes! Würde der Zwerg sagen.
Seien wir ehrlich – wir haben´s hier mit einer literarischen Herausforderung zu tun. Das ist wohltuend und erkenntnisreich zugleich. Kunst darf nicht schmeicheln, sie dient, so sie denn relevant sein will, dem Geist und hat ihn zu fordern. Nichts ist langweiliger als die Beschäftigung mit Dingen und Geschichten, deren Verlauf und Ende bereits ein zehnjähriges Kind vorhersagen könnte. Klar, viele Menschen mögen das, weshalb die Blöd-Zeitung so erfolgreich ist. Oder der Konsum von einfachen Meinungen – nicht zu verwechseln mit Fakten oder gar Wahrheiten – in den sogenannten sozialen Medien.
I see the stars come out tonight.
Vielmehr geht es darum, Ungewissheiten zu ertragen. Wie im richtigen Leben auch. So ist das Flugzeugwrack, das Bobby als professioneller Taucher (ausgestattet mit Tiefenangst) inspiziert, der Auftakt zu einer Reihe von merkwürdigen Begebenheiten. Er wird mehrfach von Männern verhört, die vielleicht vom FBI kommen, vielleicht auch nicht, er fühlt sich verfolgt und flieht schließlich vor seinen Verfolgern. Obwohl titelgebend, ist diese Story nur schmückendes Beiwerk für seine Reise zum eigenen Ich. Der Passagier. Der fehlende zehnte Passagier. Nie werden wir erfahren, wer dieses Phantom ist. Ist es Bobby selbst? Wie bei Iggy Pop: I am the passenger, I stay under glass…I see the stars come out tonight. Stella Maris!

Dieses Werk ist absolut konkurrenzlos im Bereich der zeitgenössischen amerikanischen Literatur. Und es macht große Freude, die insgesamt über siebenhundert Seiten zu lesen. Immer und immer wieder. Wann gab es zuletzt so eine Fülle von fantastischen Sätzen und Dialogen? Und es kann nicht schaden, wenn ihr euch gern mit den großen Fragen des Lebens beschäftigt.
Oder wie Alicia es einem Therapeuten gegenüber formuliert: Die Welt, in der Sie leben, stützt sich auf kollektive Übereinkünfte. … Die Hoffnung ist, dass die Wahrheit der Welt irgendwie in ihrer gemeinsamen Erfahrung liegt. Natürlich sprechen die Erkenntnisse der Naturwissenschaften und der Mathematik und sogar der Philosophie ziemlich dagegen. … Man sollte sich vorsehen.
Genau. Es ist Vorsicht angebracht. Niemand kennt die Wahrheit. Schon gar nicht kommt sie in einfachen Lösungen für komplexe Fragen daher. Wem hilft der ganze Konsum? Ist ewiges Wachstum wirklich wünschenswert? Wem hilft der Wahn, der Hype ums Kinderkriegen heute – den Kindern oder den Eltern oder den Event-Leuten? Warum diese ständige Selbstoptimierung, und wer optimiert hier wen?
Seit dem Baby bist du so nett.
Lautet die Antwort am Ende doch ganz simpel 42? Oder wie ein Freund von Bobby es formuliert: Seit dem Baby bist du so nett.
Seid einfach so nett und lest dieses Werk. Es hilft. In einer Zeit, in der Kriege und Seuchen einfach nur noch Ereignisse sind.
Der Zwerg stand am Fenster und blickte hinaus in die raue Kälte. Auf den verschneiten Park und den zugefrorenen See dahinter. Tja, sagte er. Das Leben. Was soll man sagen? Es eignet sich nicht für jeden. Alicia nennt den Zwerg übrigens Contergan-Zwerg, weil er statt kleinen Händchen und Ärmchen nur Flossen am Körper hat. Und er ist nur eine Illusion. Wie so vieles im Leben.
Was kann Literatur? Was darf Literatur? Alles.
Cormac Mc Carthy – Der Passagier, Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl. Rowohlt, 528 Seiten, 28,- €
Cormac Mc Carthy – Stella Maris, Aus dem Englischen übersetzt von Dirk van Gunsteren, Rowohlt, 240 Seiten, 24,- €