Die Magie des Imaginären.

„Die ersten Wörter in einem Buch sind am Wichtigsten. Es ist die erste Begegnung, der Moment, in dem ein Leser ein Buch aufschlägt und zu lesen beginnt. Es ist wie ein erster Blickkontakt oder eine erste Berührung, und wir spüren das auch.“ Wie wahr – das kenne ich zu gut. Wenn es auf den ersten Seiten nicht funkt zwischen einem Buch und mir, dann lege ich es zurück. Bei „Die leise Last der Dinge“ von Ruth Ozeki gab es einen wahren Funkenregen. So öffne ich dieses außergewöhnliche Werk für euch und lade euch ein, mir zu folgen.

Vorab vielleicht noch das: Die Autorin ist eine waschechte Zen-Priesterin. Ich erwähne das nicht ohne Grund. Wartet ab.

Zudem wurde die Autorin für ihren Roman mit dem Women’s Prize for Fiction 2022 ausgezeichnet. Und von mir bekommt das Buch noch das Siegel Lieblingsbuch, und das nicht nur, weil ich mich dem Buddhismus schon lange verbunden fühle.

Foto: Ruth Ozeki  | © Danielle Tait

Das Cover versprüht auf den ersten Blick viel Optimismus, aber auf den zweiten wird die Doppelbödigkeit der Dinge schnell klar. Besonders, wenn wir in die Story einsteigen: Benny und seine Mutter verlieren einen geliebten Menschen. Der Vater und Ehemann wird direkt vor dem Haus von einem Hühnertransporter überfahren. Nüchtern war er nicht. Raben sind die einzigen Beobachter des Unglücks mitten in der Nacht.

Annabelle und Benny wirft dieser Verlust komplett aus der Bahn. Danach versuchen beide auf ihre eigene Weise damit umzugehen. Benny hört plötzlich Stimmen, Gegenstände sprechen zu ihm. So kommt er erst zu einer Psychologin und dann in eine Klinik. Annabelle dagegen beginnt, Dinge zu horten. Sie verliebt sich in Schneekugeln und kauft viele überflüssige Sachen. Hinzu kommt, dass sie für ihren Job Zeitungsartikel aufheben muss und so das Zuhause vermüllt. Als ihr das Buch „Tidy Magic – Zen oder die Kunst, deine Wohnung und dein Leben aufzuräumen“ in die Hände fällt, beginnt sie das Chaos wahrzunehmen, es anzugehen, um dann doch wieder in sich zusammenzufallen wie ein Kartenhaus.

Benny wird aus der Klinik entlassen, just beginnen die Sommerferien. In dieser Zeit findet der Junge Zuflucht in der Bibliothek. Dort trifft er auf Alice, die sich jedoch das Aleph nennt, der F-Mann hat ihr den Namen gegeben. Das Aleph ist der erste Buchstabe des phönizischen Alphabets und stammt aus einer Kurzgeschichte von Jorge Luis Borges. Der einbeinige F-Mann heißt eigentlich Slavoj und war in Slowenien ein berühmter Dichter, der immer noch unermüdlich schreibt. Er ermutigt Benny, die Stimmen und was sie sagen, aufzuschreiben. So erfährt der Junge, wer Walter Benjamin war.

Als wäre das nicht schon aufreibend genug, drängt sich das Buch immer wieder dazwischen. Das geheimnisvolle Werk erzählt uns seine Geschichte, spricht mit uns und Benny. Moment, ein Buch, das mit uns spricht? Im Zen-Buddhismus ist das ganz und gar nicht ungewöhnlich. Die Japaner haben vor allen Dingen großen Respekt und verneigen sich selbst vor scheinbar belanglosen Gegenständen. Nicht ohne Grund dankt Marie Kondo jedem Teil für seine Arbeit, bevor sie es wegwirft.

Will sagen: In Ruth Ozekis Geschichte wundert mich gar nichts mehr. Ja, sie ist versponnen, leicht verrückt, aber es sind doch gerade genau solche Bücher, die uns aus dem Alltag herausbeamen und uns dahinführen, wo vielleicht so etwas wie Wahrhaftigkeit auf uns wartet. Bücher, die uns fordern sind Bücher, die bleiben und uns selbst nach der Lektüre nachhaltig beschäftigen.

Ruth Ozeki mutet uns einiges zu, aber es gibt wahrlich genug seichte Unterhaltung. Hier erwartet uns etwas ganz Besonderes: Das Nachdenken über uns selbst.

So kann ich nur alle Leser ermutigen, sich auf dieses Abenteuer einzulassen. Und sind es nicht die Abenteuer, die wir erlebt haben, an die wir uns den Rest des Lebens nur zu gern erinnern. Selbst, wenn sie uns zunächst verstören und ein wenig ratlos zurücklassen.

Haben wir nicht alle genug von allzu einfachen Fragen und Antworten, die viel versprechen, aber nichts halten? Genau für solche Herausforderungen von Büchern jenseits des Mainstreams habe ich diesen Blog vor über elf Jahren ins Leben gerufen. Damit hier Bücher eine Stimme bekommen, die sonst im Gewirr der marketingorientierten Absichten untergehen würden.

„Die leise Last der Dinge“ ist ein fantasievolles Buch, das sich dem Trauma und dem Tod auf behutsame Weise nähert. Denn ich glaube fest daran, dass es zwischen Himmel und Erde magische Kräfte gibt, die unser Schwarz-Weiß-Denken aufbrechen und einen Raum für Möglichkeiten öffnen können. Wer mir zustimmt, der sollte sich beim nächsten Besuch seiner Buchhandlung des Vertrauens dieses Buch genauer anschauen. Und lauschen, was es zu sagen hat: Vertraut auch mal den Stimmen, die aus einer magischen Ecke kommen und liebt das einfache Leben. Denn das ist Zen.

Ruth Ozeki: Die leise Last der Dinge. Aus dem Englischen übersetzt von Andrea von Struve und Petra Post. Eisele Verlag, September 2022, 688 Seiten, 26,- €.

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