Vogelfrei. 

Immer noch reibe ich mir verwundert die Augen und frage mich: Wieso habe ich von „Elsterjahre“ bisher so gar nichts gehört? Ein ganz und gar wunderbares Buch, das auch Helen Macdonald und Elton John begeistert gelesen haben. Aber hierzulande gab es noch kein Echo auf dieses Werk. Das muss sich dringend ändern! 

Alles beginnt mit einem Elsterjungen. Als Charlies Freundin Yana das offensichtlich aus dem Nest gefallene Vögelchen nach Hause bringt (ihre Schwester hat das Junge entdeckt), ändert sich das Leben der beiden grundlegend.  Vor allem bei Charlie bleibt nichts wie zuvor. Yana muss beruflich nach London, und schon ist Charlie mit dem Vogel allein und beginnt zu recherchieren, was es mit Elstern auf sich hat. Plötzlich verspürt er die Sehnsucht, sich mit jemanden auszutauschen, doch er findet niemanden in seinem Adressbuch, der infrage käme. 

Einzig der Vater Heathcote fällt dem Sohn ein. Dem Vater ist vor Jahren eine Dohle zugeflogen, und er hat dem Vogel sogar ein Gedicht gewidmet. So geht Charlie an sein Bücherregal und stöbert sich durch das Werk seines Vaters. Dabei öffnet sich plötzlich eine bisher verschlossene Tür in seine eigene Vergangenheit. 

Vater Heathcote ist ein Künstler aus dem Bilderbuch, der mit dem wirklichen Leben stets seine Probleme hatte. Die Ursachen liegen in seiner Kindheit und in seelischen Wunden, die nie verheilt waren. Bis hin zu einem Nervenzusammenbruch. Heathcote fühlt sich als junger Vater überfordert und lässt seinen Sohn Charlie wie auch seine Frau im Stich. Bildlich gesprochen, hat er beide aus einem warmen Nest mitten in ein ungewisses Leben geworfen. Charlie und seine Benzene – so nennt er die kleine Elster – sind also Geschwister im Geiste.

Und der junge Mann beginnt sich zu fragen: Wer ist das eigentlich, dieser Heathcote? »Für meinen kindlichen Verstand schien Heathcote der ideale Vater zu sein: eine Figur wie Fagin aus dem Dickens-Roman, der einem beibrachte, Taschentücher zu stehlen und das Gin-Trinken zu erlauben.«  Aber wie sieht er seinen Vater jetzt, und wieviel Heathcote steckt in Charlie? Um diese Frage zu beantworten, nimmt er Kontakt zu seinem leiblichen Vater auf.  

Charlies Rückblicke bilden einen dunklen Kontrast zum Leben mit Benzene. Der Alltag mit dem Wildvogel ist ziemlich aufreibend und hält einige irrwitzige, aber auch herzerwärmende Situationen parat: »Kieselsteine. Feuerzeuge. Münzen. Messingschrauben. Sicherheitsnadeln. Sie hat die gleiche ästhetische Sensibilität wie ein achtjähriger Junge.« Der Versuch, die flügge werdende Elster freizulassen, misslingt. Bleibt sie eben bei dem jungen Paar, das selbst Nachwuchs plant. Aber wie soll das gehen mit einem quasi nicht erziehbaren Vogel?  

Wenn ihr immer schon mal wissen wolltet, wie es sich anfühlt, mit einem Tier aus der Familie der Rabenvögel zusammen zu leben, findet ihr in diesem kurzweiligen Buch äußerst anschauliche Schilderungen: »Schnabelspuren in der Butter. Eine Feder im Ausguss. Fleisch und Geld zwischen die Seiten eines Romans geschoben.« Geradezu fabelhaft! 

»Elsterjahre« ist vieles zugleich: Eine bewegende Familiengeschichte, wie auch das Portrait eines zerrissenen Künstlers und gleichzeitig eine Coming-of-Age-Geschichte sowie ein Glanzstück des Nature Writing. Und wenn ihr glaubt, ich hab jetzt einen Vogel, dann habt ihr völlig Recht.

Charlie Gilmour: Elsterjahre. Aus dem Englischen übersetzt von Christel Dormagen. Rowohlt Hundert Augen, 2021, 316 Seiten, 22,- €.

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4 Gedanken zu „Vogelfrei. 

  1. Klausbernd

    Hier in unserem Vogelschutzgebiet hat fast jeder dieses Buch gelesen wie auch wir. Im Gegensatz zu Helen Macdonald ist uns in diesem Buch zu viel Familiengeschichte dabei.
    Keep well
    The Fab Four of Cley
    🙂 🙂 🙂 🙂

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    Antwort
    1. Klappentexterin Autor

      Tatsächlich? Das ist ja großartig. Weniger schön ist, dass euch das Buch nicht ganz begeistern konnte. Das kann ich – trotz meiner Begeisterung – durchaus nachvollziehen.

      Habt vielen Dank für eure Wortmeldung!

      Warm greetings!

      Gefällt 1 Person

      Antwort

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