
Allerseelen ist vorbei. Einen Tag nach Allerheiligen wird der Verstorbenen gedacht. Das Gedächtnis aller Seelen. So geschieht es bei den Katholiken. Die evangelische Kirche gedenkt der Verstorbenen am Totensonntag. Nehmen wir es also nicht so genau und gedenken am Totensonntag denjenigen, die in diesem Jahr von uns gegangen sind.
Vielleicht hat jemand einen Menschen verloren, den er geliebt hat. Es sind auch wieder Künstler von uns gegangen, deren Werke uns viel gegeben haben. In jedem Fall sollten wir auch den Opfern von Gewalt und Tyrannei gedenken und denen, die es auf der Suche nach einem besseren Leben nicht zu uns geschafft haben. Lasst uns innehalten und dankbar sein, dass wir noch am Leben sind.
Tod, Trauer, Berlin.
Herr Klappentexter möchte seinem verlorenen Berlin gedenken und gleichzeitig am Totensonntag »Allerseelen« von Cees Nooteboom zur Trauerbewältigung empfehlen. Überhaupt glaube ich, dass es den verstorbenen Seelen ziemlich egal ist, ob und an welchem Tag wir ihrer gedenken.
Sie sind tot, aber wir leben. Es ist wichtig für uns, dass wir an diejenigen denken, die uns etwas bedeutet haben. Damit wir ohne sie weiterleben können.

So geht es auch Arthur Daane, dem Protagonisten in »Allerseelen« von Cees Nooteboom. Beileibe kein neues Buch, über zwanzig Jahre alt. Und? Überhaupt einer der besten Berlin-Romane, den ich kenne. Ja, und es hilft, Berlin zu lieben. Das alte Berlin, das Berlin vor der Invasion der Investoren. Denn schon die ersten Worte ziehen dich rein in diese raue Stadt, als sie noch etwas hatte von ihrem schwarzweißen und grobkörnigen Charme der Neunzigerjahre.
Der niederländische Dokumentarfilmer Daane hat seine Frau Roelfje und seinen Sohn Thomas verloren. Ein Flugzeugabsturz. Und in der Folge stürzt auch er ein wenig ab, landet in Berlin. Nicht nur seine beste Freundin Erna fragt sich, was er denn da wolle, in dieser kalten Stadt, die so gar nichts vom lieblichen Reiz der Grachtenstadt Amsterdam hat.
Aber genau das sucht Daane. Das Vernarbte, Geschundene und Verwundete von Berlin, das ist auch er selbst. Deshalb ist er da im verschneiten Berlin. »Kontinentalklima. Das war einer der Gründe, weshalb er Berlin liebte, er hatte stets das Gefühl, sich auf einer riesigen Ebene zu befinden, die sich bis weit nach Russland hinzog. Berlin, Warschau, Moskau waren nur kurze Unterbrechungen.«
Daane ist einer dieser typischen Nooteboom-Charaktere: Immer ein wenig verloren, neben sich und der Welt stehend und diese aus einer Perspektive betrachtend, die stets diejenigen irritiert, die in ebendieser Welt fest verankert sind. Diese Charaktere suchen keinen Halt mehr, sie halten sich nur noch am Moment fest. Dieser Moment ist immer im Hier und Jetzt. Nur dann bist du wirklich lebendig. Das Gestern ist gelebt, geradezu tot, das Morgen ein ferner Nebel.
Leben im Zwischenreich.
In diesem Zwischenreich fühlt sich auch Arthur Daane am wohlsten. Er filmt am liebsten im Dämmerlicht, »vor allem wenn sie [die Sonne] selbst nicht oder nicht mehr zu sehen war.« Das war das »Dunkel, das langsam aus der Erde hervorzukriechen oder wieder in ihr zu verschwinden schien…« Dieses dunkle Grau, das für Berlin jahrzehntelang so charakteristisch war. Daane bannt es noch auf Zelluloid – auch hinweggefegt von der schönen, neuen digitalen Welt.
Daane durch Berlin zu begleiten, ist für mich eine Reise in die Vergangenheit, aber es ist auch eine Reise durch einen kosmopolitischen Roman mit Sprachbildern voller Eleganz und einem Blick, dem nichts entgeht. Der Rest der Geschichte? Daane lernt wieder eine Frau kennen, eine durch und durch außergewöhnliche Frau. Glück und Verhängnis zugleich wird das für ihn sein. Euch verspreche ich aber nur das Glück, einen meisterhaft komponierten und geschriebenen Roman zu lesen. Die Trauer wird erst kommen, wenn er zu Ende ist.
Cees Nooteboom. Allerseelen. Aus dem Niederländischen übersetzt von Helga van Beuningen. Suhrkamp, 2000, 440 Seiten, Taschenbuch, 12,- €.
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Auch die Klappentexterin hat zwei Bücher zum Thema Tod und Trauer, die sie in den letzten Tagen sehr beschäftigt und beeindruckt haben.
Die harte Arbeit des Trauerns.
»Trauer ist ein grausamer Unterricht. Man lernt, wie hart Trauern sein kann, wie viel Wut darin steckt. Man lernt, wie nichtsagend Beileidsbekundungen sein können. Man lernt, wie sehr es bei Trauer um Sprache geht, um das Versagen der Sprache und die Suche nach den richtigen Worten.« Chimamanda Ngozi Adichie spricht mir mit ihren Gedanken zum Tod direkt aus der Seele. Wer kennt das nicht? Das Ringen nach den passenden Worten, kurz nachdem man von einem Todesfall erfahren hat. Alles fühlt sich irgendwie falsch an. Und wer möchte in so einem Augenblick schon etwas Falsches sagen?

Dabei gehört der Tod nun mal zum Leben dazu. Trotzdem erdrückt er uns immer wieder und lässt uns sprachlos zurück. Warum nur?
Eine Antwort ist nicht leicht zu finden, aber Adichie versucht es in ihrem neuen Werk »Trauer ist das Glück, geliebt zu haben«. Darin verarbeitet sie den Tod ihres Vaters und schreibt offenherzig über ihre Empfindungen. Auch über ihre Schuldgefühle. Kurz vor dem plötzlichen Tod ihres Vaters war die Autorin selbst gestürzt, erlitt eine Gehirnerschütterung und konnte sich bei ihren Eltern – nicht wie sonst üblich – melden. Es wäre das letzte Gespräch mit ihrem Vater gewesen. Natürlich hätte sie gespürt, dass es ihm nicht gut ging und ihn früher ins Krankenhaus bringen lassen. Hätte, würde, sollte… ach, das sind überflüssige Worte.
Es ist ein schmales Bändchen, aber stark in dem, was es aussagt. Es berührt mich, zu lesen, wie Adichie gegen die Ohnmacht und Sprachlosigkeit ankämpft. Und es ist ein Trost für all diejenigen, die einen geliebten Menschen verloren haben. Als wäre das nicht schon schwer gut, muss sie wegen der Pandemie lange warten, um nach Nigeria einzureisen zu dürfen.
Aber der Autorin gelingt es, die richtigen Worte zu finden: »Wie ist es möglich, dass sich die Welt weiterdreht, unverändert ein- und ausatmet, während in meiner Seele permanentes Chaos herrscht?« Nicht umsonst gibt es das Wort „Trauerarbeit“. Denn es ist wirklich Arbeit an sich selbst, wenn man trauert.
Chimamanda Ngozi Adichie: Trauer ist das Glück, geliebt zu haben. Aus dem Englischen übersetzt von Anette Gruber. S. Fischer, September 2021, 80 Seiten, gebunden, 16,-€.
Ein Licht aus Worten.
„Innerlich vermisste ich mich selbst, so wie ich vor dem Unglück gewesen war, weder tough noch allein.“

Diese bewegenden Worte kommen von Puk Qvortrup. In ihrem autobiographischen Roman „In einen Stern“ erzählt die Dänin vom Tod ihres geliebten Mannes Lasse. Der trainierte Läufer bricht einfach während des Joggens zusammen, und stirbt wenige Zeit später.
Für sich schon ein furchtbares Ereignis. Aber die junge Frau ist mit dem zweiten Kind schwanger und hat nun sämtliche Vorbereitungen und die Entbindung ohne ihren fürsorglichen Mann vor sich. Ein hartes Schicksal. Obwohl die 26jährige viel Unterstützung von Familie und Freunden erfährt, rauben ihr die beiden Kinder schon bald sämtliche Kräfte.
Ein beeindruckendes Buch, das einem beim Lesen den Atem raubt. Ich bin immer noch ergriffen, leuchte aber gleichzeitig vor Begeisterung über die grandiose Art der Autorin, diese nicht einfache Geschichte zu erzählen. Ihre klaren, mitunter sehr poetischen Sätze haben eine große Anziehungskraft.
Puk Qvortrup legt unsere Hände in schmerzende Wunden und sendet gleichzeitig eine wichtige Botschaft aus: Es lohnt sich, zu kämpfen. So gesehen lege ich jedem Menschen, der es derzeit sehr schwer hat, dieses Buch wärmstens ans Herz. Es ist wie ein leuchtender Stern, der Licht in die finstere Nacht des Lebens bringt.
Puk Qvortrup: In einen Stern. Aus dem Dänischen übersetzt von Franziska Hüther. S. Fischer, 240 Seiten, 22,- €, gebunden, erscheint am 24.11.2021.
„Allerseelen“ von Cees Nooteboom hat mich nachhaltig beeindruckt und so tief berührt, dass ich das Leben mit anderen Augen seitdem wahrnehme. Ich habe bewusst schon lange nicht mehr daran gedacht. Danke für die schöne Erinnerung und die anderen Tipps.
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Hab vielen Dank für deinen Kommentar – das macht uns richtig glücklich, zu lesen. Welch wunderbarer Zufall!
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schöne tröstende Worte zum Tod und Trauer.
Die Bücher machen Lust auf Lesen.
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Vielen lieben Dank, das freut uns sehr!
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