Eine Weile still sein.

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Der Toten zu gedenken, heißt auch stets, sich der eigenen Vergänglichkeit bewusst zu werden. Es ist bekannt, dass morgen alles vorbei sein kann. Eine Unachtsamkeit, eine üble Laune des Schicksals, schon haben wir die Grenze von einem Reich zum anderen überschritten.

»Im Angesicht des Todes ist alles lächerlich«, stellte Thomas Bernhard einst fest. Wie wahr. Wer sich dieser Lächerlichkeit bewusst ist, der beginnt, sich selbst nicht mehr so furchtbar wichtig zu nehmen. Sicher, schwierig für viele in Zeiten der Super-Egos. Aufgeblähte Ichs auf allen Seiten, allen Kanälen, in allen Palästen. Bis der Tag kommt, der Tag der Seifenblase. Dann steht er vor der Tür.

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Gestern waren wir noch Kinder, heute als Boomer gelabelt und morgen von Pflegerobotern mit Welpengesichtern gefüttert. Verluste, auch in diesem Jahr. Ein Gefährte aus alten Zeiten, dann ein Bruder sogar. Folgte der Mutter, eine Tragödie griechischen Ausmaßes. Kein Theater wird sie je spielen. Außer jenes in meinem Kopf. Des Nachts, wenn die Träume kommen. Gestern waren wir noch Kinder.

»Wenn irgendwo ein Kindgewesensein tief in mir aufsteigt, das ich noch nicht kenne, vielleicht das reinste Kindsein meiner Kindheit: ich wills nicht wissen. Einen Engel will ich daraus bilden ohne hinzusehn und will ihn werfen in die erste Reihe schreiender Engel, welche Gott erinnern.« (Rainer Maria Rilke)

Ein Geschenk für die Toten.

Ansonsten verbieten sich Engel naturgemäß von selbst. Engelskitsch. Todesengel. Noch so ein Label für diejenigen, die bei anderen nachgeholfen haben, ob gewollt oder nicht. So lasst sie doch ruhen! Was bleibt, ist Trauer und Leid.

»Ich möchte einen Mantel weben aus dem Leid/Einsamer Stunden, kann man Tote noch beschenken?« (Irmgard Keun)

Beschenken wir uns mit dem, was uns bleibt – dem nackten Leben. Der Freude, noch auf zwei Beinen stehen zu können. Singen wir, singen wir das Leben.

»Doch ich sing dich./Ich sing dein Profil, deine Anmut, für später/…/Die Melancholie deiner tapferen Freude.« (Federico Garcia Lorca)

IMG_3458Die Stille nach dem Singen, die Melancholie und die Freude. Auch am Totensonntag sollten wir uns freuen über die Möglichkeit, Trost zu spenden. Freuen wir uns, dass wir leben und lieben können. Und lesen. Vergessen wir also auch an diesem Sonntag im November die Literatur nicht.

»Denke, daß es ein Leben gibt, und daß es einen Tod gibt, denke, daß es Seligkeiten gibt, und daß es Gräber gibt. Sei nicht vergeßlich, sondern denke dran!« (Robert Walser)

Und was wird morgen sein? Ich denke, Montag.

Bis auf jenes von Thomas Bernhard sind alle Zitate aus dem empfehlenswerten Buch »…und diese Erfahrung habe ich nun auch gemacht« Texte zum Tod eines nahen Menschen.

Mit Texten u.a. von Hannah Arendt, Simone de Beauvoir, Gottfried Benn, Hermann Hesse, Heinrich Mann, Thomas Mann, Nelly Sachs.
Herausgegeben von Elisabeth Raabe und Paul Raabe. edition momente, 116 Seiten, 18,- €

3 Gedanken zu „Eine Weile still sein.

  1. Achim Spengler

    Wunderbar, damit ist mir vor Vergänglichkeit nicht bang. Den Drahtseilakt des Lebens zu würdigen, auf des Messers Scheide, ist eine himmeljauchzende Herausforderung, die uns auch der Tod nicht nehnmen kann. Erinnerung an die Lieben übersteigt ihn immerzu.

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  2. Constanze Matthes

    Als ich den Satz „Beschenken wir uns mit dem, was uns bleibt – dem nackten Leben“ las, musste ich lächeln – mit Tränen in den Augen. Tod, Vergänglichkeit und der Einmaligkeit des Lebens werden wir erst nach bitteren Verlusten wirklich bewusst. Das ist die härteste Schule des Lebens. Danke für diesen wundervollen Text. Viele Grüße

    Gefällt 1 Person

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