Norwegen hat eine erstaunliche Entwicklung durchgemacht. Gehörte das Land im hohen Norden nach dem Zweiten Weltkrieg noch zu den Armenhäusern und klassischen Auswanderungsländern in Europa, so strotzt es heute vor Reichtum. Und ziemlich glücklich sollen die Menschen da oben auch noch sein. Wie das? Die Antwort ist kurz, schwarz und schmutzig: Öl. Vor fünfzig Jahren wurden die ersten Ölvorkommen am Boden der Nordsee entdeckt, und das sogenannte schwarze Gold fließt immer noch in Strömen. Aber eines Tages wird es versiegen, zudem hat das Zeug eh nicht mehr den besten Ruf. Aber dafür hat der Norwegische Staat vorgesorgt und bereits rund 800 Milliarden Euro für die Zeit nach dem Öl auf die hohe Kante gelegt. Das sollte erstmal reichen. Auch, um die Nachbarn auf Distanz zu halten, die Schweden, die schon immer alles besser wussten.
Espedal stirbt. Fast.
Der Schriftsteller Tore Renberg meinte neulich im Magazin Metropolis auf ARTE spöttisch: »Früher haben die Schweden über uns gelacht, heute putzen sie unsere Hotels.« Nun, so provokativ äußert sich Tomas Espedal nicht. Nicht ganz. In der SZ vom 16. Oktober sagte er: »Unser größtes Problem heißt Hurtigruten.« Das sind die modernen Kreuzfahrer, die auf Landgang die Städte verstopfen und nur Müll hinterlassen. Espedal leidet unter den Touristen. Aber die gehen ja zum Glück am Abend wieder auf ihr Schiff. Sein anderes Leiden, dieses ganz tiefe, das blieb ihm über Jahre erhalten: die Trennung von seiner Lebensgefährtin Janne. Fast sechs Jahre ist das nun schon her und wurde bereits in »Wider die Natur« thematisisert. Aber das reicht Espedal nicht. Der Meister des autobiografischen Erzählens kann auch in seinem neuesten Werk Ein Jahr nicht von ihr lassen. Ein bemerkenswertes Buch. Kein Roman. Ein langes Gedicht. Ein Canzoniere vielleicht, eine Art Gesang.
Denn damit beginnt es, das Jahr. Am 6. April, an dem der italienische Dichter Francesco Petrarca seine unerfüllte Liebe Laura zum ersten Mal begegnet. Vor knapp sechshundert Jahren. Aber aus dieser unerfüllten Liebe, aus diesem Leiden, wurde – wie so oft – große Literatur. Und genau an einem 6. April lässt Espedal sein Jahr beginnen, begibt sich auf den Spuren Petrarcas durchs südliche Frankreich. Espedal geht viel. Er trinkt zu viel. Er leidet viel, immer noch, am Verlust seiner Janne, die sich – ausgerechnet! – in seinen besten Freund verliebte. Trotzdem: Warum kommt er darüber nicht hinweg? Fragt man sich. Dumme Frage. Aber er stellt sie selbst, in einem Zwiegespräch mit Petrarca: »Farncesco du siehst gut aus/hast wie es aussieht genug Geld bist viel gereist reist/liest hast Bücher geschrieben bist ein anerkannter Schriftsteller/sagst du warum geht es dir dann nicht gut?«
Ja, warum nicht? Warum geht es dir nicht gut, Tomas? Es sind die Verluste. Espedal hat bereits seine Frau an den Krebs verloren. Und befürchtet, bald auch seinen Vater zu verlieren. Er schlägt sich mit seinem Vater. Er belehrt seinen Vater. Er, der die Hurtigruten hasst, macht eine Kreuzfahrt mit seinem Vater. Er kann es nicht mit ansehen, wie das Alter diesen Baum von Mann langsam fällt. Der Tod. Neben der Liebe ein weiteres großes Thema in diesem Buch. Der gute Tod, wie ihn der Autor nennt. Wann wird er kommen? Espedal schläft schlecht. Wacht oft um vier Uhr am Morgen auf. »In dieser stillen Stunde/aufzuwachen/die weder Morgen ist noch Nacht/wie ein toter Punkt im Tagesablauf/zu der sich so viele das Leben nehmen/…« Espedal überlebt. Aber im nächsten Buch, das letztes Jahr in Norwegen erschienen ist, da soll er kommen, der Tod. Zum Glück nur der seiner autobiografischen Schriften. Die immer wieder pure Poesie sind.
Wenn es Sternenlicht regnet.
Überhaupt hat die Lyrik in Norwegen einen völlig anderen Stellenwert als in vielen anderen Ländern. Dafür sorgt der Staat. Der Ölreichtum kommt tatsächlich auch der Kultur zugute. Quasi jedes Buch, das veröffentlicht wird, findet seinen Weg in jede öffentliche Bibliothek des Landes. Garantierte Auflage also, auch für Lyrik. Und dank der Unterstützung von NORLA kommen auch wir in den Genuss von Lyrik aus Norwegen, denn der Band »Sternenlichtregen« wurde von der staatlichen Kulturorganisation unterstützt. Erschienen ist er im Heidelberger Wunderhorn-Verlag. Zeitgenössische Lyrik. »So verschieden die Autoren dieser Ausgabe sind, so sind es auch ihre Themen«, verspricht der Klappentext. Er verspricht nicht zuviel. Sehr verschieden sind sie tatsächlich, diese Stimmen aus Norwegen. Ein Gesang, gar ein Canzoniere ist nicht darunter, aber Schlaflosigkeit findet sich auch hier.
»Ich winde und schwitze mich durch die Nacht,/die langsam durch mich sickert,/wie Moorwasser«, heißt es bei Henning H. Bergsvåg. Und die junge Charlotte Riise stellt eine interessante Frage: »..wir scheuerten unsere Haut wund / Haben wir unsere Schuld verloren?« Am bekanntesten ist sicherlich Hans Sande, und sein Morgenspaziergang lohnt, hier vollständig wiedergegeben zu werden: »Morgens gehe ich spazieren/auf der Suche nach einem unbekannten Gedicht/Einem feinen Faden/zum Aufnehmen/der sich von den Wipfeln der höchsten Birken erstreckt/so dünn wie Spinnweben/Fest genug um mich aufrechtzuhalten/doch nicht stark genug zum Erhängen.«
Wir stellen fest: Überschäumende Lebensfreude oder Fröhlichfreches sind nicht Sache der Norweger. Aber warum auch? So verwundert es nicht, dass auch Märchen aus dem Land der Trolle oft einen morbiden Einschlag haben.
Es war einmal.
Was nicht heißen soll, dass sich in »Die Puppe im Grase« ausschließlich Märchen für Erwachsene finden. Diese Sammlung klassischer Märchengeschichten aus Norwegen ist schon eine feine Fundgrube, wenn´s ums Vorlesen zur bevorstehenden Jahresendzeit geht. Gerade die Titelfabel schließt mit einem der berühmtesten Sätze der Literaturgeschichte: »Und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch.« Nanu? Da fehlt doch das heute! So sind sie, die Norweger, immer ein wenig verschroben und sonderbar.

© Kat Menschik / Galiani-Berlin
Geradezu fantastisch und ganz und gar unwiderstehlich wird dieser Märchenband durch die Illustrationen von Kat Menschik. Ihr typischer, leicht versponnene Stil passt prächtig zu den Geschichten, und wenn wir uns die Puppe genau anschauen, wie sie da im Grase steht, glaubt man sich fast in einem Film von Tim Burton. Aber zurück zu den Trollen, die in einer Märchensammlung selbstverständlich nicht fehlen dürfen. Wobei diese Fabelwesen keinesfalls nur putzige Kobolde aus Märchensagen sind, die zur norwegischen Folklore zählen wie die Gartenzwerge zur deutschen. Denn diese Herrschaften tauchen auch in der nordischen Hochliteratur auf. So sind wir nun, da wir nicht gestorben sind, naturgemäß beim Club der toten Dichter angekommen. Kein Spezial von mir ohne Klassiker.
Glaube, Liebe, Hoffnung.
Ibsen. Der norwegische Dramatiker schlechthin. Und wer das Glück hatte, die Inszenierung von »Nora oder Ein Puppenheim« an der Berliner Schaubühne zu erleben, der weiß, wie zeitgemäß oder auch zeitlos seine Werke sind. Peer Gynt konzipierte er ursprünglich als dramatisches Gedicht, dem erst später eine Bühnenfassung folgte, ebenso die legendäre Vertonung von Edvard Grieg.
Ja, wer heute »Peer Gynt« liest, muss sich zunächst an die altertümliche Sprache gewöhnen, an die Reime, aber all das ist schnell vergessen, wenn man erst einmal drin ist in dieser phantastischen Geschichte über einen Phantasten. Einen Geschichtenerfinder, einen Mann, der immer ein Junge geblieben ist, immer auf der Suche nach sich selbst, nach einem Ich. Gleichzeitig flüchtet er immerzu vor diesem Ich, verspricht Frauen die Ehe, die Treue, hält beides nicht, flieht erst in den Wald, dann ganz weg aus Norwegen, wird Menschenhändler und landet in einem ägyptischen Tollhaus, wie seinerzeit eine psychiatrische Klinik genannt wurde. Ein Begriff, der sich als Redewendung bis heute gehalten hat. Und doch sympathischer klang als das ihm folgende Irrenhaus.
Später, erst als alter Mann kehrt Peer Gynt nach Norwegen zurück und trifft den Leibhaftigen persönlich. Aber dem Teufel sind seine Sünden zu banal, er verwehrt Peer den Eintritt in die Hölle. Obwohl die Geschäfte gerade schlecht gehen: »Unglaublich, wie flau der Geschäftsgang heute,/Der Umsatz gleich Null, gering die Ausbeute;/Kein Zugang an Seelen; nur dann und wann/Mal eine…« Gynt muss weiter suchen nach irgendeiner Form von Erlösung. Und worin findet er sie? In der Liebe. Der ewigen, der hoffnungs-vollen. Tatsächlich ist am Ende der Schoß einer liebevollen Frau die Rettung, der einzigen Frau, die immer an ihn und seine Rückkehr geglaubt hat. Womit wir wieder beim Finale wären. Oder kommt da noch was, so nach dem Tod, nach der Erlösung? Wer, zur Hölle, soll das wissen? Nur eines, Freunde, ist klar: Liebe ist alles, was ihr braucht. End.
Tomas Espdal: Das Jahr. Aus dem Norwegischen übersetzt von Hinrich Schmidt-Henkel. Matthes & Seitz Berlin, September 2019, 196 Seiten, gebunden, 22,- €.
Sternenlichtregen. Zeitgenössische Lyrik aus Norwegen. Verlag das Wunderhorn, 2019, 140 Seiten, gebunden, 22,- €.
Kat Menschik: Die Puppe im Grase. Norwegische Märchen. Galiani-Berlin, September 2019, 80 Seiten, durchgestalteter, bedruckter Pappband, drei Echtfarben auf getöntem Papier Norwegische Märchen, 18,- €
Henrik Ibsen: Peer Gynt. Aus dem Norwegischen übersetzt von Hermann Stock. Reclam Verlag, 200 Seiten, 5,60 €.
Schöön“
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Eine sehr schöne Mischung. Muss allerdings Espedal entgegen, dass es schon deutliche Unterschiede zwischen den Hurtigruten und den Kreuzfahrtschiffen anderer Flotten gibt. Die Hurtigruten sind die traditionellen Postschiffe, die seit dem 19. Jahrhundert fahren und auch touristisch genutzt werden, aber noch längst nicht diese Massen wie die schwimmenden Städte erreichen und im Übrigen auch preislich einen Unterschied zu Aida & Co. machen.
Viele Grüße
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Eine tolle Zusammenstellung! Wobei mich das Märchenbuch am meisten reizt.
Ich werde es mir bei meinem Buchdealer anschauen.
Vielleicht sollte ich auch mal wieder ins Theater gehen.
Lesende Grüße
Andrea
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Sehr schön!
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