documenta 14: »Nur ein Buch pro Pärsson biete!«

Am schönsten sind die Momente, in denen man zur richtigen Zeit am richtigen Ort ist. So ist es uns am vergangenen Sonntag ergangen, als wir den Parthenon der Bücher bei der documenta 14 in Kassel besuchten. Der Himmel zeigte sich in einem dezenten Hellblau, ab und an schob sich eine Wolke vor die Sonne, nur der Wind wurde offenbar von einer kleinen Unruhe angetrieben. Das störte uns jedoch überhaupt nicht. Wir stellten uns brav in die lange Schlange am Friedrichsplatz und bestaunten das bibliophile Kunstwerk von Marta Minujín. Was wir bis dahin noch nicht wussten: Es würde ein Besuch voller Überraschungen werden.

Da soll noch mal einer sagen, Bücher seien out. Die Schlange vor dem Parthenon nimmt einfach nicht ab, wie ein Bücherbandwurm windet sie sich um das großzügige Areal. Doch wir kommen unserem Ziel recht flott näher. Hier herrscht kein Stillstand, wie man es sonst von anderen Menschenansammlungen kennt. Das haben wir vor allem einem tüchtigen Sprecher im Innenraum zu verdanken, dessen Sätze der Wind zerpflückt wie eine Pusteblume.

Der Parthenon setzt sich aus insgesamt 67.000 verbotenen und einmal verbotenen gewesen Büchern zusammen. Seit vergangenem Sonntag wird das Kunstwerk nun abgebaut und alle gespendeten Bücher der Allgemeinheit zur Verfügung gestellt. Im Inneren angekommen liegen daher auf dem Boden jede Menge eingepackte Werke. Davor noch mehr Menschen, die sich neugierig über die Häufchen beugen. Aber wie in einer Buchhandlung stöbern kann man nicht, denn eine Stimme mit französischem Akzent spricht freundlich aber bestimmt immer die gleichen Sätze: »Biete nicht lange stehen bleiben, andere möchten auch noch inein. Nur ein Buch pro Pärsson, biete!« Wir wissen in dem Moment nicht, was schöner ist: Bei diesem Spektakel dabei zu sein oder immer wieder die liebenswerte Ansage zu hören, die doch eigentlich zur Eile drängt.

Puh, sich schnell durch Bücher zu bewegen, das geht ja fast gar nicht. Welch’ besondere Herausforderung! Dort liegen bekannte wie unbekannte Bücher von Autoren wie Bertolt Brecht, Thomas Mann, Joseph Roth und Irmgard Keun. Als sich »Gilgi – eine von uns« vor mein Blickfeld schiebt, quieke ich freudig auf, denn Irmgard Keun gehört zu meinen Lieblingsautorinnen. Aber schon im nächsten Moment werde ich still. Ein Schatten haftet allen Büchern an, das vergisst kann man in dem aufregenden Trubel nur zu leicht. »Biete weitergehen! Und nur ein Buch pro Pärsson! Vielen Dank!« singt die französische Stimme weiter.

Während ich noch zwischen Betroffenheit und Verzauberung schwanke, ist Herr Klappentexter fündig geworden. Er hält mir Joseph Brodsky hin. Noch nie gehört. »In »Limonow« von Carrére bin ich auf den Autor gestoßen«, sagt er. Reinlesen kann man nicht, da hilft nur aufs Bauchgefühl vertrauen. Und ich tausche Joseph Roth gegen Alexander Solschenizyns »Krebsstation«. In einer Welt, in der mich viele Neuerscheinungen umgeben, bin ich dankbar für jeden mir noch unbekannten Klassiker, den ich entdecken darf.

Und schon sind wir wieder draußen, denn in der Schlange warten noch viele Bücherhungrige. Glücklich bestaunen wir das Kunstwerk und das, was uns passiert ist. Als ich an der Haltestelle versuche, die Bücher aus den Folien zu befreien, spricht uns eine Japanerin an. »Where did you get these books?« Wir zeigen auf das unübersehbare Kunstwerk, das sich anfängt selbst aufzulösen, und aufgeregt fliegt die junge Japanerin wie ein Vögelchen zum Parthenon und ich denke kurz an Haruki Murakami. Sie könnte direkt aus einer seiner Geschichten entsprungen sein. So schließt sich ein zauberhafter Kreis. Aber nicht bevor wir vor Entzücken die Bücher aufgeschlagen haben und darin noch weitere Überraschungen erleben durften. Danke, liebe documenta 14!

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Also, liebe Bücherfreunde, rund um Kassel, macht euch auf! Bis diesen Sonntag könnt ihr euch noch ein Buch, aber nur ein Buch!, aussuchen. Wir wünschen euch viel Freude bei diesem unvergesslichen Kunstevent. Bieteschööön!

5 Gedanken zu „documenta 14: »Nur ein Buch pro Pärsson biete!«

  1. Myriam

    Oh mein Gott, was für ein ausgesprochenes Glück 😍 Da steckt ja wirklich alles drin: Kunst, Buch, Geschichte und der richtige Moment – da bin ich fast ein bisschen neidisch 😊

    Liebe Grüße,
    Myriam

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  2. Masuko13

    Das klingt nach einem beeindruckenden und unvergesslichen Abenteuer! Ich werde es leider und ganz sicher nicht nach Kassel schaffen, war ja aber dank deines Beitrags in Gedanken dort.
    Trés trés bien. Merci beaucoup!

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  3. Pingback: 2017: Alles war in Bewegung. | Klappentexterin und Herr Klappentexter

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