Die Dame vor uns am Schalter der Bank möchte 5.000,- € in Schweizer Franken wechseln. Ungläubig schauen wir auf unsere wenigen Scheine, die zusammen nur achtzig Euro ergeben. Willkommen in der Schweiz! Wobei der Flughafen Zürich für uns nur Durchgangsstation auf dem Weg nach Solothurn ist. Solothurn? Natürlich hat man den Namen schon einmal gehört, wäre jetzt aber nicht zwingend darauf gekommen, dorthin zu reisen. Dabei findet in der Stadt das wichtigste Literaturfestival der Schweiz statt, und dies bereits zum 39. Mal. Große Namen fanden den Weg an den Jurasüdfuss, darunter Günter Grass, Herta Müller und Claude Simon. Allesamt Nobelpreisträger. So können wir von einer veritablen Bildungslücke bei Familie Klappentexterin sprechen. Gut, füllen wir sie auf: Willkommen zu den Solothurner Literaturtagen!
Wahrheit in Zeiten der Digitalisierung.
Schon auf dem kurzen Weg vom Bahnhof zum Hotel ist die Veranstaltung mit Plakaten und Hinweisen überall präsent. Auch die Eröffnung ist weit von jeder provinziellen Atmosphäre entfernt. Es wird in drei Sprachen gesprochen, wobei es manchmal schwer zu unterscheiden ist, welche man gerade hört. Zumal, wenn auch noch der lokale Dialekt Einzug in eine Rede hält. In jedem Fall ist es natürlich höchst beneidenswert, dass viele Schweizer drei Sprachen sprechen. Mindestens. Die Geschäftsführerin Reina Gehrig wirft die richtigen Fragen auf, wenn sie über die Wahrheit in Zeiten der Smartphones und der Fake News spricht. Gleichzeitig werden im Publikum die Smartphones gezückt, um zu filmen oder kurz den Nachrichteneingang auf Facebook zu checken.
Beeindruckend die Rede von Ilija Trojanow. Der Autor, frisch gekürter Heinrich-Böll-Preisträger, ist ja schon länger bekannt als Sprachrohr für Autoren und Literatur aus der sogenannten dritten Welt. Er spricht über die Einflüsse afrikanischer und asiatischer Kulturen auf Europa, die Migration von Ideen und Einflüssen. Und die arrogante Missachtung des Westens gegenüber fremden Kulturen, gerade, wenn einmal wieder ein Kanon der Weltliteratur erstellt wird. Zu Trojanow später noch mehr.
Solothurn liegt am Meer.
Eingerahmt wird die Eröffnung vom Akkordeonspieler Valerio Rodelli. Der ist Italiener und spricht auch nur Italienisch. Es klingt wunderbar, die Sprache wie die Musik. Wunderbar auch die Erfindung des Apéros, zu dem nach der Eröffnung geladen wurde. Man trifft sich auf ein Gläschen und ein paar Häppchen und lernt – im besten Fall – interessante Menschen kennen.
Wie Franco Supino, den jüngeren Bruder von Woody Allen. Zumindest sieht er so aus und versprüht einen herrlich ironischen Witz. Sonst hätte er auch kein Buch mit dem Titel »Solothurn liegt am Meer« schreiben können. Supino ist ein Kind neapolitanischer Einwanderer und in Solothurn geboren, obendrein eine unerschöpfliche Quelle von kurzweilig erzählten Anekdoten. Man erfährt, dass der Solothurner Wein mittlerweile – dem Klimawandel sei dank – durchaus trinkbar sei. Die Einheimischen scheinen dem jedoch zu misstrauen und nehmen ihn weiterhin als Wysüppli zu sich, also mit Mehl und Rahm gemischt. Schmeckt, nun ja, eigenwillig.
Da wären wir schon bei Robert Walser, der zur vorletzten Jahrhundertwende kurze Zeit in Solothurn gelebt hat. Davon kündet eine Gedenktafel, die allerdings am falschen Haus hängt. Das wird auch so bleiben. Im richtigen sitzt eine Filiale der Handelskette »Weltbild«, und die hat bekanntermaßen mit Literatur nicht mehr viel zu tun. Dann lieber das Haus des Optikers.
Spazierengehen kann tödlich sein.
Robert Walser hat die berühmte Erzählung Der Spaziergang geschrieben und die letzten zwanzig Jahre seines Lebens freiwillig in einer psychiatrischen Heilanstalt verbracht. Schaut man sich den Zustand der Welt an, ist dies vielleicht nicht der schlechteste Lebensentwurf fürs Alter. Folgerichtig ist der Mann während eines winterlichen Spaziergangs gestorben.
In Erinnerung an den Autor haben Studierende des Literaturinstituts Biel Texte zum Thema geschrieben, die im Rahmen des Lese-Hörspiels Spazieren muss ich unbedingt von fünf Schauspielern vorgetragen wurden. Ich frage mich manchmal, ob man das Schreiben überhaupt erlernen kann, und ob die Absolventen dieser Schulen am Ende nicht an einem konformen Stil zu erkennen sind. Allerdings gilt es in der Branche schon als Auszeichnung, eine derartige Ausbildung vorweisen zu können.
Wenn ich dann aber Bilder wie »gähnende Straßenschluchten« und »weiße Schäfchenwölkchen« höre, bekommen meine Zweifel neue Nahrung. Wobei es durchaus die eine oder andere hübsch aufblitzende Idee gab. Allerdings stets in einer Sprache erzählt, die unbedingt abgeklärt klingen will. Oder ist es nur die Sprache der Jugend, die ich nicht mehr spreche? Unvergesslich hingegen die Lesung des originalen Textes von Robert Walser mit Hermann Beil im Berliner Ensemble am ersten Weihnachtstag 2016. Meine Aufgabe für die nächsten Tage: Erst spazieren gehen, dies überleben und dann das Original selbst noch einmal lesen.
Die Krise einer guten Idee.
Die interessanteste Veranstaltung war für mich die Podiumsdiskussion Die Demokratie in der Krise? mit dem Schriftsteller Lukas Bärfuss, der politischen Beraterin Ruth Dällenbach und dem Autor und Historiker David van Reybrouck. Hier ging es ums große Ganze: David van Reybrouck ruft in seinem Buch Gegen Wahlen auf, die Wahlen abzuschaffen, da er in ihnen ein Instrument der Aristrokatie sieht. Sehr sehenswert hierzu sein kurzer Film über scheinbare Demokratie, Against Elections. Wenn man sieht, dass dieser Film bisher 37.000 mal angeschaut wurde, die Videos von Mädchen, die ihr gerade gekauftes Make-Up in die Kamera halten dagegen Millionen Mal, dann ahnt man, dass mit unserer demokratischen Gesellschaft tatsächlich etwas nicht stimmt. Dällenbach sieht dagegen eher eine System- und Effizienzkrise. Einig waren sich jedoch alle darin, dass das Vertrauen in die politischen Parteien und ihre Akteure einem starken Misstrauen gewichen ist. Der Bürger ist verunsichert, zumal die politische Globalisierung längst von der wirtschaftlichen eingeholt wurde. Und diese Form der Globalisierung hat bekanntlich nicht nur Gewinner hervorgebracht. Wer setzt in einer durch und durch kommerzialisierten Welt noch meine Interessen durch? Das Motto könnte lauten Lokal statt global, auch eine Organisation wie Transparency International sollte viel stärker beachtet werden. Eines ist klar: Das Zurückziehen ins Schneckenhaus des Nationalismus ist längst keine Alternative mehr in unruhigen Zeiten.
Lukas Bärfuss arbeitet sich speziell an der Schweiz ab, in der er ebenfalls einiges im Argen sieht, und stellt die willkürliche Konzeption eines Nationalstaates gleich ganz in Frage. Sehr, sehr lesenwert hierzu sein Essay Ist die Schweiz des Wahnsinns?. In der ursprünglichen Version stand noch der Abschlusssatz: »Und niemand empört sich. Außer ich.« Der stammte allerdings von der Redaktion der FAZ und nicht von Bärfuss. Schade eigentlich.
Vorbereitung auf das Nichts.
Nun noch einmal zu Ilija Trojanow. Er stellt der Lesung aus seinem aktuellen Buch Nach der Flucht einen bemerkenswerten Satz voran: »Der Mensch ist eigentlich ein ganz kleines Wesen, das sich ständig selbst überschätzt.« Wie wahr. Zudem ist es ein Wesen, das sich ständig vor dem Fremden fürchtet. Dabei könne man sich der Fremde und dem Fremden auch annähern. Denn den Anderen nur als Anderen wahrzunehmen sei auch der Anfang von Gewalt. Bezeichnend auch seine Anekdote, wie er mit New Yorker Studenten die Stadt zu Fuß (!) erkunden und dabei gänzlich auf Smartphones verzichten will.
Das stürzt einige Teilnehmer in eine tiefe Krise, ohne ihr Handy sind sie praktisch lebensunfähig. Einer meinte: »Wenn ich nicht auf Google Maps sehen kann, wo ich mich befinde, bin ich orientierungslos.« Das Smartphone würde einem doch viele Dinge abnehmen und man könne sich auf andere Sachen konzentrieren. Auf was denn? Keine Antwort. Also auf das Nichts.
Zum Schluss mein Plädoyer in den Zeiten des aufkommenden Nationalismus: Denkt wieder europäisch! Nur der Humanismus zeigt wirklich in die Zukunft! Zeigt Haltung! Und fahrt nach Solothurn. Auch, wenn Familie Klappentexterin dort bei vielem gesagt hat: Das war das Teuerste in meinem Leben. Ja, es ist keine günstige, aber eine sehr sehenswerte, fast mediterran anmutende Stadt. Keine Metropole, aber mit der Literatur holt man sich bekanntlich die Welt ins Haus bzw. in die Stadt. So lebt und atmet diese schöne, schöne Stadt zu den Literaturtagen überall Kultur. Und einer der sympathischsten Menschen, die mir dort begegnet sind, ist Tom Kummer. Schweizer, und auf der Suche nach einer Wohnung in Berlin. Und das ist die Wahrheit, nichts als die Wahrheit.
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Einen weiteren Beitrag über die Solothurner Literaturtage findet ihr auch bei SchöneSeiten. Und am Sonntag berichtet die Klappentexterin über ihre Eindrücke, die sie auf vielen Lesungen gesammelt hat.
lieber Klappentexter, danke – ich verrate dir an dieser Stelle gerne: wir organisieren die Solothurner Literturtage seit nunmehr 40 Jahren, weil sich nur dank ihnen ab und zu ein paar interessante Leute an den Jurasüdfuss verirren (und so peu a peu für einen Klimawandel sorgen)
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Danke für die Blumen. Gern verirren wir uns nächstes Jahr wieder in die Ambassadorenstadt – spätestens.
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