Vor über vier Wochen tummelten sich tausende Bücherfreunde in Frankfurt auf der Buchmesse. Ich war ebenfalls mittendrin und natürlich sehr, sehr glücklich. Heute nun möchte ich diese schöne Zeit aufleben lassen, indem ich nochmals den Fokus auf die beiden diesjährigen Gastländer richte. Mein Bloggerkollege, Jochen Kienbaum, von lustauflesen.de habe ich mir dazu als Gast auf meine Blogcouch geholt. Er konnte im September eine Pressereise nach Flandern und den Niederlanden antreten. Zurück in Berlin hatte er im Koffer nicht nur jede Menge Bücher, sondern auch spannende Erlebnisse und Entdeckungen, über die ich mehr erfahren wollte. So führt Jochen meine Interviewreihe »Talking about Niederlande & Flandern« fort. Vor ihm hatte ich bereits den Verleger Daniel Beskos vom mairisch Verlag und Jörg Sundermeier, Verleger des Verbrecher Verlags und Vorstandsmitglied der Kurt-Wolff-Stiftung, bei mir im Gespräch.
Klappentexterin: Du warst im September für eine Woche in den Niederlanden. Was war das für eine Reise und was hast du dort Schönes erlebt?
Jochen: Die Tour durch Flandern und die Niederlande ist eine Pressereise gewesen, zur der der Flämische Literaturfond und der Literaturfond der Niederlande eingeladen hatten. Beides sind staatliche Organisationen zur Förderung, Vermittlung und Verbreitung von Literatur im In- und Ausland. Auf Stationen in Antwerpen, Gent, Brüssel und Amsterdam bekamen wir Einblicke in die literarische Szene zweier Länder, die sich zwar eine gemeinsame Sprache teilen, aber auch sehr unterschiedlich sind in Mentalität und Lebensweise sein können. Den Auftritt als Ehrengast der Buchmesse haben Flandern und die Niederlande sehr akribisch und langfristig vorbereitet. Einiges aus dem Programm durften wir bereits vor der Präsentation in Frankfurt kennenlernen. Insgesamt wurde uns in den sechs Tagen sehr viel geboten, der Terminplan war dicht getaktet. Viele beeindruckende Begegnungen mit Autoren, Verlegern, Illustratoren, Comickünstlern, Buchhändlern und Multiplikatoren bleiben in Erinnerung.
Welche Begegnungen und Entdeckungen haben dich besonders beeindruckt?
Oh, es wäre gemein jetzt einzelne Namen und Stationen herauszugreifen. Aber um das Gespräch jetzt nicht vorzeitig abzubrechen, möchte ich doch auf drei Punkte kurz eingehen. Erstaunlich vielfältig und beeindruckend ist die Szene der Comic-Künstler und Autoren von Graphic Novels in Flandern. Das liegt auch an der Tatsache, dass der Flämische Literaturfond von Beginn an diese Form der graphisch-sprachlichen Auseinandersetzung mit Welt und Gesellschaft als Literatur behandelt hat. Es stand für die Verantwortlichen nie außer Frage, Comics als Teil Literatur zu betrachten und gleichwertig zu fördern. Anlässlich der Buchmesse und dem Länderschwerpunkt ist vieles aus Flandern auch von deutschen Verlagen veröffentlicht worden. Wer Comics und Graphic Novels mag, wird dort großartige Funde machen.
Wie die eigenständige Tradition der Graphic Novels teilen sich Flandern und die Niederlande auch eine besondere Kultur der Kinderbücher. Anders als in Deutschland wird den jüngsten Lesern dort sehr viel zugetraut. Die Geschichten können mitunter düster, grausam, bedrohlich und auch schonungslos sein. Ebenso die Illustrationen. Einige Graphiker, die wir getroffen haben, sind immer wieder erstaunt, wenn ihre Zeichnungen von deutschen Lesern (in diesem Fall Verleger und Eltern) rundweg abgelehnt werden. Man könne das Kindern in Deutschland nicht zumuten, heißt es meist unisono. Aber die Erfahrung habe gelehrt, so die benachbarten Autoren und Zeichner, wie gut Kinder damit umgehen können, wie sicher sie Anspielungen in Illustrationen aufspüren, Verborgenes und Geheimnisvolles in dunklen Geschichten weise deuten. Schaden nehmen sie nicht, im Gegenteil. Davon könnten sich hiesige Kinderbuchverlage ruhig eine Scheibe abschneiden.
Beim Gastauftritt in Frankfurt wagte der Niederländische Literaturfond auch Experimentelles. Wie kommen Literatur und neue digitale Techniken zueinander, wie kann Literatur wirklich digital erfahren werden? Wir durften einiges im Beta-Stadium testen. Bei einem Projekt von »C.a.p.e. CREW« werden Gedichte des niederländischen Lyrikers Tonnus Oosterhoff in eine Virtuelle Umgebung ein- und umgesetzt. (siehe das erste Foto, Anmerkung der Klappentexterin) Ich habe Lyrik noch nie so intensiv und physisch genossen wie dort. Eine sehr starke und beeindruckende Erfahrung. Und auch einige der anderen Digitalprojekte betreten neue und durchaus ungewöhnliche Wege.
Hast du in der Literatur unserer europäischen Nachbarn einen eigenen Sound oder einen eigenen Charakter entdeckt?
Ja, den haben sie. Und auch wenn sie viel teilen, es teilt sie auch einiges. Die Literatur Flanderns ist barocker, lebensfroher und praller, als die der Niederlande. Im Norden sind die Menschen calvinistischer, spröder, vielleicht auch etwas einsilbiger als im südlicheren Belgien. Dort ist man lebensfroh katholisch, teilt mit den nahen Franzosen die Lust am Essen, am Wein (oder Bier) und die Lust am Leben. So ist auch die Literatur bunter und sinnlicher. Die Holländer, als sparsame Protestanten sind grüblerischer, wortkarger und nachdenklicher. Das schlägt sich in der Literatur, in der Wahl der Themen und der stilistischen Verarbeitung nieder. Achtung, das ist natürlich stark verkürzend und mit etwas Klischee behaftet, aber es liegt ein Körnchen Wahrheit drin.
Warst du vor der Reise bereits mit niederländischer und flämischer Literatur vertraut?
Wenig bis gar nicht, das gebe ich ehrlich zu. Natürlich sind mir einige große Namen und ihre dazugehörigen Werke bekannt gewesen. Aber erst während der Reise wurde mir bewusst, wie vielfältig und lebendig die Literatur der Flamen und Niederländer ist, wie anders und interessant auch ihre Themen sind. Der europäische Gedanke zum Beispiel wird viel häufiger betont und artikuliert, ohne dabei alles gleichmachen zu wollen. Und in beiden Ländern hat Lyrik einen hohen Stellenwert. Dichter schreiben hier wirklich für eine breite Öffentlichkeit. Gedichte haben feste Plätze in TV-Programmen und Tageszeitungen, werden bei Stadtfesten und Feiern vorgetragen, stehen in Rotterdam sogar auf den städtischen Müllwagen. Eine rege Szene junger Dichterinnen und Dichter tummelt sich und wird beachtet. Davon träumen deutsche Lyriker (noch).
Welchen niederländischen oder flämischen Titel empfiehlst du?
Hm, aus dem großen Angebot nur einige zu nennen, fällt schwer. Joost Zwagerman nenne ich und seine Novelle »Duell« (Weidle). Eine ebenso blitzgescheite wie böse und gleichzeitig komische Abrechnung mit dem Kunstbetrieb und seinen Eitelkeiten. Als Graphic Novel greife ich »Hieronymus Bosch« von Marcel Rujters (Avant) heraus. In einem eigenwilligen, an Boschs Gemälde angelehnten Stil wird das Leben des Malers erzählt, dessen 500. Geburtstag wir in diesem Jahr feiern. Beziehungsweise das dargestellt, was wir von ihm und seinem Leben tatsächlich wissen. Rujters hat akribisch recherchiert, mit Boschexperten geklärt, was wahr und was Mythos ist und er klärt somit manche Irrtümer und Fehleinschätzungen. Obendrein liefert das Buch Einblicke in den flämischen Alltag vor 500 Jahren. Und wer die junge Lyrikszene aus Flandern und den Niederlanden kennenlernen möchte, greife zu »Polderpoesie« (Sic). Diese Anthologie ermöglicht einen prächtigen (und ich wiederhole, auch sehr überraschenden) Rundumblick mit Gedichten von 21 Autorinnen und Autoren. Ich persönlich freue mich noch auf »Eine Handvoll Sekunden«, den neuen Roman von Peter Verhelst (Secession) und auf »Cinderella« von Michael Bijnens (erscheint erst im Frühjahr bei Atrium).
Ich danke Jochen ganz herzlich für das interessante Interview und das schöne mitgebrachte Bildmaterial.
Hier noch ein kleiner Tipp! Wer jetzt noch mehr Appetit auf die beiden Gastländer bekommen haben sollte, dem empfehle ich darüber hinaus eine sehr sehenswerte arte-Metropolis-Folge aus dem Oktober, die aktuell (Stand: 20.11.2016) noch online zu sehen ist. Ein bisschen Buchmesse-Feeling gibt’s obendrein dazu. Viel Freude beim Schauen!