Die Mädchen, die Freiheit und das Grauen.

emma_cline_the_girlsEs ist still vor meinen Fenstern, wie in der nächtlichen Wüste. Ferienzeit, die meisten Familien sind verreist, und ihre Abwesenheit überzieht die Straße mit einem Teppich aus Schweigen. In mir hingegen brummt es gewaltig. Stellt euch ein Sommergewitter vor, das plötzlich seine Wolkenschleusen öffnet. Emotionen und Gedanken stoßen hin und her. Und alles nur, weil ich ein Buch gelesen habe. Ich lächle, denn ich bin endlich, wieder dort, wo ich mich am wohlsten fühle: Im Reich der Worte. Emma Cline hat mich mit ihrem erstaunlichen Debüt »The Girls« aus dem Sommer-Dornröschenschlaf geweckt. So flitzen meine Finger über die Tastatur des Rechners und übertönen den Lärm in meinem Kopf, während ich zurück ins Buch laufe.

Als ich mich erneut darin wiederfinde, überlege ich: Womit beginnen? Mit der unglaublichen Sprache? Mit der ausgeklügelten, faszinierenden Geschichte? Der einnehmenden und bewegenden Ich-Erzählerin?

Da ich Liebhaberin einer schönen Sprache bin, fühle ich mich sofort heimisch in dem wundervollen Rhythmus der Sätze – und wähle so dieses Element als Erstes aus. Die Kunstfertigkeit der Autorin ist beinah überbordend: Derart sprachmächtig, schillernd, sensibel und bisweilen wunderschön poetisch. Ich finde Bilder darin, die ich bis dato nicht gelesen habe, und die mich juchzen lassen. Ich picke als Beispiel »... wie von einem Quija-Brett gekratzter Wortsalat« auf und erfreue mich an hundert weiteren schönen Wortkombinationen.

Ich weiß nicht, wie oft ich mir den Klappentext anschaue und begeistert, fast ungläubig, nachlese: Emma Cline wurde 1989 geboren. Wie kann ein so junger Mensch aus einer solchen Sprachvielfalt schöpfen? Nichts wirkt aufgesetzt oder gekünstelt, sondern schlichtweg aus dem Bauch heraus geschrieben. Während ich noch über die Sprache staune, als wäre sie ein wertvoller Rubin, gleite ich in die Geschichte und merke, dass sich zunehmend eine Gänsehaut bemerkbar macht. Evies Geschichte ist finster wie ein Keller ohne Licht und äußert bewegend. Ich möchte mich verstecken, je mehr ich erfahre und schaue doch neugierig auf das, was sie mir erzählt.

Dabei wechselt die Ich-Erzählerin die Zeit-Ebenen – mal sind wir in der Gegenwart, in der überwiegenden Zeit bewegen jedoch im Jahr 1969. Dort beobachte ich ein einsames 14jähriges Mädchen, das nach Aufmerksamkeit sucht und sie nicht bekommt. »Ich wartete darauf, dass jemand mir sagte, was gut an mir war.« So ein Satz bohrt sich messerscharf in den Bauch. Ein Satz, der ganz beiläufig daherkommt und doch seine Wirkung nicht verpasst. So ist es oft in diesem Buch, manchmal ist es nur ein Satz und ich bleibe stehen und denke: Moment mal, was war das?

Evies beste Freundin Connie tauscht sie einfach gegen eine andere aus, als würde sie nur ihre Unterwäsche wechseln. Das bestürzt Evie umso mehr, ist sie doch in Connies älteren Bruder verliebt. Aber vor allem: Evie ist jetzt allein mit ihrer Mutter, die sich nach der Scheidung finden will und dabei ihre Tochter übersieht.

Als Evie eines Tages im Park eine Gruppe auffallender Mädchen erspäht, ändert sich alles. Die eine entblößt ihre Brust. Kurz darauf fallen die Mädchen in einer Gasse über einen Müllcontainer her. Evie folgt ihnen immer noch und wird ertappt. Die Schwarzhaarige fängt Evies Blick auf: »Sie lächelte, und mein Herz machte einen Sprung. Irgendetwas schien sich zwischen uns zu ereignen, eine subtile Umschichtung der Luft.« Wenige Tage später trifft Evie zunächst allein auf die Schwarzhaarige, danach helfen ihr die Mädchen bei einer Panne mit ihrem Rad. Da ist Evie gerade voller Wut von Zuhause ausgebüxt.

Die abgesprungene Fahrradkette führt sie letztlich zur Kommune, in dem nur einer das Sagen hat und von allen angehimmelt wird: Russell. Liebe über allem, predigt Russell, wie auch die Wahrheit, das eigene Selbst zu entfalten. Dort bekommt Evie das, wonach sie sich schmerzlich sehnt: Aufmerksamkeit. Das graue Entlein verwandelt sich in einen Schwan – anfangs befragen sie die Mädchen neugierig, bezupfen ihre schöne Bluse. Nur Suzanne, die Schwarzhaarige, scheint zurückhaltend. Evie glaubt darin ihre eigene Schüchternheit wiederzuerkennen.

»Es gab an jenem ersten Abend so vieles, was mich hätte warnen müssen. Aber selbst später, selbst als ich schon wusste, was ich wusste, fiel es schwer, hinter das Unmittelbare zu schauen.« Das gesteht sich Evie Jahre später ehrlich ein, nachdem das Unfassbare passiert ist. Und das Unfassbare, das kündigt sich durchaus an – in Mädchen, die ihrem Guru hörig und Dinge für ihn erledigen, die bizarr sind.

Das Leben auf der Farm ist abstrus, befremdlich und das Gegenstück zu Evies bisherigen, eher behüteten Welt. Gegessen wird, was man beschaffen kann und Drogen übertünchen das nagende Hungergefühl. Die Unterkünfte sind notdürftig und verwahrlost, wie die Kinder der jungen Frauen. In ihrer ersten Nacht auf der Farm feiern alle die Sonnenwende und Evie fühlt sich zum ersten Mal eins mit allem. Ehe sie sich versieht, wird sie von der Gemeinschaft abhängig.

Wenngleich auf dem Klappentext Bezug zu Charles Manson genommen wird, sehe ich die Geschichte mehr als die eines einsamen Mädchens, das sich Verhör schaffen will und mich als Leserin vollends einnimmt – voller Mitgefühl. Ein Mädchen, das dabei in einen Strudel unvorhersehbarer Ereignisse gerät. Aus Liebe und Abhängigkeit. Dinge passieren, bei denen ich unfassbar nach Luft schnaube. Die von Weihrauch durchtränkte und von Drogen berauschte Welt in der Kommune stößt ab und zieht gleichzeitig an. Auch Evies bedingungslose Faszination zu Suzanne berührt und versprüht eine dunkle Aura. Für Suzanne würde Evie alles machen, und das obwohl Suzanne eiskalt ist. Unverständnis macht sich breit, während eine Antwort auf die Frage den Weg kreuzt: Warum können gewöhnliche Menschen zu grausamen Tätern werden? Ob damals oder heute – in »The Girls« blicke ich solchen Menschen ins Gesicht. Und verstehe ein bisschen.

Dieses Debüt macht atemlos, berührt und schockiert. Was wiegt also mehr? Die Sprache? Der Plot? Die Romanheldin? Alles zusammen ergibt das Gesamtkunstwerk. Mit anderen Worten: Wäre »The Girls« ein Kleid, es würde sich perfekt um den Körper schmiegen. Man würde staunend vor dem Spiegel stehen. Und schweigend lächeln. Lange, ganz lange. Wunder gibt es immer wieder, selbst in der Literatur. So spüre ich allmählich Ruhe in meinem Kopf einkehren. Wie nach einem Unwetter legt sich auch in mir ein Teppich nieder. Nicht des Schweigens, sondern des Glück und der Dankbarkeit, solch ein überwältigendes Buch gelesen zu haben.

Emma Cline: The Girls. Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl. Hanser, Juli 2016, 348 Seiten, 22,- €. Das Buch jetzt direkt und portofrei bei Hugendubel.de bestellen.

Weitere Stimmen über das Buch findet ihr hier:

10 Gedanken zu „Die Mädchen, die Freiheit und das Grauen.

  1. letteratura

    Eine schöne Besprechung! Ich habe das Buch ganz ähnlich gelesen und auch mich hat es beeindruckt. Wie Cline ihre Heldin zum Leben erweckt, das ist klasse, und es zeigt auch, dass sich in der Hinsicht seit damals eigentlich nichts geändert hat. Das zeigt sich ja auch in den Szenen mit der Erwachsenen Evie und der dann jungen Sasha, die zwar selbstbewusster zu sein scheint, aber eben auch nur bis zu einem gewissen Grad.
    Meine Rezension gibt es hier:

    „Wir wollen alle gesehen werden“ – Emma Cline: The Girls

    Gefällt 2 Personen

    Antwort
  2. Mina

    Was für eine schöne Besprechung! Und wie gut, dass das Buch auf dem Stapel meines Herbstprojektes liegt und ich es deshalb heute Abend noch anfangen werde! Danke!

    Like

    Antwort
    1. Klappentexterin Autor

      Hallo Mina,

      vielen Dank! Dann hast du in jedem Fall einen literarischen leuchtenden Stern für dunkle oder verregnete Herbsttage. Ach, wie ich dich beneide, du hast noch alles vor dir. Viel Vergnügen schon jetzt!

      Herzlich
      Klappentexterin

      Gefällt 1 Person

      Antwort
  3. literatewanderlust

    Liebe Simone, was für eine wunderbare Rezension, toll geschrieben, wie es dem Buch gebührt! Ich habe „The Girls“ vor ein paar Monaten auf Englisch gelesen und ebenfalls rezensiert. Mir ging es dabei so wie Dir: Woher nimmt so eine junge Autorin bloß eine solche Sprache, solche Worte? Mich hat es einfach umgehauen, ich konnte das Buch nicht mehr aus der Hand legen und auch nachdem ich es gelesen hatte, hat mich das Buch lange nicht losgelassen. Da ich das Buch als eBook gelesen hatte, habe ich es mir darauf sogar noch ein zweites Mal als gebundene Ausgabe gekauft, damit ich es ins Regal stellen und öfter mal einfach so darin blättern kann.

    Gefällt 1 Person

    Antwort
  4. lihabiboun

    Ihre Begeisterung war ansteckend – sofort habe ich das Buch bestellt und in einem Rutsch gelesen. Und jetzt bin ich gleichsam verhext: von den Worten, der Atmosphäre, den wortmächtigen Bildern. Danke für diesen Hinweis.

    Like

    Antwort
  5. Cora

    Es ist interessant wie unterschiedlich Menschen Bücher lesen. Ich finde sowohl die Handlung, als auch die Charaktere und die Intention des Buches super. Mich selber hat aber – besonders am Anfang des Buches – der Schreibstil sehr gestört, weil er in meinen Augen genau das ist, was du ihm absprichst: gekünstelt und affektiert. Keine Frage, das Buch ist grandios geschrieben und Emma Cline hat ein unfassbares Talent als Schriftstellerin. Ich denke aber, dass sie gerade bei diesem heiß erwarteten Debüt ganz besonders zeigen wollte, wie kunstfertig sie schreiben kann, und dabei ein wenig übers Ziel hinaus geschossen ist. So unterschiedlich können Geschmäcker sein. Deine Rezension und über deine Begeisterung zu dem Buch zu lesen, ist sehr schön 🙂
    Liebe Grüße,
    Cora

    http://oh-fitzgerald.blogspot.de/

    Like

    Antwort
  6. Pingback: Emma Cline: The Girls | Bücherwurmloch

  7. Pingback: Am Rande der Geschichte: The Girls von Emma Cline – mainfeuilleton

Hinterlasse einen Kommentar