Kämpfen lohnt sich, sagt die alte Dame.

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Ob Baba Dunja und Lucia Binar gute Freundinnen wären? Ganz bestimmt! Verbindet sie doch, dass sie beide starke Frauen und beeindruckende Romanheldinnen sind, die zwischen den Buchdeckeln ein selbstbestimmtes Leben führen. Alina Bronskys »Baba Dunjas letzte Liebe« und Vladimir Vertlibs »Lucia Binar und die russische Seele« sind äußerst mitreißende, herrlich unterhaltende Bücher mit viel Witz zwischen den Zeilen. Beide Bücher haben es auf die diesjährige Longlist des Deutschen Buchpreises geschafft, leider blieb die Tür der Shortlist für sie verschlossen. Aber natürlich ist Vladimir Vertlibs Roman trotzdem eine Rezension wert. Oder besser: gerade deswegen!

Das Buch erinnert mich an eine köstliche Pralinenschachtel: Einmal geöffnet, kann man nicht mehr genug davon bekommen. Schon der Einstieg ist tragisch und komisch zugleich: »Wenn ich jetzt sterbe, dann kann ich damit leben. Was mir früher die Sicht auf den Tod verstellte, habe ich längst umgangen oder aus dem Weg geräumt. Mein innerer Frieden wäre ein Hort der Langeweile, wenn ich nicht gelernt hätte, Langeweile ab und zu als Zufriedenheit wahrzunehmen. Das ist in meinem Alter ein Privileg.« Bei solchen Äußerungen werden sofort Erinnerungen an Baba Dunja wach, die mich mit ebenso viel Esprit und Weisheit begeistert hat.

Lucia ist auch keine junge Frau mehr – 83 Jahre zählt sie, um ganz genau zu sein. Anders als Baba Dunja lebt die forsche Dame nicht im eigenen Haus, sondern ist auf fremde Hilfe angewiesen. Nach einem Unfall und folgender Hüft-OP kann sie nicht mehr so, wie sie eigentlich will. So schafft sie es nicht mehr, an ihren Lieblingslyrikband von Wislawa Szymborska im Bücherregal heran zu kommen. Das ist dermaßen herzzerreißend, dass ich am liebsten ins Buch springen und der alten Dame das Buch reichen möchte.

Oder diese Szene: Lucia wartet mit knurrendem Magen auf ihr »Essen auf Rädern«, doch die Lieferung verspätet sich. Dann klingelt es an der Tür, doch dafür steht kein Essenslieferant vor der Tür, sondern ein befremdliches Wesen – halb Frau, halb Mann. Und bittet um ihre Unterschrift für eine Petition. Die »Große Mohrengasse« soll aus politischer Korrektheit in »Große Möhrengasse« umgetauft werden. Lucia kann das überhaupt nicht verstehen, immerhin lebe sie seit der Kindheit hier und hat schon weiß Gott Schlimmeres erlebt. Zum Beispiel die Deportation der Juden. Der unerwartete Gast ist hartnäckig, es entbrennt ein kleines, chilischarfes Wortgefecht – allerdings ohne Ergebnis. Am Ende verabschiedet sich das Wesen namens Moritz ohne Unterschrift.

Derweil ist Lucia immer noch hungrig und ruft den Lieferservice an. Dort erreicht sie nur eine genervte Frau namens Elisabeth, die alles andere als einfühlsam ist und so gar nicht weiterhelfen kann und will. Ein Desaster! Findet auch Lucia Binar und merkt sich alles ganz genau. Erst am Abend kommt sie endlich zu ihrem Essen. Doch der deprimierende Tag hat etwas ausgelöst in der alten Dame. Eine Kugel beginnt zu rollen, und ich laufe ihr schmunzelnd hinterher.

So wird aus der Pralinenschachtel mehr und mehr eine literarische Matroschka. Vladimir Vertlib packt seine Geschichte Stück für Stück aus und hält dabei die ganze Zeit den Spannungsbogen. Parallel zur Ich-Erzählerin baut der Autor eine weitere Ebene ein – die vom Russen Alexander. Und die entführt uns – erinnert den Titel! – natürlich mitten in die russische Seele. Und ich denke mir, dass der Autor weiß, wovon er schreibt. Schließlich wurde er in Leningrad geboren.

Was als eher heitere Geschichte begann, bekommt mehr und mehr einen gesellschaftskritischen Aspekt. Vladimir Vertlib webt viele Themen in seinen wunderbar lesbaren und witzigen Roman ein. Er erzählt nicht nur aus dem Leben einer älteren Frau, der Autor greift auch aktuelle Entwicklungen auf, die uns alle beschäftigen. Zum Beispiel das Outsourcen von Arbeitsplätzen in Callcenter, den zunehmenden Arbeitsdruck und die Machenschaften der Immobilienhaie.

So will Lucia nicht nur die unhöfliche Frau vom Lieferservice ausfindig machen, denn auch ihr Vermieter macht der alten Dame das Leben zur Hölle. Er will das Haus sanieren und danach alle Wohnungen zu horrenden Preisen neu vermieten. Der Mann scheut keine Gemeinheit, um die alten Mieter los zu werden. Leere Wohnungen stellt er Obdachlosen und Drogenabhängigen zur Verfügung, die das Haus innerhalb kürzester Zeit fast ruinieren. Lärm, Müll und sogar menschliche Ausscheidungen beinträchtigen die Lebensqualität der regulären Mieter erheblich. Die wollen sich das aber nicht gefallen lassen. So finden Lucia und Moritz zusammen, um gemeinsam zu kämpfen. Wie und was sie aushecken, wird natürlich nicht verraten, genauso wenig die Querverbindungen zwischen Elisabeth und Alexander.

In jedem Fall hat mir das Buch allerfeinstes Lesevergnügen bereitet. Schlagfertige Dialoge und nachdenkliche Sequenzen nehmen dem Roman jede Oberflächlichkeit. Dabei will er unterhalten, was ihm ganz fabelhaft gelingt. »Lucia Binar und die russische Seele« ist ein Buch mit einer starken Protagonistin, die jetzt sicherlich mit Baba Dunja zusammensitzt. Obwohl beide Bücher es nicht auf die Shortlist geschafft haben, hatten beide einen verdienten Platz in der Longlist. Darüber sind sich die selbstbewussten Damen vollkommen einig. Und ich übrigens auch.

Vladimir Vertlib: Lucia Binar und die russische Seele. Deuticke Verlag, Februar 2015, 320 Seiten, 19,90 €. Jetzt direkt bei buchhandel.de portofrei bestellen. Das eBook kostet 15,99 € und ist dort ebenfalls zu bekommen.

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3 Gedanken zu „Kämpfen lohnt sich, sagt die alte Dame.

  1. jancak

    Ein feines kleines Buch, das ich im Zuge meines Longlistenlesens auch gelesen https://literaturgefluester.wordpress.com/2015/10/17/lucia-binar-und-die-russische-seele/ habe und bei Bekanntgabe der Liste fast ein wenig erstaunt darüber war, obwohl mch doch ein literarischer Bekannter schon vor Monaten darauf aufmerksam machte, daß das ein tolles Buch ist, schade, daß es auch bei den Buchpreisbloggern und den Blogs ein wenig untergegangen oder als Außenseiterbuch behandelt worden ist.
    Ein österreichischer Autor oder einer, der aus Russland zugewandert ist und den ich jetzt öfter bei Lesungen und Veranstaltungen treffe.
    Sein „Besonderes Gedächtnis der Rosa Masur“ habe ich gelesen, seine Meinung zu Friedrich Torbergs „Tante Jolesch“https://literaturgefluester.wordpress.com/2011/03/29/grundbuch-die-tante-jolesch/ gehört und das Buch über die alten Dame in der Großen Mohrengasse, die politisch korrekt umbenannt werden soll, hat mir sehr gefallen, denn ich mag ja die realistischen Bücher, die vom Leben der kleinen, alten, kranken und was immer Leute erzählen, obwohl so ganz realistisch ist es, was diese Zaubershow beweist, ja nicht und die Vergangenheit, das dritte Reich und die Judendeportationen, die ja auch aus der Großen Mohrengasse, im zweiten Wiener Gemeindebezirk, stattgefunden haben, spielen auch eine Rolle.
    Toll, daß es auf lder Longlist stand und lesen, lesen, lesen würde ich empfehlen und ich bin immer noch auf den Frank Witzel gespannt, den ich vielleicht demnächst zum Geburtstag bekomme!

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  2. Pingback: Das Buchpreislesen: #dbp15 | Kaffeehaussitzer

  3. Anne

    Liebe Klappentexterin,
    Francoise kam gestern an und so werde ich nun heute mit ihr in ein Paris flüchten, das keine Verbrechen gegen das freie Leben kennt.
    Lieben Dank noch einmal, auch für die schöne Verpackung und Karte.
    Ich wünsche ein den Umständen entsprechend schönes Wochenende!

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