Für gewöhnlich sprudele ich wie eine Wasserfontäne, wenn ich von einer Lesung wieder nach Hause komme. Doch dieses Mal ist die Klappentexterin auffallend still, noch ganz in sich gekehrt. Das fällt dem Liebsten sofort auf. Und selbst jetzt, einen Tag später, bin ich weiterhin tief berührt. Die Buchpräsentation von »Und du bist nicht zurückgekommen« von Marceline Loridan-Ivens im Jüdischen Museum zu Berlin war bewegend, unvergesslich und traurig schön.
Ergriffen betrachte ich die Signatur der Autorin in meinem Exemplar ihres Buches. Und sehe wieder die kleine, starke rothaarige Frau vor mir, wie sie im schwarzen Ledersessel nach einem anstrengenden Abend mit einer Engelsruhe all die Bücher signiert, die ihr hingehalten werden. Ihre kräftige Stimme noch in meinem Ohr, blättere ich in dem schmalen Büchlein und tauche ein in die Geschichte. Nur hundert Seiten füllen das wunderschön in Leinen gebundene Exemplar. Und doch ist es riesig in dem, was darin steht.
Nach 70 Jahren hat die 85jährige Regisseurin, Drehbuchautorin und Schauspielerin einen Brief an ihren verstorbenen Vater geschrieben. Der Brief ist eine Würdigung und Liebeserklärung zugleich. Beide wurden während des Zweiten Weltkrieges deportiert. Der Vater kam nach Auschwitz, sie nach Birkenau. Marceline Loridan-Ivens war da erst 15 Jahre alt. Über einen Mittelsmann konnte der Vater seiner Tochter eine Nachricht zukommen lassen. Noch heute hat sie das zusammengefaltete Stück Papier vor Augen, erinnert sich aber nur an den Anfang und das Ende der Nachricht – »Mein liebes kleines Mädchen« und »Schloime«. Das Dazwischen bleibt ein leerer Raum, den sie immer wieder zu füllen versucht. Doch es gelingt ihr nicht – zu viele Jahre sind vergangen. »Ich möchte für meinen Vater weinen, bin aber nicht mehr im Stande dazu«, sagt die Autorin an diesem Abend. Wie viele weitere, hallt auch dieser Satz noch lange nach. Später, auf dem Heimweg, sehe ich den zarten Halbmond und staune, wie viel Leuchtkraft er trotzdem hat. Dabei muss ich an Marceline Loridan-Ivens denken.
Der Dolmetscher Didier Gammelin hat die Worte der Autorin bravourös vom Französischen ins Deutsche übertragen. Aber sie hat noch soviel mehr zu erzählen, manche Antworten der Französin an diesem Abend wollen einfach kein Ende nehmen, so dass die Moderatorin Dr. Rachel Salamander den Erzählstrom liebevoll unterbricht. Didier Gammelin schreibt voller Geduld mit und lässt uns an allem teilhaben. Einigen Fragen weicht die Autorin aus, entschuldigt sich sogar am Ende dafür und sagt ergreifend: »Ich war doch noch ein kleines Mädchen und kann nicht über alles sprechen.«
Dann kommt Iris Berben und trägt im voll besetzen Saal »Mein liebes kleines Mädchen« äußerst gefühlvoll vor. Ich schlucke und spüre Tränen in meinen Augen. Die Schauspielerin liest aber nicht nur an diesem Abend aus dem Buch – sie hat der Autorin ebenfalls für das Hörbuch, das diese Tage beim Audio Verlag erscheint, ihre Stimme geliehen. Welch ein Geschenk! Zerbrechlich, um Atem ringend und gleichzeitig unglaublich stark, wie die Worte in dem Buch, liest Berben Wort für Wort und verleiht den Worten der Autorin eine durchdringende Intensität. Nicht nur ich bin tief bewegt – in der Reihe vor mir nimmt eine Frau ihre Brille ab, um ihre Tränen mit einem Taschenbuch zu trocknen.
Im Buch berichtet Marceline Loridan-Ivens ihrem Vater von der schrecklichen Zeit im KZ Birkenau und darüber, was danach geschah. Wie ihr Vater prophezeit hatte, sollte sie die Gefangenschaft überleben: »Du wirst vielleicht zurückkommen, weil du noch jung bist, aber ich werde nicht zurückkommen.« Er starb beim Todesmarsch aus Auschwitz. Und das Mädchen kehrt zurück in ein Leben, das jegliches Strahlen verloren hat. Während die Welt da draußen weitermacht, Hochzeiten feiert, und einen Mantel des Schweigens über das Vergangene legt, verzweifelt Marceline Loridan-Ivens an ihren Erlebnissen, zerbricht beinah daran.
Sie hat große Sehnsucht nach dem Vater, er fehlt ihr nahezu in jedem Moment: »Wenn du dagewesen wärst, hättest du ihre Fragen nicht ertragen, hättest Mama gebeten, zu schweigen. Du hättest ihr auch gesagt, mich auf der Erde schlafen zu lassen. Sie wollte nicht begreifen, dass ich die Bequemlichkeit eines Bettes nicht ertrug.«
Das Dasein in neuer Freiheit fällt der jungen Frau zunehmend schwer, so schwer, dass sie sogar versucht, sich das Leben zu nehmen. Im Nachhinein sieht sie ihre beiden Selbstmordversuche in einem anderen Licht. Hatte sie doch in Birkenau eine immense Überlebenskraft und wollte nicht sterben. So wie die sogenannten »Muselfrauen«, die sich aufgaben. Sie findet für sich viele Erklärungsversuche, einer ist dieser: »Der beendete Krieg zerfraß uns alle von innen her.« Und nicht nur das. Marceline Loridan-Ivens fühlte sich alleine, ohne ihren geliebten Schloime, hatte keine verbündete Seele mehr an ihrer Seite. Jemanden, der sie auch wortlos verstanden hätte. Stattdessen musste sie mit ansehen, wie die Familie am Tod des Vaters zunehmend zerbrach.
»Und du bist nicht zurückgekommen« ist eine wichtige Stimme im Kanon der Literatur über den Holocaust. Obendrein eine bewegende Lebensgeschichte, die unter die Haut geht. Kraftvoll lesen sich die Sätze, aus denen so gut wie kein Zorn spricht. Dafür sind sie voller Klarheit und von bestechend literarischer Brillanz. »Als uns das Manuskript Anfang des Jahres erreichte, verbreitete es sich wie ein Lauffeuer im Verlag«, berichtete der Suhrkamp Geschäftsführer Dr. Jonathan Landgrebe. Dank der hervorragenden Übersetzung von Eva Moldenhauer steht es nun auch den deutschen Lesern zur Verfügung. Und hat sogar einen Platz auf der Spiegel-Bestsellerliste eingenommen. Ein wichtiges Buch – gerade auch in diesen Zeiten, wo sich Vorurteile und Rassismus gerade wieder in der Gesellschaft breitmachen. Möge es noch viele weitere Leser und Leserinnen erreichen.
Marceline Loridan-Ivens: Und du bist nicht zurückgekommen. Aus dem Französischen übersetzt von Eva Moldenhauer. Insel Verlag, September 2015, 110 Seiten, 15,- €. Jetzt direkt bei Buchhandel.de bestellen. Das eBook kostet 13,99 €. Das Hörbuch ist bei Buchhandel.de ebenfalls erhältlich für 16,99 €.
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> masuko13
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