Ein Land – zwei Welten.

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Wer kennt das nicht? Da hat man gerade ein Buch beendet und ist unheimlich traurig. Man will am liebsten weiterlesen. Genauso ist es mir im Frühjahr ergangen. Nachdem ich Amos Oz’ »Judas« beendet hatte, wollte ich in Israel bleiben und so griff ich zu Lizzie Dorons Buch »Who the Fuck Is Kafka«. Sicherlich kann man beide Werke nicht auf eine Stufe stellen. Trotzdem spüre ich zwischen beiden Büchern eine innige Symbiose – und das nicht nur, weil Mirjam Pressler die Bücher aus dem Hebräischen ins Deutsche übersetzt hat. Sie führen mich in ein Land, das zerrissen ist und unzählige Narben wie Tote und Verletzte in sich trägt, jeder auf seine Art mit der Kraft des geschrieben Wortes.

Während »Judas« im Winter zwischen 1959/1960 spielt, ist »Who the Fuck Is Kafka« in der heutigen Zeit angesiedelt und hat eher einen dokumentarischen Charakter als einen fiktionalen. Das Buch beginnt auf sehr eindringliche Art und holt mich sofort auf den Boden der Tatsachen zurück. Die Schriftstellerin sucht nach Formulierungen, als in Gaza der Krieg wütet und ein Radiosprecher die Bewohner Tel Aviv dazu auffordert, in die Schutzräume zu gehen. »Der Raum ist klein, zwei Meter breit, das ist der Schutzraum, der mein Leben retten soll. An diesem Morgen bin ich allein zu Hause, ich sitze da und höre meinen Herzschlag und das Echo der Explosionen.« Dann erreicht sie ein Anruf eines Freundes von der anderen Seite. Nadim Abu Hani ist ein arabischer Palästinenser. Sie fragt ihn, ob er weiß, wie es weitergehen wird. Er glaubt, dass es nur noch schlimmer werden kann. Darauf lachen beide. Ein verzweifeltes, erleichterndes, in das ich mit ein stimme. Was ich bis hier hin noch nicht weiß, dem Telefongespräch gehen viele Geschichten zwischen den beiden voraus, die die Autorin nach und nach entfaltet, wie auf einem Stadtplan führt sie mir die Zerrissenheit Israels vor Augen.

Kennengelernt haben sich die beiden 2011 auf einer Friedenskonferenz in Rom. Dort berichtet jeder über sein Leben. Nadim erzählt eingangs zur Begrüßung, warum er seinen Flieger nach Rom verpasst hat. Er musste sich einer ausführlichen Sicherheitskontrolle unterziehen, da von seiner Familiensituation eine Gefahr ausginge. Nach einer Leibesvisitation folgten Fragen, auch solche, ob es Terroristen in der Familie gäbe. Diese und weitere sieben beantwortet er mit Nein. Dass er dadurch seinen Flug verpasste, juckte ihn scheinbar gar nicht, so konnte er im Duty Free Shop einkaufen, immerhin kannte man ihn dort schon. So entschuldigt sich Nadim für seine Verspätung in Rom, das Publikum lacht. Ich mit. Und schaue zu Lizzie Doron, die wenig später ihre Sicht der Dinge erzählt und dabei jeder Konfrontation aus dem Weg geht. Sie berichtet davon, dass der Staat Israel alle vertriebenen Juden aufgenommen hat. So kamen Überlebende des Holocaust und Verfolgte von der stalinistischen Bedrohung nach Israel. »Der Staat Israel ist im Grunde eine psychiatrische Anstalt für posttraumatische Juden.« Nach der Begrüßung reichen sich alle die Hände, doch der Händedruck vom zehn Jahre jüngerem Nadim ist herzlicher als alle anderen. Und genau hier beginnt eine außergewöhnliche Freundschaft und für mich ein höchst spannender Exkurs.

Lizzie Doron bezieht beide Seiten in ihr Buch mit ein, das macht es zu einem vielseitigen Leseerlebnis. Sie erzählt von den eigenen Ängsten, die sie plagen, wenn sie an Jerusalem denkt. Hat sie doch dort bei einem Anschlag eine liebe Freundin verloren und kämpft immer noch mit Schuldgefühlen. Da sie sich mit ihr treffen wollte. Oder ihre traumatisierte Mutter, die nach Israel geflüchtet ist, und ihrer Tochter oft hat spüren lassen, wie sehr sie ihre Heimat vermisst. Die junge Lizzie Doron, die hin- und hergerissen war, zwischen der schweren Vergangenheit der Mutter und der verheißungsvollen Zukunft, die ihr das neue Zuhause versprachen.

In den zahlreichen Gesprächen zwischen den beiden Freunden, in denen auch Vorurteile ihren Weg nach draußen bahnen, eröffnen sich für Lizzie Doron neue Pfade. Nadim erzählt ihr von all den Zwängen des Staates, die seine Familie fesseln. So darf Nadim nie länger als 180 Tage dem Land fernbleiben, sonst verliert er seinen Besitz, seine Rechte und die Möglichkeit zurück nach Hause zu kehren. Oder Nadims Frau Laila, die aus Hebron kommt, hatte bis dahin ein Touristenvisum, das sofort verfallen würde, sobald sie das Land verlassen würde. Sie darf nicht arbeiten und lebt wie eine Gefangene. Geradezu grotesk wirken gemeinsame Ausflüge von der Autorin und Nadim in arabische Gebiete oder die Reaktionen, wenn man beide zusammen sieht. Für mich unvorstellbar, aber so ist es, traurigerweise.

Doch das Buch ist nicht die ganze Zeit über dunkel. In den eindringlichen Momenten ziehen durchaus warme Sonnenstrahlen. Hervorgezogen durch den Witz zwischen den beiden, der niemals verlorengeht wie die Herzlichkeit – aller Widerstände und Gegensätze zum Trotz. Zusammen mit der Hoffnung, dass doch vielleicht doch irgendwann Frieden herrschen könnte. Jeder kämpft auf seine Weise. Der Fotograf Nadim dreht einen Film, Lizzie Doron schreibt ein Buch, dieses Buch, das ich in den Händen halte. Ein Land – zwei Welten. Selten wurde mir der Kontrast so bewusst wie in diesem Buch.

Lizzie Doron: Who the Fuck Is Kafka. Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler. dtv, Februar 2015, 256 Seiten, 14,90 €.

Weitere Stimmen zum Buch:
> aus.gelesen
> Der Tagesspiegel
> FAZ

4 Gedanken zu „Ein Land – zwei Welten.

  1. gedankenlabyrintherin

    Wie schön diese Rezension zu lesen. Schon etwas her als ich das Buch las, aber ich erkenne meine Gedanken dazu so sehr in deinen Zeilen wieder. Danke. Ich konnte immer die Verbundenheit der beiden spüren. Ein großartiges Buch.

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    1. Klappentexterin Autor

      Liebe gedankenlabyrintherin,

      das lese ich mit großer Freude! Literarisch war es nicht herausragend, aber dafür zutiefst menschlich, eindrucksvoll, bewegend und sehr, sehr interessant. Ein Buch, das lange noch ein ganz besonderes Echo hinterlässt, nicht wahr?

      Liebe Grüße
      Klappentexterin

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  2. gedankenlabyrintherin

    Ja, das fand ich auch. Beide bleiben auch am Ende zusammen und doch hat jeder die andere Seite. Wie kam Nadim für dich rüber, wenn ich fragen darf? Ich halte Nadim für einen fiktiven Charakter von Lizzie, was so alle Seiten, Unterschiede deutlich macht. Also er ist keine Person. Als sie von dem Tod ihrer Freundin erzählt und die Ausweisabgabe im Hotelsafe, bei der beide unterschiedlich handeln, wurde ich sehr nachdenklich. Solche Momente gibt es viele, aber nun genug. Einfach ein tolles Buch. Mich beeindruckte noch mehr von ihr das Buch „Ruhige Zeiten“.

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    1. Klappentexterin Autor

      Nadim war manchmal ein Buch mit verdeckten Seiten, ein Mensch, den ich nicht immer zu fassen bekam. Ich denke hier auch an seine viele Schweigezeiten, in denen er nichts von sich hören ließ. Und dann hat er mich mit seinem Charme auf seine Seite gezogen.
      Ich freue mich jedenfalls sehr, noch mehr Bücher von Lizzie Doron zu lesen. »Ruhige Zeiten« hat mir seinerzeit ebenfalls sehr, sehr gefallen!

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